Fehlende Puzzleteile einer Familie
Ausgezeichnet mit dem Penguin Literary Prize 2019 erscheint das bewegende Debüt der australischen Autorin Imbi Neeme nun auf Deutsch – dabei erkunden zwei ungleiche Schwestern die eigenen Traumata der ...
Ausgezeichnet mit dem Penguin Literary Prize 2019 erscheint das bewegende Debüt der australischen Autorin Imbi Neeme nun auf Deutsch – dabei erkunden zwei ungleiche Schwestern die eigenen Traumata der Familie, verwebt in unterschiedliche Erinnerungen und Wahrheiten der Vergangenheit, die jahrzehntelang bis in die Gegenwart wirken.
Vor mehr als dreißig Jahren hat sich der Wagen der Schwestern Nicole und Samantha auf einer Straße in Westaustralien überschlagen – am Steuer saß ihre alkoholkranke Mutter Tina. Zwar wurden die jungen Mädchen nicht schwerwiegend verletzt, aber der seelische Schmerz über die Unsicherheiten mit dem Leben einer suchtkranken Mutter sowie viele unausgesprochene Verletzungen quälen die Schwestern noch Jahre später in ihrem Erwachsenenleben. Während Samantha die Kontrollierte spielt und ihr Leben mit Ehemann und Tochter scheinbar im Griff hat, kämpft sie unterbewusst mit einer anderen Samantha, die wie ihre Mutter zur Alkoholsucht neigt. Überfordert mit den Anforderungen an eine junge Mutter und mit den Dämonen aus der Vergangenheit, scheint sie zu den gleichen Fehlern wie Mutter Tina zuzusteuern. Nicole hatte kein glückliches Händchen mit Beziehungen und leidet an wenig Selbstbewusstsein – mit ihrem jetzigen Freund samt Reichtum scheinen sich die Dinge für sie in eine bessere Richtung zu entwickeln, doch sie leidet sehr an einer vergangenen Fehlgeburt und an ihrer Kinderlosigkeit.
Ständige Reibereien und Missverständnisse, konträre Ansichten und verschüttete Konflikte innerhalb der Familie haben die Schwestern auseinanderdriften lassen und zu einer verbitterten, spärlichen Kommunikation geführt. Dann stirbt Mutter Tina quälend an ihrer Alkoholsucht und Leberversagen im Krankenhaus – kann dieses einschneidende Ereignis die Schwestern wieder zusammenbringen und ihre unterschiedlichen Sichtweisen auf die schmerzvolle Vergangenheit zusammenfügen?
Imbi Neeme hat ihre berührende und empathische Familiengeschichte klug konstruiert – mit vielen auktorial erzählten und zeitlich bunt gewürfelten Sequenzen aus der Vergangenheit, die wichtige Ereignisse der zerrütteten Familie in Kindheit und Jugend schildern, verzweigt mit der persönlichen Sichtweise von Nicole und Samantha nach dem Tod ihrer Mutter aus der Ich-Perspektive. Dabei zoomt die Autorin multiperspektivisch sehr nah heran an ihre dicht gezeichneten Protagonistinnen sowie ihre persönlichen Probleme und schafft mit vielen frech-zornigen Dialogen eine fast filmreife Atmosphäre, die aber das Setting in Australien fast unberücksichtigt lässt. Feinfühlig und detailliert greift sie die unterschiedlichen, nicht verlässlichen Erinnerungen sowie Schuldgefühle der Schwestern auf und lässt Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven zart zusammenlaufen, bis eine ausschlaggebende Wahrheit aufbricht, die sich auf den Unfall im Jahre 1982 bezieht.
Der Originaltitel „Die Verschüttung“ passt dabei präzise, da die Familie durch verschüttete und transgenerationale weitergegebene Konflikte und Traumata im Wirrwarr gefangen ist. Eindringlich und mitfühlend zeigt Neeme dabei auch das tiefe Leid auf, das ein alkoholkrankes Elternteil samt Weitergabe der Sucht verursacht. Insgesamt ein gutes, warmherziges und unterhaltsames Debüt zwischen Jugendbuch und Erwachsenenroman, das subtil die fehlenden Erinnerungs-Puzzlestücke einer Familie zusammensetzt und Verluste, Ungesagtes sowie das Tragische aufspürt, um dabei auch das Humorvolle, Tragende und die Hoffnung zu finden. Stellenweise hätte eine Straffung der manchmal redundanten Ereignisse sowie eine Präzisierung und mehr Tiefgang der vielen, teils derben Dialoge gut getan – und doch entlässt Neeme den Leser nach ihrem intimen Porträt einer komplizierten Schwesternschaft mit einem warmen Gefühl im Bauch und dem erwartungsvollen Ausblick, was noch von ihr veröffentlicht wird.