Gregor Hens – Missouri
Als sich endlich die Chance bietet, greift Karl beherzt zu. Ein Job als Assistant Teacher in Columbia, Missouri, ermöglicht ihm die Flucht aus Deutschland. Die germanistische Abteilung ist überschaubar ...
Als sich endlich die Chance bietet, greift Karl beherzt zu. Ein Job als Assistant Teacher in Columbia, Missouri, ermöglicht ihm die Flucht aus Deutschland. Die germanistische Abteilung ist überschaubar und zudem bildet sie mit dem französischen und dem russischen Institut eine Einheit. Schnell findet er Freunde und ebenso schnell verliebt er sich – ausgerechnet in eine seiner Studentinnen. Stella fasziniert ihn vom ersten Tag an und tatsächlich verfügt die junge Frau über ungeahnte Fähigkeiten. Sie und ihre Familie nennen es Calder Zirkus – die Fähigkeit die Schwerkraft zu überwinden und zu schweben. Im übertragenen Sinne tun sie das beide, denn die Frischverliebten schweben und lassen sich von zutiefst irdischen Gedanken nicht herabziehen. Und während Karl in den USA den Boden unter den Füßen verliert, erlebt seine Heimat die größten Umwälzungen seit dem 2. Weltkrieg.
Gregor Hens‘ Roman macht zunächst den Eindruck einer etwas verspäteten coming-of-age Erzählung, denn erst mit Anfang zwanzig emanzipiert und befreit sich der Protagonist von der Last seiner Familie und der Jugend im katholischen Internat. Der Umzug vom pulsierenden Köln in die US-amerikanische Provinz lässt für ihn die weltpolitischen Ereignisse in weite Ferne schweifen – und das, wo gerade seine Heimat der „place to be“ wäre. Dazu eine Liebesgeschichte, die nicht sein darf und sich noch unerwartet verkompliziert. Geschickt nutzt der Autor diese Rahmenbedingungen jedoch für ganz andere Themen und hier zeigt er sein wahres Können und der Roman seine ganz große Stärke.
Neben diesen oberflächlichen Begebenheiten ist die Geschichte voller Reflexion und ein Galopp durch die Linguistik und Literatur. Erst in der Ferne trifft ihn die Konfrontation mit der eigenen Sprache und ihren Fallstricken so richtig, erst die neue Situation führt ihm auch vor Augen, dass die Abenteuer der Literatur auch seine sind – hat er nicht eine verbotene Beziehung zu einer Studentin und reist mit ihr durch die USA bis zur Westküste? Stella jedoch ist glücklicherweise kein Kind mehr wie „Lolita“, aber dennoch nur ein Teenager. Aber auch eine Mrs Robinson gibt es – Karl steckt in der Falle.
Daneben die aufkommende Computertechnik, erste E-Mails – Zukunftsgespinste, die von der Zeit inzwischen längst überholt sind, Ende der 1980er aber wie Science-Fiction anmuteten. Der Roman ist voller Anspielungen, Referenzen, Intertextualität und kommt doch leichtfüßig daher. Bei der wissenschaftlich-geschichtlichen Last hätte er erdrückt werden können, aber das Gegenteil geschieht: all dies lässt ihn nur höher steigen. Dies verdankt er vor allem der unprätentiösen Sprache des Ich-Erzählers, die erfrischend jugendlich und unbedarft daherkommt und einen passenden Kontrast zu dem bietet, was mit ihr transportiert wird.
Eine Reise in die Ferne zurück zum Ich und zur Identität des Protagonisten, aber auch seiner Nationalität, fern der großen Debatten und Kriegsschauplätze. Und erfreulicherweise eine andere Seite Amerikas als die, mit der wir und momentan tagtäglich herumschlagen. Ganz eindeutig einer dieser leisen, unaufgeregten Romane, die jedoch echte Perlen darstellen.