Ein einfallsreiches und hochspannendes Science-Fiction-Abenteuer
Mit "LOSTL1F3" ist gestern der Mittelteil von Jay Kristoffs "Babel Projekt"-Trilogie erschienen. Nachdem mich Band 1, "LIFEL1K3", im Oktober des letzten Jahres schon in eine verseuchte Wüstenlandschaft ...
Mit "LOSTL1F3" ist gestern der Mittelteil von Jay Kristoffs "Babel Projekt"-Trilogie erschienen. Nachdem mich Band 1, "LIFEL1K3", im Oktober des letzten Jahres schon in eine verseuchte Wüstenlandschaft voll Schrott, Dreck, Tod und Wunder entführt hat und damit sehr überzeugen konnte, war ich sehr gespannt auf die Fortsetzung des hochspannenden Actionabenteuers rund um Eve, Ezekiel und Lemon. Auch "LOSTL1F3" konnte mich wieder sehr mitreißen, war mir im Vergleich zum Auftakt aber eine Kleinigkeit zu temporeich und chaotisch erzählt...
Das Cover ist sehr nah an der Gestaltung von Band 1 gehalten und weicht nur mit einem anderen Titel und neuer Farbgebung ab. Neben dem prominenten Titel in Weiß ist im Hintergrund ein grauer, an ein Auge erinnernder Kreis voller Mechanik zu sehen, welcher sich durch eine strahlend himmelblaue Aura vom ansonsten dunklen Grund abhebt. Das Cover ist somit stimmig gestaltet und im wahrsten Sinne des Wortes ein Eye-Catcher... An dieser Stelle kritisch erwähnen möchte ich allerdings die Übersetzung, welche an einigen Stellen etwas holpert. Vor allem darüber, dass Bienen ständig als "Hummeln" übersetzt sind, bin ich immer wieder genervt gestolpert. Positiv an der Gestaltung hervorzuheben ist hingegen die Karte, welche in den beiden Innenseiten der Buchdeckel vorne und hinten abgebildet ist. Jene gibt einen Überblick über die einzelnen Standorte der Handlung und ist zusammen mit den vorangestellten drei Robotergesetzen und der Definitionen von Automata, Maschina und Logika sehr hilfreich beim Verstehen des Buches. Ebenfalls erleichtert wird uns der Wiedereinstieg in diese komplexe Welt durch ein vorangestelltes "Wer, was und warum", in welchem die wichtigsten Akteure, Figuren und Geschehnisse aus Band 1 zusammengefasst dargestellt sind.
Erster Satz: "Fast alle nannten sie Eve."
Und das ist auch dringend notwendig, denn Jay Kristoff hält sich nicht lange mit Erklärungen rund um sein Worldbuilding auf, sondern wirft uns abermals kopfüber in die Geschichte. Nach einem kurzen Prolog beginnt ohne große Umschweife direkt der erste von insgesamt drei gleichlangen Teilen, in denen der Autor seine zusammengewürfelte Gruppe ohne Verschnaufpause durch eine erbarmungslose, postapokalyptische Welt jagt. In Band 1 haben Eve, Lemon, Ezekiel und Cricket in Babel erschreckendes erfahren müssen und wurden daraufhin getrennt. Während Eve zusammen mit ihren Lifelike-Geschwistern nun nach der versteckten Ana Monrova sucht, mit deren Hilfe sie an die letzten Geheimnisse von Gnosis Labs kommen können, wird Lemon von einer BioMaas-Agentin verschleppt, Cricket bekommt es mit der Bruderschaft zu tun und Ezekiel muss sich an den Prediger halten, um seine Freunde im erbarmungslosen Yousay wiederzufinden. Anders als in Band 1 wechselt hier die Erzählperspektive aufgrund der aufgeteilten Handlungsstränge zwischen Lemon, Cricket und Ezekiel, während Eve nur zum Ende jedes der drei Teile aus ihrer Perspektive erzählt.
"Es tut mir leid, dass dein Leben nicht so gelaufen ist, wie du es dir vorgestellt hast, aber genau das macht das Leben aus. Richtiges Leben! Leute lügen. Leute bauen Mist. Leute lassen einen im Stich. Aber ich kenne dich! Das Mädchen, als das du geschaffen wurdest, und das Mädchen, zu dem du danach wurdest. Und das Mädchen, das ich jetzt vor mir sehe, hat mit beiden absolut nichts mehr zu tun."
Gleich geblieben sind jedoch das beinahe irrsinnige hohe Erzähltempo und die wahnsinnige Handlungsdichte der Erzählung. Wir rennen hier an der Seite unserer Hauptfiguren von einem Desaster in das nächste und müssen nebenher auch noch geheimnisvolle Kräfte, alte Geheimnisse, neue Liebe und eine ordentliche Identitätskrise verdauen. Tödliche Roboterkämpfe in der Kampfkuppel, Überlebenskampf im Maschinenschrott, blutrünstige Bruderschaften, kybernetische Kopfgeldjäger, verstrahlte Glasstürme und lebendige Biowaffen sind nur einige der Bedrohungen, die unsere Figuren während der 496 Seiten auf Trab halten. Die Geschichte gleicht also einem einzigen Rausch aus Adrenalin, Action, Emotionen und Überraschungen von Anfang bis Ende, was für eine enorme Spannung sorgt, mir an einigen Stellen aber fast schon zu viel war, da man so kaum die Möglichkeit hat, das Gelesene zu verarbeiten. Und das wäre eigentlich dringend notwendig gewesen, denn so hat man nicht nur kaum Zeit über die Hintergründe der Handlung nachzudenken oder sich in die Figuren einzuspüren, die Wendungen wirken auch ein wenig zu überhastet. Während ich in Band 1 am laufenden Band mit überraschenden Wendungen bombardiert wurde, konnte ich einige der Wendungen in dieser Fortsetzung vorhersehen und selbst unvorhersehbare konnten nicht ganz ihre Überraschungswirkung entfalten.
"Sieh dich genau um. Dann sag uns, was sie sieht."
"Keine Ahnung." Lemon zuckte die Achseln. "Die Welt?"
"Ja." Jäger nickte. "Und Lemonfresh ist die Flut, die sie ertränken wird. der Sturm, der alles davonfegt." Jäger grinste bis zu den Eckzähnen. "Lemonfresh wird alles verändern."
Zusätzlich zu Erzähltempo und Handlungsdichte trägt Jay Kristoffs brachiale, aber detailversessene Art zu schreiben zu diesem leicht überfordernden, intensiv Gesamtbild bei. Auch wenn ich sehr beeindruckend finde, wie greifbar und szenisch er seine Geschichte vermittelt, schießt er für meinen Geschmack ab und zu etwas über das Ziel hinaus (zum Beispiel bei der Beschreibung von Farbe, Konsistenz und Geruch verschiedener Sorten von Schleim), sodass man zwischen Blut, Schnodder, Explosionen und Tod kaum weiß, wo einem der Kopf steht und diese hochspannende Reise durch eine dystopische Variante Kaliforniens beinahe zu intensiv wirkt. Angesiedelt ist die Geschichte in einem staubigen, lebensfeindlichen Wüstensetting voll Technologie und Abfall, welches definitiv "Mad Max"- und "Bladerunner"-Vibes verströmt und von verschiedenen Gegensätzen geprägt wird. Wir sehen, wie sich Fortschritt in den Trümmern einer alten Zivilisation erhebt, wie sich Großkonzerne um die Macht bekriegen, während in den Gassen Menschen neben Maschinen ums Überleben kämpfen und eine Bruderschaft Mutanten jagt, die sich mit besonderen Fähigkeiten aus dem Dreck zu erheben wagen.
"Ana war das Mädchen, das mir gezeigt hat, wie es ist, lebendig zu sein. Und wenn sie noch da draußen ist, dann bin ich es ihr schuldig, sie zu finden. Die vergangenen zwei Jahre, in denen ich dieses Ödland durchstreift habe... Manchmal haben mich nur die Gedanken an sie weitermachen lassen."
"Aber was ist, wenn das Mädchen, das du findest, nicht mehr das Mädchen ist, an das du dich erinnerst?"
"Sie wird immer das Mädchen sein, an das ich mich erinnere. Sie ist das Mädchen, das mich wahrhaftig gemacht hat."
Damit erfindet Jay Kristoff hier das Rad nicht komplett neu, dafür mischt er in seiner neuen Trilogie ein episches Reise-Abenteuer, eine Roboterrebellion, mutantische Magie, verbotene Liebe, Endzeitstimmung und die Mensch-vs.-Maschinen-Thematik so zusammen, dass ein Mix entsteht, dem man nicht widerstehen kann. Neben verschiedenen Arten von Robotern wie Machina, Automata und Logika, bevölkern Cyborgs, Mutanten und künstliche Lebewesen das vom Krieg und Umweltkatastrophen zerstörte Kalifornien. Die Linie zwischen Mensch und Maschine wird dabei wie in vielen Dystopien absichtlich aufgeweicht und verwischt. Das geschieht nicht nur durch die Existenz der Lifelikes - starke, schnelle und schöne Androiden, die trotz ihrer verbesserten Fähigkeiten so lebensähnlich sind und denken, lieben und hassen wie Menschen, dass sie auf den ersten Blick nicht von Menschen zu unterscheiden sind - sondern auch dadurch, dass Maschinen Gefühle zugestanden werden, zu liebenswerten Protagonisten werden und beginnen, für ihre eigene Freiheit zu kämpfen.
"Die ganze Welt ist still geworden. Und obwohl noch vor einem Augenblick alles ringsumher so laut und so hell gewesen ist, steht jetzt, da ich sie ansehe, alles und jeder absolut still. Ich weiß nicht, was ich fühle. Nur, dass ich es weiter fühlen möchte. Deshalb lächle ich und strecke ihr meine Hand entgegen. Meine Haut kitzelt an der Stelle, wo sie sie berührt. "Ich bin Ezekiel", sage ich.
"Ich heiße Ana", erwidert sie.
Der Name klingt wie ein Gedicht.
Ein Gebet.
Ein Versprechen.
Ana."
Nach den Enthüllungen von Band 1 ist klar, dass wir mit Evie, Ezekiel, Cricket und Lemon keine einzige rein menschliche Figure haben. Während Eve und Ezekiel Lifelikes sind und Cricket als Logika vom Hilfsbot zum Kampfbot aufgestiegen ist, hat sich Lemon als Mutantin, die Elektrik verschmoren kann, offenbart. Ein Beinahe-Junge mit mechanischem Herzen, ein Mädchen mit zu vielen Namen und einer ungewissen Zukunft und ein Mädchen ohne Namen mit unbekannter Vergangenheit? Damit ist jeder der Charaktere auf seine Art und Weise ein Ausgestoßener und bringt um einiges mehr mit, als man das auf den ersten Blick erwartet. Neben der großen Frage nach der Maschinen-Ethik und was Freundschaft, Loyalität und auch Liebe im Kontext der drei Maschinen-Gesetze bedeuten, müssen die Hauptfiguren jeweils noch ihre eigenen Dämonen bekämpfen. Auch die Dynamik der drei, welche von Humor, aber auch von tiefer Liebe in unterschiedlichen Formen geprägt ist, ist wirklich wundervoll. Am meisten ins Herz geschlossen habe ich immer noch Cricket und werde loyal gegen jeden in den Krieg ziehen, der ihn klein nennt! Ergänzt wird die bunte Truppe durch einen Haufen neuer Nebenfiguren wie Diesel, Fix, Grimm, Abraham, der Major, Jäger oder die Reiter der Bruderschaft.
"EVIE, WAS HAST DU GETAN?". Das Lächeln auf ihren Lippen erstarb langsam. Asche im Wind, in ihrem Haar, auf ihrer Haut. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, ihre blutigen Finger schimmerten im Feuerschein. "Komm mit mir, Cricket." "WAS HAST DU GETAN?", rief er und macht einen zitternden Schritt nach vorn. "Ich habe die Augen geöffnet", sagte sie. "Und dir kann ich sie auch öffnen."
Etwas schade ist nur, dass wir von Eves Sinneswandel und ihren Abgründen nach der Entscheidung, sich den Lifelikes anzuschließen hier kaum mehr etwas mitbekommen. Statt ihres Identitätskonflikts um Gnosis, Ana Monrova und ihr Dasein als Lifelike aufzuschlüsseln, sehen wir nur von außen, zu welchen Taten, die Verzweiflung sie treibt. Auch wenn ihre Abwesenheit dazu führt, dass Lemon, Cricket und Ezekiel stärker in den Vordergrund rücken - wir beispielsweise mehr über Lemons Vergangenheit herausfinden oder Einblicke in Ezekiels Beziehung zu Ana bekommen - und es sehr spannend ist, mehr über die drei zu erfahren, hoffe ich sehr, dass wir im nächsten Band wieder mehr von ihr lesen werden.
Apropos nächster Band. Genau wie "LIFEL1K3" endet auch "LOSTL1F3" mit einem wirklich fiesen Cliffhanger, der so viel offenlässt und zerstört, dass man unmöglich lange auf den Folgeband warten kann. Wann dieser erscheinen wird, ist leider noch unklar. Im Englischen hat die Reihe aber schon mit "TRUEL1F3" einen Abschluss gefunden, hoffen wir also mal, dass sich der Verlag beim Übersetzen nicht zu viel Zeit lässt...
Fazit:
Mit "LOSTL1F3" geht ein einfallsreiches und hochspannendes Science-Fiction-Abenteuer in die zweite Runde. Mit einem komplexen Worldbuilding, interessanten Ideen, vielschichtigen Figuren, einem enorm hohen Erzähltempo und einer wahnsinnigen Handlungsdichte ist auch diese Fortsetzung definitiv wieder in Highlight. Abzug gibt es nur für den leicht chaotischen und überhetzten Eindruck, der durch das hohe Erzähltempo entsteht.