Der Mord, der Doyle, Poe & Co. inspirierte
Polizist Mr Jonathan „Jack“ Whicher und sieben seiner Kollegen werden 1842 zu den ersten Detektiven Londons ernannt. Im 19. Jahrhundert ist es für Polizisten Vorschrift, die Uniform auch außerhalb des ...
Polizist Mr Jonathan „Jack“ Whicher und sieben seiner Kollegen werden 1842 zu den ersten Detektiven Londons ernannt. Im 19. Jahrhundert ist es für Polizisten Vorschrift, die Uniform auch außerhalb des Dienstes zu tragen – nur ein Bändchen am Handgelenk signalisiert, ob sie momentan arbeiten oder nicht. Die Ermittler von Scotland Yard, zu denen Jack Whicher gehört, können somit erstmals „verdeckt“ ermitteln, in dem sie ihre normale Alltagskleidung tragen. Personen von besonderem, polizeilichem Interesse schöpfen dadurch keinen Verdacht und können leichter überführt werden. Zwanzig Jahre lang arbeitet Jack Whicher als Detektiv, überzeugt seine Chefs durch eine schnelle Auffassungsgabe und sein Gespür für kleine, scheinbar unwichtige Details. In Folge dessen wird er 1860 zu einem Mordfall nach Wiltshire geschickt, bei dem er nicht nur sein Können als verdeckter Ermittler sondern auch seine Karriere aufs Spiel setzt.
Der kleine Saville Kent wird am Morgen des 30. Juni 1860 vermisst. Als das Kindermädchen, das mit ihm in einem Zimmer schläft, gegen fünf Uhr morgens aufwacht, findet sie ein leeres Kinderbett vor, macht sich aber zunächst keine ernsthaften Gedanken – vielleicht hat der Junge über Nacht geweint und wurde von seiner Mutter aus dem Zimmer geholt. Zwei Stunden lang kümmert sich Elizabeth Gough um Savilles Geschwister, wäscht und kleidet sie, bis gegen sieben Uhr auch Mrs Kent erwacht. Als Elizabeth die Hausherrin fragt, ob denn die Kinder auch schon wach seien, ist Mrs. Kent verwirrt. „Warum die Kinder?“, fragt sie überrascht, denn es schlafe – wie immer – nur ihre Tochter bei ihr im Schlafzimmer. Als das Kindermädchen ihr erzählt, dass Saville nicht wie gewohnt in seinem Bett liegt, schlägt die Mutter Alarm: Wo ist ihr Sohn? Und wer hat ihn aus dem Bett getragen?
Schnell werden Nachbarn, Bekannte und die Polizei involviert. Das komplette Grundstück rund um Road Hill House wird nach dem kleinen dreijährigen Jungen abgegrast, bis er auf der Außentoilette der Angestellten gefunden wird. Tot. Eingewickelt in seine Decke, unter der er vor einigen Stunden noch ruhig schlief. Die Kehle durchgeschnitten. Alle Beteiligten sind zutiefst schockiert, doch ihre Trauer muss erst einmal hinten anstehen: Am Abend vor Savilles Tod wurden alle Türen und Fenster vom Hausmädchen verriegelt und anschließend von Mr Samuel Kent, dem Hausherren, überprüft. Am Morgen des 30. Juni, nachdem der Körper des kleinen Jungen gefunden wurde, macht die Polizisten eine interessante Entdeckung. Keine der Türen oder Fenster wurde geöffnet oder weist Einbruchspuren auf. Der Mörder oder die Mörderin wohnt also ebenfalls in Road Hill House.
Jack Whicher nimmt sich dem Fall an, interviewt alle Mitglieder der Familie Kent und ihre Hausangestellten. Schnell kommt er zu einem ersten Verdacht, wer den Mord begangen haben könnte, doch ihm fehlen aussagekräftige Beweise. Zum gleichen Zeitpunkt bildet sich die Gesellschaft ihr eigenes Urteil über die Tat und eine ganz andere Person landet im Visier der Polizei. Whicher wird aus dem Fall entlassen, zieht sich aus der Detektivarbeit zurück und gerät größtenteils in Vergessenheit. Erst mehrere Jahre später kommen neue Hinweise ans Licht, die bestätigen, dass Jack Whicher recht gehabt haben muss…
Der Verdacht des Mr Whicher ist in erster Linie ein Sachbuch, liest sich teilweise aber wie Fiktion. Die einzelnen Zitate, die Kate Summerscale aus Zeitungsartikeln, Interviews und medizinischen Berichten gesammelt hat, werden so geschickt in den Text eingebaut, dass man vergisst, reale Fakten vor sich zu haben und vor allem letzteres macht das Buch für mich so spannend: Alles, was man liest, ist tatsächlich passiert. Die Autorin hat nichts hinzugedichtet, nichts ausgelassen, nichts übertrieben dargestellt. Als Leser fühlt man sich beinahe ins Jahr 1860 versetzt, in dem man den Mord und die Ermittlungen noch einmal hautnah miterlebt.
Bei ihrer Recherche hat Kate Summerscale eine unglaubliche Masse an Informationen gesammelt und sie versucht, so viel wie möglich, in ihr Buch mit einzubauen. Dadurch fokussiert sie sich auch manchmal zu sehr auf Nebenhandlungen, geht intensiv auf Themen ein, die mit dem Kriminalfall nicht so viel zu tun haben und bringt die eigentliche Handlung dadurch ein wenig ins Stocken. Hier meine ich vor allem die Hintergrundinfos zu einigen Personen – Was machten sie zwanzig Jahre nach dem Mord? Wo lebten sie? Als was arbeiteten sie? Wie oft waren sie verheiratet? Alles Dinge, die meiner Meinung nach hätten gekürzt werden können.
Was mich als Literaturstudentin jedoch sehr interessiert und wo es nicht genug Einschübe und Hinweise hätte geben können, ist die Verbindung zwischen Mr Whicher und Autoren wie Charles Dickens, Edgar Allen Poe, Arthur Conan Doyle und Wilkie Collins. Immer wieder werden zwischendurch Beispiele genannt, wie sich die Autoren an dem real-life Detektiv orientiert haben: Welche Charakterzüge hat sich Arthur Conan Doyle für Sherlock Holmes bei Jack Whicher abgeguckt? Wie sehr gleicht die Handlung aus Wilkie Collins‘ Roman Der Monddiamant dem Fall von Road Hill House? Zu wissen, dass sich die Meister der Kriminalliteratur an Saville Kents Mord und dem damit verbundenen Ermittler orientierten, machte Der Verdacht des Mr Whicher noch fünfmal spannender für mich. Fans von Sherlock Holmes, Auguste Dupin und Kriminalfällen allgemein sollten sich dieses Buch nicht entgehen lassen.