Vom Scheijtl bis zur Luxussohle - das extreme Leben der Julia Haart
Julia Haart, 1971 in Moskau als Julia Leitow geboren, ist die älteste Tochter ihrer jüdischen Eltern. Die Familie wandert 1977 über Rom in die USA aus. Dort wendet sich vor allem die Mutter dem Haredi-Judentum, ...
Julia Haart, 1971 in Moskau als Julia Leitow geboren, ist die älteste Tochter ihrer jüdischen Eltern. Die Familie wandert 1977 über Rom in die USA aus. Dort wendet sich vor allem die Mutter dem Haredi-Judentum, besser bekannt als ultraorthodoxes Judentum zu, und verdonnert die ganze Familie dazu, richtig frum zu sein. Dieses Leben, in dem Frauen nur dazu da sind, viele Kinder zu gebären und dem Mann untertan zu sein, unterliegt äußerst strengen Regeln. Dabei spielt das Einkommen der Familien keine Rolle. Wohlhabende Familien können sich das Einhalten der komplexen Speiseregeln mit mehreren Kühlschränken und Geschirr leichter leisten als Familien mit geringem Einkommen.
Diese Regeln und die strengen Bekleidungsvorschriften beschreibt die Autorin im ersten Teil des Buches sehr genau. Die Blusen oder Pullover haben lange Ärmel zu haben, dafür müssen die Schlüsselbeine bedeckt sein, die Röcke müssen auch im Sitzen die Knie bedecken, (kratzige) Strumpfhosen, darüber Kniestrümpfe - so müssen Mädchen und Frauen bekleidet sein. Alles andere ist laut den Vorschriften, die von den Rabbinern vorgegeben sind, nicht erlaubt. Schulbildung? Fehlanzeige - ein bisschen Lesen, Schreiben und Rechnen muss für die zukünftige brave jüdische Mutter und Hausfrau genügen. Man wähnt sich ins 19. Jahrhundert zurückversetzt. Nein, stimmt nicht ganz! Im säkularen Judentum erhielten Mädchen und Frauen ordentliche Ausbildungen.
Im zweiten Teil ihrer Biografie, erzählt sie, wie sie mit 42 Jahren von ihrer Familie getrennt hat und in eine, für sie völlig neue Welt, eintritt. Wobei diese Welt keine „normale“ ist, sondern die überzeichnete der Mode und des Luxus. Natürlich diverse Betrüger ihre Ahnungslosigkeit aus und betrügen sie von vorne bis hinten. Allerdings fällt sie mehrmals durch glückliche Zufälle (?) auf ihre kleinen Füße (Schuhgröße 34).
Meine Meinung:
Den ersten Teil des Buches, der einen Einblick in den unwahrscheinlich strengen Regeln der Haredi-Juden gibt, hat mir sehr gut gefallen. Als Nichtjude sind einem diese Vorschriften ja nicht wirklich bekannt.
Interessant, dass an der jüdischen Mädchen-Schule Designerklamotten getragen werden, die den strengen Regeln angepasst sind. Wer die nicht trägt, wird, ähnlich wie in jeder anderen Bildungseinrichtung, scheel angesehen und ausgegrenzt. Ungewöhnlich, weil (für mein Verständnis) nicht in den Haredi-Alltag passend, dass die Schülerin Julia mit 12cm Highheels in die Schule gehen darf. Diese Schuhe sind zniut-konform? Das wird nicht die einzige widersprüchliche Information bleiben.
„In der ultraorthodoxen Welt hat Kleidung nur einen Zweck: den Körper zu bedecken, von Kopf bis Fuß, Punkt. Darüber hinaus irgendeinen Gedanken an sein Äußeres zu verschwenden, ist eine Sünde und eine Beleidigung Gottes.“
Das Erwachen kommt erst als ihre älteste Tochter Batsheva genauso mit 19 Jahren verheiratet wird, mit dem kleinen Unterschied, dass sie sich ihren Mann aussuchen darf. Und die jüngste Tochter Miriam unter dem unorthodoxen Verhalten der Mutter zu leiden hat. Julia Haart hat Depressionen, hungert sich auf 32 kg Kilo hinunter und steht knapp vor dem Suizid.
Der zweite Teil, ihr Werdegang zur umjubelten Schuhdesignerin und Geschäftsfrau hat mich nicht so wirklich beeindruckt. Da wirkt sie völlig abgehoben und versnobt. Es scheint, als wolle sie alles, was ihr die Jahrzehnte zuvor verwehrt geblieben ist, innerhalb kürzester Zeit nachholen - Sex, Drugs & Rock`n`Roll inklusive - ein Leben auf der Überholspur quasi.
Lange Zeit führt sie noch ein Doppelleben indem sie regelmäßig zum Schabbat zur Familie fährt (fliegt). Wie sie sich den Lebensunterhalt vor ihrem Erfolg als Schuhdesignerin verdienst hat, wird dezent verschwiegen. Das Buch endet damit, dass sie als Chefdesignerin für La Perla engagiert wird.
Stellenweise ist der Schreibstil oder die Übersetzung reißerisch. Manchmal habe ich den Eindruck, dass der erste Teil von einer anderen Person geschrieben (übersetzt) wurde als der zweite.
Der Werdegang von der ultraorthodoxen Jüdin zur modernen, jüdischen Modedesignerin klingt wie das amerikanische Märchen vom Tellerwäscher zum Millionär, bei dem nicht alles immer so genau genommen wird. Dazu passt, dass diese Biografie für Netflix verfilmt worden ist.
Ich lehne Extremismus jeglicher Form ab, sei es Frauen in Burkas zu stecken oder sie wie hier, in der ultraorthodoxen Gemeinschaft, als Gebärmaschinen zu Ehren ha-Schems zu betrachten.
Fazit:
Dieser reißerisch aufgemachten Lebensgeschichte einer ultraorthodoxen zur Modedesignerin, die mit 42 Jahren das erste Mal ihre Arme und Schultern unverhüllt zeigt, gebe ich 3 Sterne.