Bewegendes Buch über ein brandaktuelles Thema
Kein Thema ist wohl momentan so aktuell und von enormer Wichtigkeit wie die Flüchtlingskrise. Sie beherrscht seit Monaten die Medien, und mittlerweile wird wohl jeder in einer Stadt oder einem Dorf leben, ...
Kein Thema ist wohl momentan so aktuell und von enormer Wichtigkeit wie die Flüchtlingskrise. Sie beherrscht seit Monaten die Medien, und mittlerweile wird wohl jeder in einer Stadt oder einem Dorf leben, in der/dem bereits Geflüchtete untergebracht sind. Wir sind schier ohnmächtig angesichts der Massen, die ihre Heimat verlassen und den beschwerlichen, oft tödlichen Weg nach Europa auf sich nehmen. In der Flüchtlingskrise läuft vieles schief. Und ja, auch ich habe Zweifel und Ängste, dass wir irgendwann überrannt werden und nicht mehr wissen, wie wir die vielen traumatisierten Menschen, die hier mit der Hoffnung auf eine friedliche Zukunft ankommen, so versorgen können, damit man sagen kann: „Ja, jetzt führen sie ein würdevolles Leben.“ Es muss noch vieles getan werden.
Doch damit beschäftigt sich dieses Buch hier und heute nicht, das sollte man vielleicht wissen. Es werden keine Lösungen oder Vorschläge, wie man besser mit der Flüchtlingskrise umgehen kann, präsentiert. Im Mittelpunkt stehen hier die menschlichen Schicksale.
Die beiden Autoren sind mit Leib und Seele Journalisten und selbst an die Orte gereist, an denen es brennt: Zum Beispiel in die großen Flüchtlingslager der Nachbarstaaten Syriens, wo diejenigen in Slums leben, die nicht die Mittel und die Kraft haben, es bis nach Europa zu schaffen; nach Lampedusa, wo Freiwillige tagtäglich um das Leben von verunglückten Flüchtlingen kämpfen; in das österreichische Dorf Großraming als gelungenes Beispiel für das friedliche Zusammenleben zwischen Einheimischen und Flüchtlingen. Sie berichten von der Arbeit der Schlepper und der römischen "Mafia Capitale", die mit dem Elend der Flüchtlinge Milliarden verdient.
Zahlen sind nunmal Zahlen, und es ist mittlerweile auch egal, wer da eigentlich gegen wen kämpft. Letztendlich geht es um Menschen, was viele vergessen (wollen). Der Flüchtlingskrise Gesichter geben, das tun El-Gawhary und Schwabeneder hier, und das trifft den Nerv der Leser. Dieses Buch macht nicht nur betroffen, es laugt einen regelrecht aus, und El-Gawhary fragt auf Seite 73 zu Recht, ob der Leser nicht irgendwann aussteigt, weil er die furchtbaren Geschichten nicht mehr aushält. Ja, die Geschichten SIND furchtbar - aber aussteigen? Nein. Wie kann man die Augen vor etwas verschließen, das gerade jetzt passiert? Wie kann man kapitulieren vor etwas, das man „nur“ liest, während Andere es durchleben mussten?
Ich habe schon viele Sachbücher mit grauenhaftem Inhalt gelesen, die meisten davon über den Holocaust. Man ist immer wieder schockiert und vergießt auch die ein oder andere Träne. Doch dann klappt man das Buch zu und sagt: „Aber das ist alles 70 Jahre her. Wir haben aus der Geschichte gelernt, so etwas wird nicht mehr passieren.“
Nur das, was im Irak, in Syrien, in Afghanistan, in Eritreia und anderen Ländern weit weit weg von uns passiert, passiert JETZT. In der Zeit, in der ich diese Rezension verfasse, wird vielleicht einem weiteren Baby der Kopf weggeschossen, muss wieder eine Mutter hilflos mitansehen, wie ihre entkräfteten Kinder eines nach dem anderen von ihr wegtreiben und im Mittelmeer ertrinken, wird eine weitere junge Frau entführt und auf dem Sklavenmarkt für 12 € verkauft, nachdem sie mitansehen musste, wie ihr Mann, ihr Vater und ihr Bruder hingerichtet wurden.
Zu viel für jemanden, der in einem friedlichen, wohlhabenden Land aufgewachsen ist? Ja, vielleicht. Sich vorzustellen, das Gleiche durchleben zu müssen wie die hier Interviewten, ist ehrlich gesagt zu viel für meinen Verstand und vor allem mein Herz. Aber manche von uns müssen mit dem Vorschlaghammer lernen, warum seit Monaten 100.000e Menschen nach Europa strömen. Wenngleich ich zu behaupten wage, dass ja gerade die ignorantesten Menschen mit den größten Vorurteilen nicht zu diesem Buch greifen werden...