Gelungene Balance zwischen Tragik und Humor
REZENSION – Bereits im Jahr 2021 kam der Roman „Woran ich lieber nicht denke“ von Jente Posthuma im niederländischen Original auf die Shortlist für den Literaturpreis der Europäischen Union und erreichte ...
REZENSION – Bereits im Jahr 2021 kam der Roman „Woran ich lieber nicht denke“ von Jente Posthuma im niederländischen Original auf die Shortlist für den Literaturpreis der Europäischen Union und erreichte 2024 mit seiner englischen Übersetzung die Shortlist des International Booker Prize. Im Februar erschien nun das Buch im Luchterhand Verlag in deutscher Übersetzung. Es ist die berührende Geschichte einer jungen Frau, die den Freitod ihres Zwillingsbruders zu verarbeiten und ihrer Trauer, auch eigenen Schuldgefühlen Ausdruck zu geben versucht. Zugleich ist es eine Geschichte über die Suche nach der eigenen Identität. „Mein Bruder war weg und mit ihm meine gesamte Vergangenheit. Ich kam nirgendwoher und ging nirgendwohin.“
Der Tod ihres Bruders kann das enge Band, das beide über 35 Jahre verband, nicht trennen. Im Gegenteil, es scheint noch enger geworden zu sein. Noch immer denkt sie, die Jüngere, die Nummer Zwei, in alltäglichen Situationen an ihn, den Erstgeborenen, den Älteren, die Nummer Eins. Ihr Zwillingsbruder war der Mensch, der ihr immer zur Seite stand. Sogar als berufstätige Erwachsene hatten sie eng beieinander gewohnt, wenn auch in getrennten Wohnungen auf gegenüber liegenden Seiten des Amsterdamer Stadtparks. „Ich wünsche mir gar kein eigenes Leben, sagte ich. Du willst nicht selbst leben, sagte mein Bruder. Aber das stimmte nicht. Ich wollte einfach nur mit ihm leben.“
Doch irgendwann versuchte der Bruder sich zu lösen, versuchte selbstständig zu werden, entfloh der klammernden Schwester sogar für ein Jahr nach Brasilien. Nach seiner Rückkehr war das Verhältnis zueinander ein anderes geworden. Der Bruder verschwieg manches der Schwester, wurde verschlossener und fiel zunehmend in Depression. Die Erzählerin ist inzwischen verheiratet, doch Ehemann Leo muss seine Frau mit dem Bruder teilen, verbringt sie doch Stunden mit ihm in dessen Wohnung. Sogar nach dessen Tod ist sie unfähig, sich vom Bruder zu lösen. „Jeden Tag wartete Leo darauf, dass ich nach Hause kam, und wenn ich zu Hause war, brauchte er nicht lange zu warten, bis ich wieder ging. Nachts zu warten, hatte er aufgegeben.“ … Vielleicht wär's am besten, du ziehst in die Wohnung deines Bruders, sagte Leo. Er ist jetzt seit zweieinhalb Jahren tot, und du bist immer noch öfter drüben als hier.“
„Woran ich lieber nicht denke“ ist kein Roman im klassischen Sinn mit durchstrukturierter Handlung. Es ist vielmehr eine willkürlich scheinende Sammlung von Miniaturen, von Momentaufnahmen, in denen die Ich-Erzählerin rückblickend ihr gemeinsames Leben mit dem Bruder in allen Höhen und Tiefen Revue passieren lässt und die – mal über mehrere Seiten, mal in nur wenigen Sätzen formuliert – erst in ihrer assoziativen Gesamtheit ein stimmiges, in sich abgeschlossenes Bild ergeben. Darin zeigt Autorin ohne jede Dramatik die tiefe Verzweiflung der Ich-Erzählerin, der es nicht gelingt, sich aus dem Strudel der Trauer zu befreien, fühlt sie sich doch in gewisser Weise mitverantwortlich am Freitod ihres Bruders. Sie glaubt, ihm zuletzt nicht aufmerksam genug zugehört zu haben, um die Andeutungen seines Todeswunsches ernst zu nehmen.
In Posthumas Roman steht keine Handlung im Vordergrund. Eine Verfilmung ist deshalb nur schwer vorstellbar. Denn auch alle anderen Personen – ob es die Mutter der Erzählerin ist, ihre Tante oder ihre Psychotherapeutin – bleiben letztlich nur Randfiguren. Sie ähneln stattdessen Stichwortgebern in einem Kammerspiel, in dem nur die Erzählerin, monologisierend und in ihrer Gefühls- und Gedankenwelt gefangen, allein im Rampenlicht der Bühne steht.
Jente Posthuma schreibt völlig unaufgeregt und in einfachen, kurzen Sätzen, denen jede Dramatik fehlt, geradezu mit einer gewissen Leichtigkeit. Sie lässt ihre Protagonistin emotional zurückhaltend, oft ganz sachlich, über manche Situationen sogar mit trockenem Humor erzählen, wodurch der tiefe Schmerz der Erzählerin durchbrochen wird. Es ist eher eine subtile Emotionalität und die gelungene Balance zwischen Tragik und Humor, die „Woran ich lieber nicht denke“ zu einer besonderen, berührenden Lektüre macht.