Cover-Bild Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke
Band 3 der Reihe "Alle Toten fliegen hoch"
21,99
inkl. MwSt
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Themenbereich: Belletristik - Biografischer Roman
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 352
  • Ersterscheinung: 12.11.2015
  • ISBN: 9783462048285
Joachim Meyerhoff

Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke

Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 3

Der dritte Teil der Bestsellerserie »Alle Toten fliegen hoch«: Von einem, der auszog, Schauspieler zu werden – und bei den Großeltern einzieht

Die Kindheit auf dem Gelände einer riesigen Psychiatrie und das Austauschjahr in Amerika liegen hinter ihm, die Schulzeit hat er überstanden, als vor dem Antritt des Zivildienstes das Unerwartete geschieht: Joachim wird auf der Schauspielschule in München angenommen und zieht zu seinen Großeltern in die großbürgerliche Villa in Nymphenburg.

Er wird zum Wanderer zwischen den Welten. Seine Großmutter war selbst Schauspielerin und ist eine schillernde Diva, sein Großvater ist emeritierter Philosophieprofessor, eine strenge und ehrwürdige Erscheinung. Ihre Tage sind durch abenteuerliche Rituale strukturiert, bei denen Alkohol eine wesentliche Rolle spielt. Tagsüber wird Joachim an der Schauspielschule systematisch in seine Einzelteile zerlegt, abends ertränkt er seine Verwirrung auf dem opulenten Sofa in Rotwein und anderen Getränken.

Aus dem Kontrast zwischen großelterlichem Irrsinn und ausbildungsbedingtem Ich-Zerfall entstehen die den Erzähler völlig überfordernden Ereignisse – und gleichzeitig entgeht ihm nicht, dass auch die Großeltern gegen eine große Leere ankämpfen, während er auf der Bühne sein Innerstes nach außen kehren soll und dabei oft grandios versagt.

Joachim Meyerhoff hat seine Kunst, Komik und Tragik miteinander zu verbinden, noch verfeinert. Sein Held nimmt sich und seine Umwelt immer genauer wahr und erkennt überall Risse, Sprünge, Lücken. Ein fulminantes Lesevergnügen!

Weitere Formate

Dieses Produkt bei deinem lokalen Buchhändler bestellen

Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 19.12.2016

Ein Prosit auf das Leben …

0

Joachim ist jetzt zwanzig Jahre alt, Abitur und Austauschjahr in Amerika liegen hinter ihm. Nun freut er sich auf seine Zivildienststelle, die er im Münchner Krankenhaus Rechts der Isar absolvieren soll. ...

Joachim ist jetzt zwanzig Jahre alt, Abitur und Austauschjahr in Amerika liegen hinter ihm. Nun freut er sich auf seine Zivildienststelle, die er im Münchner Krankenhaus Rechts der Isar absolvieren soll. Besonders die Unterkunft im Schwesternwohnheim weckt in ihm so manche Hoffnungen auf amouröse Abenteuer. Doch dann bekommt er, völlig unerwartet, die Zusage, dass er an der Münchner Schauspielschule aufgenommen wurde. Aus einer Laune heraus hatte er bei der Aufnahmeprüfung mitgemacht, aber nur einen Monolog aus ‚Dantons Tod‘, statt der geforderten drei Rollen, zum Besten gegeben. So zieht er also mit gemischten Gefühlen zu seinen Großeltern in die Villa am Nymphenburger Park, ins ganz in rosa gehaltene Gästezimmer. Vorübergehend, wie er glaubt, bis er eine eigene Bleibe gefunden hat – doch daraus sollten dreieinhalb Jahre werden …

Der Autor Joachim Meyerhoff ist Schauspieler am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg und Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters. Nach seinen autobiographischen Romanen „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“, in dem er über seine Kindheit und Jugend auf dem Gelände der von seinem Vater geleiteten Psychiatrie erzählt, und „Alle Toten fliegen hoch“, in welchem er über seine Erlebnisse als Austauschschüler in den USA berichtet, schildert er in dem vorliegenden Buch „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ seine Zeit an der Otto-Falckenberg-Schauspielschule in München und seinen Aufenthalt in der noblen Villa seiner Großeltern, der ehemaligen Schauspielerin Inge Birkmann und des pensionierten Philosophieprofessors Hermann Krings, in der die Zeit stillzustehen scheint. Sein Schreibstil ist sehr ausdrucksstark und ausgereift, die Handlung eine gekonnte Mischung zwischen Ironie und Tragik.

Schonungslos offen, anrührend und voller Liebe und Zuneigung, beobachtet Meyerhoff seine Großeltern, berichtet über komische und tragische Geschehnisse und erzählt von ihren irrwitzigen Ritualen. Sie waren wohl dem Alkohol nicht abgeneigt und begannen den Tag bereits mit einer hochprozentigen Mundspülung aus Enzianschnaps. Danach gab’s zum Frühstück ein Glas Champagner, zum Mittagessen wurde Weißwein serviert, punkt sechs Uhr war „Whisky-Time“, das Abendessen wurde dann von Rotwein begleitet und zur guten Nacht gegen elf Uhr trank man noch einen Cointreau. Während die Großeltern dann leicht angesäuselt waren, musste Joachim oftmals den Treppenlift benutzen, um noch nach oben in sein rosarotes Zimmer zu kommen.

Allein schon der Gedanke, dass ein erwachsener junger Mann sich in einem rosafarbenen Mädchentraum-Zimmer einrichten muss, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Echt komisch wird es aber, wenn Meyerhoff über seine Ausbildung als Schauspieler schreibt. Er fühlt sich völlig überfordert, ist frustriert, nichts will ihm gelingen. Schon in der ersten Stunde verkrampft er, als sich die Schüler eine Stunde lang wortlos anstarren sollen. Als er dann die Aufgabe bekommt, eine Szene aus Effi Briest als Nilpferd zu spielen, geht es dem Leser an die Lachmuskeln. Er selbst konnte damals auf der Bühne weder lachen noch weinen, so dass er sich bei solchen Szenen zur Wand drehen musste.

Doch Meyerhoff berichtet nicht nur über heitere und komische Begebenheiten, es gibt auch besinnliche und traurige Momente in diesem Buch, für das ein Zitat aus Goethes „Werther“ titelgebend war: „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke, die ich hier in meinem Busen fühle.“ Diese Lücke hinterlassen in ihm geliebte Menschen. Er muss sowohl den frühen Unfalltod seines Bruders, als auch den Tod seines Vaters verarbeiten und erlebt den langsamen Verfall der betagten Großeltern. So ist die Geschichte auch eine Hommage an die geliebten Verstorbenen.

Fazit: Ein großartiges, sehr menschliches Buch – authentisch, komisch und tragisch – dabei höchst unterhaltsam.

Veröffentlicht am 28.09.2016

„Ich wollte inkognito ich sein“

0

Autor Meyerhoff ist ausgebildeter Schauspieler, in diesem Beruf erfolgreich tätig – und ich las hier mit Genuss etwas, das ich weniger einen klassischen Roman nennen würde – die Erzählung ist autobiographisch. ...

Autor Meyerhoff ist ausgebildeter Schauspieler, in diesem Beruf erfolgreich tätig – und ich las hier mit Genuss etwas, das ich weniger einen klassischen Roman nennen würde – die Erzählung ist autobiographisch. Meyerhoff schreibt von seiner Ausbildung zum Schauspieler in München, während der er, aus Norddeutschland kommend, im Haus seiner Großeltern lebte, und verknüpft diese Erzählung mit Anekdoten über seine Großeltern; meist erfolgt der Wechsel kapitelweise, häufig mit Rückblenden in die Vergangenheit. Dieser Schreibstil wirkt sehr natürlich, fast wie ein Plauderton: Thema soll die Ausbildung sein – ganz natürlich mischen sich damit die Anekdoten. Oder sind die Großeltern das eigentliche Thema?

Man liest hier über das groß- und bildungsbürgerliche Milieu; die Großeltern wohnen nicht, sie residieren eher in München in einer Villa direkt neben dem Nymphenburger Schloss. „Viele Male sah ich von hier, wie Gäste nicht einfach den Weg auf das Haus zugingen und dann, sobald sie es erreichten, klingelten, sondern vor der Tür, den Finger schon auf dem Klingelknopf, innehielten. Es war offensichtlich, dass diesen erstarrten Besuchern klar wurde, dass sie sich mit dem Eintreten in das großelterliche Haus für die nächsten Stunden deren Welt unterzuordnen hatten.“ S. 17 Das Renommée der Großeltern ist groß: Die Großmutter war Schauspielerin und Schauspiellehrerin, der Großvater Philosoph; der Vater Meyerhoffs war Direktor einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, wodurch der Autor und seine zwei Brüder auf dem Anstaltsgelände heranwuchsen. Überschattet wird der Einstieg ins Erwachsenenleben vom vorangegangenen Unfalltod des mittleren Bruders des Autors – der Text stellt klar, dass er der Trauer daheim durch den Wegzug zu entgehen trachtete. „Ich wollte kein Leben, in dem mein Schmerz rücksichtslos jeden Winkel ausleuchtet, ich wollte jugendlichen Leichtsinn.“ S. 32 Tod und Krankheit bleiben, so ist nun einmal das Leben, trotzdem Begleiter, der Autor kommentiert nüchtern, fängt das Kuriose in der Tragik ein.

Der Text ist für mich angenehm, im Plauderton – es gibt viele Stellen, gerade in den Anekdoten über die Großeltern, über die ich, die ich selbst eng mit meinen aufgewachsen bin, schmunzeln oder lächeln kann, so der etwas, hm, höhertourige Getränkekonsum bis hinunter zum Gurgelmittel (mit Enzianschnaps), das letztlich getrunken zur frühmorgendlichen Start-Beschwingtheit führt, oder die ignorierte Schwerhörigkeit. „Der Gipfel der Absurdität war erreicht, wenn ich mit meinem Großvater telefonierte und meine Großmutter von weit weg etwas rief, was er falsch an mich weitergab. Ich hörte meine Großmutter rufen: ‚Herrmann, bitte frag ihn doch, ob er noch Kerzen hat!‘ Und daraufhin sagte mein Großvater zu mir: ‚Ich soll dir sagen, dass sie noch Schmerzen hat!‘ Ich antwortete: ‚Ja, ich glaube oben im Sekretär.‘ Und mein Großvater nach einer Pause mit leicht besorgter Stimme: ‚Junge, wovon sprichst du?‘ S. 52

Auch die Ausbildung an der renommierten Otto-Falckenberg-Schule bietet wenig Erholung von Skurrilitäten. „Folgender Reim sollte meine Lippen beweglicher machen und mit Blut füllen: ‚Bald balgen sich die beiden blonden Buben, bald bauen prächtige Burgen sie beim Bach, bald baumeln ihre braun gebrannten Beine vom Blätterbau des Birnenbaums heran.‘ Am Ende der Stunde hatte ich das Gefühl, mein vegetatives Nervensystem für immer zerschossen zu haben.“ S. 93 Dazu kommen Aufgaben wie eine Szene aus Effi Briest als Nilpferd darzustellen oder Spaghetti im kochenden Wasser. Gleichzeitig erfährt der Schauspielschüler einen Mangel an echter Nähe bei permanentem Körper- und Blickkontakt. „Nur bei meinen Großeltern schloss sich allabendlich die Lücke und ihre Vertrautheit und Zugewandtheit, ihr aus Hochprozentigem geknüpftes Netz fingen mich sicher auf.“ S. 111 Das Gefühl des Versagens, der Zerrissenheit hält lange an, bis aus dem Schauspieler auch der Autor Meyerhoff wird, zunächst für eine Bühnenadaption von Goethes Werther (daher der Titel des Buches).

Ich habe die Lektüre wirklich genossen – mir bleibt nur ein kleines Manko, das ich aber nicht dem Autor anlasten könnte: Das Buch steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2016, dem Preis, mit dem der „Roman des Jahres“ ausgezeichnet wird. Für die Nominierung ist mir das Werk einfach „zu viel“ Autobiographie und „zu wenig“ Roman. Das tut aber dem Lesevergnügen keinen Abbruch – dazu plaudert Meyerhoff schlicht zu angenehm selbst über die traurigeren Aspekte seines Lebens mit einem leicht selbstironischen Blick auf sich selbst und schlägt damit letztlich eine Brücke zu MEINER geliebten Großmutter: wenn die hinfiel und selbst nicht wieder aufstehen konnte, fing sie stets furchtbar an zu lachen darüber, wie hilflos das wohl aussehen möge. Nicht die schlechteste Einstellung im Leben.

https://de.wikipedia.org/wiki/IngeBirkmann
https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann
Krings
Folgebuch:
natürlich: Theodor Fontane: „Effi Briest“
Frederik Backman: „Britt-Marie war hier“ (S. 113 bei Meyerhoff „Was, überlegte ich, braucht eigentlich mehr Kraft, mehr Mut: etwas durchzuhalten oder etwas abzubrechen?“)