Ein unglaubliches Buch
Mein Book-Blind-Date Mai war »Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt« von Jesmyn Ward und hat mich zwar sehr fesseln können, dennoch musste ich immer wieder Pausen einlegen, um das Gelesene sacken zu ...
Mein Book-Blind-Date Mai war »Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt« von Jesmyn Ward und hat mich zwar sehr fesseln können, dennoch musste ich immer wieder Pausen einlegen, um das Gelesene sacken zu lassen. Heute bin ich fertig geworden und möchte meine Besprechung zum Buch mit euch teilen.
Jojo ist dreizehn Jahre alt und lebt mit seiner kleinen Schwester Kayla bei seinen Großeltern in Bois, Mississippi. Seine Mutter Leonie ist drogensüchtig und nicht in der Lage, sich um ihre Kinder zu kümmern. Michael, der Vater von Jojo und Kayla, sitzt im Gefängnis. Seine Eltern wollen mit ihrer Schwiegertochter und ihren Enkeln keinen Kontakt, weil sie schwarz sind. Als Michael entlassen werden soll, fährt Leonie mit ihren Kindern und ihrer Freundin Misty los, um ihn von der Parchment Farm abzuholen. Auf ihrem Weg werden sie von den Geistern der Vergangenheit begleitet.
Was für ein Buch! Es geht um Armut und Drogen, um Rassismus und die Geister, die von den schlimmen Taten der Einwohner des Landstriches erzählen. Schon nach wenigen Seiten war klar, dass die Geschichte keine leichte Kost werden würde. In den ersten Szenen des Buches muss der dreizehnjährige Jojo seinem Großvater Pop beim Schlachten und Häuten einer Ziege helfen. Das ging mir als Leserin schon nah und das sollte nur ein Auszug des Lebens einer schwarzen Familie in den Südstaaten sein. Ward zeichnet drei Generationen einer Familie, die in ärmlichen Verhältnissen und in einer von Rassismus geprägten Gesellschaft leben.
Sehr berührt hat mich die tiefe Verbindung der beiden Geschwister Jojo und Kayla, die von ihren Eltern keine Liebe erfahren. Jojo ist der einzige, der Kayla trösten kann und er schützt sie vor allen Gefahren. Ihre Mutter Leonie ist selten da und scheint nur in Anwesenheit des Vaters ihrer Kinder aufzublühen, dessen Cousin ihren eignen Bruder tötete. Der Großteil des Buches berichtet von dem anstrengenden Roadtrip durch Mississippi bei starker Hitze. Leonie fährt mit ihren Kindern und ihrer Freundin Misty in den Norden des Staates, um Michael abzuholen, der aus dem Gefängnis entlassen wird. Jojo und Kayla haben Hunger und Durst, während ihre Mutter gedanklich nur bei ihrem Lebensgefährten und der Droge Crystal Meth ist.
Auf dem Weg zur Haftanstalt Parchment Farm, muss Jojo zudem seine Schwester beruhigen, die sich immer wieder übergeben muss. Als ein Polizist die vier anhält, wird er von diesem mit einer Pistole bedroht und kann sich auch in dieser ausweglosen Situation nicht auf den Rückhalt seiner Mutter verlassen, die nur das Verschwinden der geschmuggelten Drogen im Sinn hat. Während der Fahrt sieht Jojo immer wieder einen Jungen mit dem Namen Richie, der ihm als Geist erscheint. Von seiner Großmutter hat Jojo die Gabe vererbt, Tote sehen zu können. Richie saß vor Jahrzehnten mit Jojos Großvater Pop in Parchment Farm ein, in welcher beide grausamen Misshandlungen ausgesetzt waren. Bei der Flucht aus dem Gefängnis verlor Richie sein Leben und sein Geist sucht nun nach Antworten. Die besondere Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, haben neben Jojo auch seine Mutter Leonie und Kayla. Ihnen erscheinen die Geister Verstorbener, so auch der des toten Bruder bzw. Onkels Given.
Für »Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt« braucht es gute Nerven. Jesmyn Ward überzeugte mich jedoch von Beginn an mit ihrer sanften, teils poetischen Erzählweise, die im krassen Kontrast zum Inhalt steht. Die Lebensgeschichten ihrer Figuren erzählt sie mit soviel Wucht und Emotionen, dass im Kopf permanent Bilder entstehen. Ich konnte mir die Charaktere und das Setting immer gut vor Augen führen und fühlte mich an den Ort des Geschehens versetzt. Die Vorstellung der elenden Verhältnisse, unter denen besonders Jojo und Kayla leben müssen, tut beim Lesen weh. Einzig ihr Großvater Pop und ihre im Sterben liegende Großmutter geben den Kindern Halt. Der radikal grausame Umgang ihrer Mutter war für mich oft schwer auszuhalten.
Ward versteht es, die Ereignisse und Beschreibungen bildhaft darzustellen, sodass man als Leser glaubt, die Natur riechen und das Essen schmecken zu können. Der alteingesessene Rassismus der Großeltern väterlicherseits führt dazu, dass diese mit ihren dunkelhäutigen Enkeln nichts zu tun haben wollen. In der fiktiven Ortschaft gerät man fast zwangsläufig in den Strudel von Gewalt und Drogen. Die Kapitel werden in der Ich-Form erzählt. Dabei wechseln die Charaktere zwischen Jojo, Leonie und Richie. Die Dialoge sind kurz aber rasant und inhaltsvoll. Die Schriftstellerin schreibt von den Lebenden und Toten, von denen, die sich ihrem Schicksal nicht ergeben wollen.
Die Atmosphäre wird beachtlich gut eingefangen, die Figuren und deren Handlungen fühlen sich erschreckend real an und die gesellschaftliche Grausamkeit und Brutalität lässt beim Lesen oft erschaudern. Mich hat die Geschichte wie kaum eine andere schockiert und doch auch aufmerksam gemacht auf die Missstände in vielen Orten Amerikas und der Welt. Die menschliche Verdorbenheit und ihre Folgen arbeitet Ward eindrucksvoll heraus. Den bedeutendsten Literaturpreis Amerikas hat sie sich redlich verdient – und das zum zweiten Mal.
Eine erschütternde und beispiellose Südstaatengeschichte voller Erbarmungslosigkeit und Hass und mittendrin eine rührende Geschwisterliebe, die bei all der Gnadenlosigkeit ein wenig Hoffnung schenkt.