Faszinierender Ansatz in langatmiger Ausführung
Die Frage, warum „der Westen“ die Welt regiert, wurde schon auf vielfältige Weise zu beantworten versucht.
Ian Morris hat hier einen durchaus innovativen Ansatz gewählt: Zunächst definiert er die Begriffe ...
Die Frage, warum „der Westen“ die Welt regiert, wurde schon auf vielfältige Weise zu beantworten versucht.
Ian Morris hat hier einen durchaus innovativen Ansatz gewählt: Zunächst definiert er die Begriffe „Osten“ und „Westen“ neu. Unter Westen versteht er alle Gesellschaften, deren Abstammung auf das früheste Kerngebiet von Landwirtschaft und Viehzucht im sogenannten Fruchtbaren Halbmond zurückzuführen ist. Osten dagegen meint alle jene Gesellschaften, deren Herkunft auf das Kerngebiet zwischen Gelbem Fluss und Jangtse zurückgeht.
Nun berechnet er einen Index der gesellschaftlichen Entwicklung in Ost und West zu verschiedenen Zeitpunkten. Dafür hat er ein ausgeklügeltes Punktesystem entwickelt, in welches Energieausbeute, Organisation/Urbanisierung, Kriegsführung und Informationstechniken als Messgrößen einfließen.
Repräsentiert werden die Weltregionen jeweils durch ihren am höchsten entwickelten Vertreter. (Für den Westen waren das im Verlauf der Jahrtausende unter anderem der fruchtbare Halbmond, Mesopotamien, Rom, Westeuropa oder die USA.) Diese Vorgehensweise wirkt auf den ersten Blick etwas einschränkend, andererseits ist wohl eine gewisse Vereinfachung nötig, um der Komplexität des Themas Herr zu werden.
Das insgesamt erzielte Ergebnis war für mich dann doch überraschend: Während der letzten 15 Jahrtausende war der Westen 14 Jahrtausende lang der am weitesten entwickelte Teil der Erde. Lediglich ein Jahrtausend lang – von ca 550 bis ca 1775 (und somit gerade auch zu der Zeit, als die großen europäischen Entdeckungsfahrten stattfanden) – hatten die asiatischen Gebiete die Nase vorn.
Die nächsten Kapitel widmen sich jeweils einem bestimmten Zeitabschnitt und beschreiben sehr ausführlich, wie Westen und Osten sich während dieser Epoche entwickelt haben und welche Umstände für Auf- oder Abschwünge verantwortlich waren. Dabei stellt sich immer wieder heraus, dass Klimawandel sowie Einflüsse der Völker aus der asiatischen Steppe wichtige Faktoren waren. Das sollte uns zu denken geben.
Abschließend gibt der Autor nochmal eine aufgefeilte Antwort auf seine eingangs gestellte Frage und wagt auch einen Blick in die Zukunft. Zunächst wird hier deutlich, dass er eine etwas zu sehr US-amerikanisch geprägte Sichtweise hat. Seine Prognosen sind dann teilweise ziemlich spekulativ. Er gelangt aber doch zu einem irgendwie faszinierenden Ergebnis.
So ist der Inhalt dieses Buches auf jeden Fall hochinteressant. Es ist auch in einem eingängigen Stil geschrieben und diverse Grafiken tragen zur Anschaulichkeit bei. Bisweilen wird sogar eine gewisse Spannung erzeugt.
Die Darstellung ist allerdings, wie bereits erwähnt, sehr - und vielfach eben zu - ausführlich. Die mit zu vielen Details überfrachteten Schilderungen machen es schwer, sich auf die Kernaussagen zu konzentrieren.
Außerdem wird die Lektüre dadurch streckenweise mühsam.
Dazu kommt noch, dass sich in den Text doch einige Fehler eingeschlichen haben.
Nichtsdestotrotz ist die Lektüre lohnend, eröffnet sie doch neue Perspektiven auf die Menschheitsgeschichte.