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Veröffentlicht am 05.06.2024

Schlicht schön

Die Frau auf der Treppe
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Das Bild einer nackten Frau und drei Männer mit sehr unterschiedlichen Interessen, doch vereint in dem Wunsch, etwas ihr Eigen zu nennen - das Bild selbst oder Irene, die Frau darauf. Bernhard Schlinks ...

Das Bild einer nackten Frau und drei Männer mit sehr unterschiedlichen Interessen, doch vereint in dem Wunsch, etwas ihr Eigen zu nennen - das Bild selbst oder Irene, die Frau darauf. Bernhard Schlinks Roman „Die Frau auf der Treppe“ kann sich trotz seiner Kürze nicht ganz entscheiden, ob er eher Gangster oder Romantiker ist; vereint er doch Attribute von beidem in sich. Was wie ein Krimi mit einem Rechtsstreit um künstlerisches Eigentum (und menschliche Werte) beginnt, spannt dann einen großen Bogen in die weitere Zukunft, um auf einer winzigen Insel vor der Küste Australiens zum Showdown zu kommen.

Der Ich-Erzähler ist die zentrale Figur des Romans; sie macht eine starke Entwicklung durch und muss rückblickend erkennen, wie sehr sie sich selbst zum Statisten im eigenen Leben degradiert hat. Das unverhoffte Wiedersehen des Erzählers mit Irene und die Frage, die sicher jeden Menschen irgendwann einmal bewegt, „Was wäre gewesen, wenn?“ bricht die (Gefühls)Starre auf und in der Schönheit der letzten, der einzigen gemeinsamen Tage spiegelt sich sein ganzes Leben wieder, gelebt und doch wieder nicht.

Schlinks Roman birgt in seiner für den Autor typischen Schlichtheit etwas sehr Schönes, Hoffnungsvolles in sich - die Möglichkeit eines Aufbruchs in ein neues Leben, für den es nie zu spät ist. Dem Ende könnte man sicher Kitsch und ein gewisses Pathos vorwerfen aber irgendwie mochte ich es, wohingegen mich im Mittelteil die leicht ausufernden (Alt)Männer-Dialoge etwas ermüdeten.

Alles in allem eine empfehlenswerte Geschichte, die zum Nachdenken anregt und mich gut unterhalten hat; wenngleich sie für mich auch kein Highlight war.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Für mich eine lohnende Leseerfahrung!

Dinosaurier auf anderen Planeten
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Kurzgeschichten haben für mich in letzter Zeit (und mit zunehmendem Alter wie ich vermute) einen besonderen Reiz entwickelt. Ich tauche buchstäblich in ihnen ab und kurz darauf wieder auf, erhasche nur ...

Kurzgeschichten haben für mich in letzter Zeit (und mit zunehmendem Alter wie ich vermute) einen besonderen Reiz entwickelt. Ich tauche buchstäblich in ihnen ab und kurz darauf wieder auf, erhasche nur einen kurzen Blick auf eine Szenerie und spinne sie in Gedanken vor und zurück - oder lasse sie genauso, wie sie ist. Das Unvollendete ist für mich dabei überhaupt kein Manko, im Gegenteil; ich mag dieses Ungewisse, das sich im Verborgenen abspielt, das Sichtbare erscheint mir mitunter langweilig und banal daneben. Alles scheint möglich, wenn (fast) nichts beschrieben wird.

Genau deshalb mag ich auch Danielle McLaughlins Erzählband „Dinosaurier auf anderen Planeten“ ausgesprochen gerne lesen. Der leicht melancholische Klang ihrer Sprache und auch die auf den ersten Blick eher tristen Begebenheiten ziehen mich sofort in den Bann; das Dunkle, Traurige, manchmal fast Verstörende, das zum Leben dazu gehört, fasziniert mich. Die menschlichen Schwächen zu ergründen finde ich interessanter als deren Stärken, ich mag in die Abgründe schauen, mag sehen, was hinter der Fassade lauert. McLaughlins aufmerksamer Blick sieht das, was die Menschen nicht zeigen wollen; was passiert, wenn der Stolz ihnen zwischen den Fingern zerrinnt und den rohen, verletzlichen Menschen zurücklässt. Für mich eine lohnende Leseerfahrung!

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Von der Fragilität der menschlichen Seele

Chirú
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Mein Spontankauf von Michela Murgia lässt mich nach einer ersten Ratlosigkeit ziemlich begeistert zurück. Sprachlich ist es in meinen Augen schlicht herausragend und schwer mit anderen mir bekannten Autor*innen ...

Mein Spontankauf von Michela Murgia lässt mich nach einer ersten Ratlosigkeit ziemlich begeistert zurück. Sprachlich ist es in meinen Augen schlicht herausragend und schwer mit anderen mir bekannten Autor*innen vergleichbar; die Übersetzerin Julika Brandestini hat hier richtig gute Arbeit geleistet. Virtuos spielt die Autorin mit der Sprache in der ich deutlich zu spüren meine, dass es eine andere als die meine ist, ein anderer Rhythmus und Klang. Sie besticht durch glasklare Einblicke in die Gefühlswelt der Protagonistin und eine beeindruckend wache, schonungslose Sicht auf das eigene Handeln und Fühlen sowie das Verhalten anderer.

Eleonora, eine erfolgreiche Theaterschauspielerin, ist 38 als sie den 18jährigen Musikstudenten Chirú trifft und sich seiner annimmt. Ihre Beweggründe bleiben dabei erst einmal ziemlich unklar, fast schwammig, und mir fiel es in der ersten Hälfte des Buches schwer, die Beziehung der beiden einzuordnen und das Lehrerin-Schüler-Verhältnis zu begreifen. Diese beiden Begriffe sind für mich stark geprägt durch die Schule und eher kindliche Hobbies wie Sport oder Musikunterricht, doch hier handelt es sich vielmehr um eine Art Gesellschaftskunde, eine Einführung in die (höhere) Gesellschaft, die Bildung des noch formbaren Charakters. Die gehobenen Kreise, in denen besonders Eleonora sich bewegt, spielen dabei eine zentrale Rolle; sind mir aber bisweilen so fremd, dass es seine Zeit brauchte, bis ich mich an die Dialoge gewöhnt und auch Sympathien für die Protagonisten entwickelt hatte.

Was macht uns und unser Handeln aus, macht uns zu dem, was wir heute sind? Welche Rolle spielt die Liebe, die Verletzung, welche die Ablehnung? Dieser schmale Grat, das Ausbalancieren von Glück und Gefahr, dem der Mensch sich in den Beziehungen zu anderen aussetzt; der Fragilität der menschlichen Seele widmet Michela Murgia sich in „Chirú“ mit Bravour. Sicher nicht mein letztes Buch der Autorin!

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Eine vielschichtige Geschichte über Täter und Opfer

Alef
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Katharina Höftmann Ciobotarus „Alef“ ist eine vielschichtige Geschichte über Täter und Opfer und die Bewältigung der Vergangenheit und für mich bereits jetzt eines der wichtigsten Bücher, dass ich überhaupt ...

Katharina Höftmann Ciobotarus „Alef“ ist eine vielschichtige Geschichte über Täter und Opfer und die Bewältigung der Vergangenheit und für mich bereits jetzt eines der wichtigsten Bücher, dass ich überhaupt je gelesen habe. Es geht um Vertreibung und Flucht, Stolz und Stärke, Wurzeln und Flügel und die große Frage, ob man jemanden mit jeder Faser seines Seins lieben und dabei man selber bleiben kann. Ist die Liebe alle Widrigkeiten des Lebens wert?

Ich habe in der Schule, wie sicher jede*r hier, viel über den Holocaust gelernt und auch den obligatorischen Besuch im KZ gemacht. Ich habe Anne Franks Tagebuch, verschiedene Aufzeichnungen von Überlebenden und auch fiktive Geschichten gelesen und diverse Filme (Spielfilme sowie Dokumentationen) über den zweiten Weltkrieg gesehen. Ich habe die Schuld meiner Vorfahren in vielen Situationen aufgezeigt bekommen und verstanden aber sie war dennoch nie wirklich meine Geschichte. Das hatte bei aller Grausamkeit eine Distanz, die ich nicht wirklich überbrücken konnte. Ich war entsetzt, ja, fassungslos, habe mitgefühlt und verachtet aber wirklich MICH angesprochen und gemeint hat es nicht. Eitan und Maja aber haben mich mitgenommen in die Vergangenheit, die nicht vergangen ist sondern immer noch präsent und somit auch zu mir gehört, mein Leben betrifft, mich schuldig spricht. Eitan hat meinen Blick auf das Schwert mit dem Hakenkreuz im eigenen Wohnzimmer gelenkt, auf den offenen Antisemitismus, der immer noch da und real ist und auch mein Leben streift. Ich habe mit Bella am Fenster gesessen und auf Sigi gewartet, 69 Jahre lang, was ist da schon vergangen und vergessen? Ich habe vielleicht zum ersten Mal verstanden, was der Holocaust bis heute mit den Menschen macht und welche Kreise er zieht, bis wo sein Arm reicht.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ich liebe diese Verrückten!

Vater unser
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Wie cool war das denn bitte gerade? Hab Angela Lehners „Vater Unser“ in einem Rutsch durchgelesen und bin ziemlich angetan von diesem Debüt, was mich kaum mehr wundert, denn anscheinend bin ich a. innerlich ...

Wie cool war das denn bitte gerade? Hab Angela Lehners „Vater Unser“ in einem Rutsch durchgelesen und bin ziemlich angetan von diesem Debüt, was mich kaum mehr wundert, denn anscheinend bin ich a. innerlich selbst Österreicherin oder b. war ich früher selbst Österreicherin oder c. mag ich einfach die österreichische Literatur unheimlich gerne.

Familienzusammenführung (und Aufarbeitung) in der Klappse - klingt etwas surreal und crazy, ist es auch, dabei aber auch sehr herzerwärmend, berührend, traurig und humorvoll. Eva Gruber wird ins Spital eingeliefert, weil sie behauptet eine Kindergartengruppe erschossen zu haben, was schon ein starkes Stück ist und durchaus neugierig auf die Dame und deren Geschichte macht. Dort trifft sie dann zufällig auf ihren magersüchtigen, wirklich arg bedauernswerten Bruder Bernhard, zu dem sie vor Ewigkeiten den Kontakt abgebrochen hat und spätestens jetzt schwant einem so langsam, dass in der Familie vielleicht nicht alles perfekt lief. Wir begleiten die junge Protagonistin nun zurück in die Vergangenheit, begleiten ein sensibles Mädchen in sein fragiles Elternhaus; dabei bleibt immer etwas unklar was Sein und was Schein und wer hier eigentlich verrückt ist, die Grenzen zwischen Gesund und Krank verschwimmen, chapeau für diesen gelungenen Kniff, liebe Angela Lehner. Seit „Einer flog über das Kuckucksnest“ habe ich keine so liebenswert gezeichneten Verrückten mehr erlebt, eine große Leseempfehlung von mir.

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