Ein richtig guter, stark erzählter Roman!
Wer sind wir ohne die Reflexion durch andere, was bliebe von uns übrig ohne sie?
Jürgen Bauers „Portrait“ zeichnet das Leben eines Mannes nach, der nirgendwo reinpasst. Als zarter „Großkopferter“ auf ...
Wer sind wir ohne die Reflexion durch andere, was bliebe von uns übrig ohne sie?
Jürgen Bauers „Portrait“ zeichnet das Leben eines Mannes nach, der nirgendwo reinpasst. Als zarter „Großkopferter“ auf den heimischen Bauernhof so wenig wie später, nach seiner Flucht in die Großstadt, als Homosexueller in die feine Gesellschaft Wiens, wo er bald ein kräftezehrendes Doppelleben zwischen Juristerei und Schwulenkneipe führt. Der Roman ist in drei zeitliche Abschnitte eingeteilt. Von Georgs Kindheit nach dem zweiten Weltkrieg in einem kleinen Dorf im Nirgendwo erzählt seine Mutter Mariedl; sehr authentisch und in tiefstem österreichischen Dialekt (ja, durchaus eine Herausforderung für mich Nordlicht aber ich habe sie gemeistert 💪🏻) lässt sie das Bild eines Knaben vor meinen Augen entstehen, der früh spürt, dass er anders tickt und der engstirnigen Dorfgemeinschaft entfliehen muss, um seinen Weg zu finden. Auf ebendiesem begegnet er dem jungen Gabriel, der sein Liebhaber und heimlicher Gefährte in den folgenden Jahren wird. Doch während dieser in die pulsierende Schwulenszene Wiens der 70er Jahre eintaucht und das Leben mit ganzem Körpereinsatz (und zum Soundtrack David Bowies) aufsaugt, bleibt Georg gefangen in der spießigen Hülle, die er seinem Leben, ja, sich selbst überstülpt. Im wilden, ungestümen Temperament Gabriels spiegelt sich umso stärker Georgs Zurückgezogenheit, die Unfähigkeit, sich seinem Selbst zu stellen. Im letzten Teil kommt Sara zu Wort, eine erfolglose, vom Partner misshandelte Opernsängerin, die ihm freundschaftlich zugetan ist und in dem schwächlichen, lenkbaren Georg den idealen Ehemann für sich erkennt; und ihm ihrerseits mit einer Zweckehe gesellschaftliche Sicherheit bieten kann.
Von diesen drei Seiten nähern wir uns Georg, ziehen immer engere Kreise und bekommen seinen Umriss deutlich zu fassen aber nie wirklich ihn selbst; während die Figuren um ihn herum schillern und vor Lebendigkeit strahlen, bleibt er seltsam verschwommen, entgleitet immer wieder ins Leere - wir sehen das Negativ, nicht aber das wirkliche Bild. Georg schwankt passiv im eigenen Leben umher, der Charakter nur hie und da durchblitzend, blass bleibend neben den Erzählstimmen und fast nicht greifbar für mich als Leserin. So bleibt in mir eine große Zuneigung für die drei Erzähler*innen und ihre zärtliche Liebe zurück und leises Bedauern über das vertane Glück Georgs, der seinen Platz nie finden konnte und dem am Ende nicht einmal die eigenen Erinnerungen bleiben. Ein richtig guter, stark erzählter Roman!