Exotik-Erwartungen und globale Annäherungen
In seinem Buch "Mit offenem Blick" hat Gerhard Schweizer zu einem Rundumschlag zum Thema unterwegs sein ausgeholt, einschließlich der Reflektion eigener Reiseerfahrungen in mehr als vier Jahrzehnten und ...
In seinem Buch "Mit offenem Blick" hat Gerhard Schweizer zu einem Rundumschlag zum Thema unterwegs sein ausgeholt, einschließlich der Reflektion eigener Reiseerfahrungen in mehr als vier Jahrzehnten und dem Wandel des Reisens. Zugegeben, ich hatte zunächst eine andere Vorstellung zu dem Buch, erwartete eine Auseinandersetzung mit Kulturschocks und der Sensibilisierung für die anderen Sichtweisen in bereisten Regionen, gerade in völlig anderen Kulturkreisen.
Dabei schilderte Schweizer allerdings zuerst seinen eigenen Blick, bei frühen Reisen etwa nach Nordafrika und Asien in einer Zeit, als die meisten Menschen in Deutschland allenfalls von einem Sommerurlaub an der Adria träumen konnten und Fernreisen für die Mehrheit der Menschen ein Ding der Unmöglichkeit war - entweder finanziell oder aus Zeitgründen. Da war ein Rucksackurlaub etwa nach Marokko noch etwas völlig Exotischen - und Exotik erwartete auch der junge Schweizer: Eben Menschen in traditioneller Kleidung, enge Kasbah-Straßen, verfallende Häuser wurden von dem jungen Reisenden als malerischempfunden und ein wenig rümpfte er die Nase, wenn ein einheimischer Reiseführer auf neue, moderne Stadtviertel hinweist, eine Vorliebe für "westliche"Kleidung zeigt. Kurz: Genau die Welt bewundert, der der Reisende eigentlich entfliehen will.
Und auch in späteren Jahren ist der Reisende enttäuscht, wenn Modernisierung die "Exotik" abhanden kommt, mokiert er sich über die Ortsansässigen, die sich von ihrer traditionellen Lebensweise entfernt haben und den Anschluss an die - überall gleich langweilige ? - Moderne vollziehen. Und klar, es darf auch nicht die Abgrenzung zu den Europäern oder gar Landsleuten fehlen, die dann in späteren Jahren ebenfalls in den gleichen Gebieten unterwegs sind, nur eben nicht monate lang - puh, Touristen, bäh!
Da musste ich dann doch grinsen, denn da der Autor ein paar Jahrzehnte älter ist als ich habe ich zwar die frühen Rucksackreisenden auf Hippie Trail usw nicht erlebt, bin in Südostasien aber später auf ähnliche Spezies gestoßen, die sich - mitunter leicht arrogant - als "Reisende" bezeichneten und keinesfalls Touristen sein wollten. Wer wie ich nur fünf, sechs Wochen mit dem Rucksack unterwegs war, wurde leicht abschätzig behandelt. Ist ja auch zu blöd, keine reichen Eltern im Hintergrund zu haben und einer bezahlten Beschäftigung nachgehen zu müssen, um sich das Reisen leisten zu können.
Was ich seinerzeit allerdings nie verstand war, warum eben diese Traveller dann mit Vorliebe in Backpacker Kneipen hockten, mit dem immer gleichen Essen in jedem Land, den immer gleichen Typen und den Einheimischen als Servicekräften. Oder warum sie so wenig Sensibilität für die lokalen Befindlichkeiten hatten, dass Tank Top und Shorts auch in Regionen getragen werden müssen, wo die Kleidergewohnheiten eher zur Ganzkörperbedeckung tendierten. Wobei da wieder die Frage nach dem "offenen Blick" aufkommt.
In Schweizers Buch ist davon wenig die Rede, wohl aber von der Frage, wie Tourismus auch zum Erhalt lokaler Kulturen beitragen kann oder sie sogar, Beispiel Nepal, vor der Zerstörung durch übereifrige moderne Stadtplaner schützen kann. Ein weiterer Schwerpunkt ist das Reisen aus Neugier oder als Freizeitbeschäftigung im Gegensatz zu Migration, die aus der Notwendigkeit geboren wurde - seien es die Auswanderer im 19. Jahrhundert. seien es die türkischen "Gastarbeiter", denen der Autor in den 60-er Jahren in Zügen nach Südosteuropa begegnete, seien es die Flüchtlinge und Migranten der Gegenwart. Wie verändern diese globalen Bewegungen die Herkunfts- und die Ankunftsgesellschaft? Wie breiten sich globale Trends immer mehr aus, sorgen moderne Kommuikationsmittel und soziale Medien für ein völlig verändertes Unterwegssein?
Eine "Anleitung" zur Auseinandersetzung mit fremden Kulturen gibt "Mit offenem Blick" nicht, wohl aber die eine oder andere Denkanregung und Überlegung zum Zusammenleben in einer pluralistischen multikulturellen Gesellschaft mit ihren Herausforderungen und Chancen. Aber das ist vielleicht auch ganz gut so. Denn den offenen Blick erreicht man sicherlich am besten durch den eigenen Aufbruch.