Mit einer alten Fliese ins Jahr 1492
Eher ungern und eigentlich nur seiner Mutter zuliebe nimmt Boston an der Klassenfahrt der Spanischschüler seiner Schule nach Granada teil. Er ist ein Einzelgänger, findet nur schwer Anschluss, obwohl er ...
Eher ungern und eigentlich nur seiner Mutter zuliebe nimmt Boston an der Klassenfahrt der Spanischschüler seiner Schule nach Granada teil. Er ist ein Einzelgänger, findet nur schwer Anschluss, obwohl er sich nichts sehnlicher wünscht als dazuzugehören, anerkannt zu werden von seinen Klassenkameraden, die in ihm nur den neunmalklugen Streber sehen. Und so bemüht er sich nach Kräften, seinen Lerneifer, für den er sich beinahe schämt, zu kaschieren und sein Wissen für sich zu behalten – doch leider nutzt ihm das nichts, er ist und bleibt der Junge ohne Freunde!
Und nun noch zwei Wochen Granada! Wie soll er das nur überstehen? Nicht, dass ihn die Stadt nicht interessieren würde, denn das tut sie – und längst hat er sich so viel Wissen angeeignet über die südspanische Stadt, einst die letzte Bastion von „al Andalus“, dem muslimisch-arabischen Königreich, das die Mauren auf der spanischen Halbinsel errichtet und 700 Jahre lang innehatten. Aber alleine zu erkunden macht Boston überhaupt keine Freude! Doch gerade als er sich bei einem Besuch der Alcaicería, dem früheren Seidenmarkt der Stadt, durch den sich heutzutage Touristenströme schieben, von Herzen wünscht, zuhause geblieben zu sein, nimmt die Klassenfahrt für ihn eine geradezu unglaubliche, eine phantastische Wendung: als Boston nämlich am Stand des abergläubischen Straßenhändlers Manuel Corazón eine alte, staubige Fliese berührt, öffnet sich ein Zeitfenster und der schüchterne Junge wird in eine Zeit katapultiert, als Granada das Zentrum der europäischen Politik war, als die „Katholischen Könige“, Isabella von Kastilien und Fernando von Aragón mit der Eroberung des letzten maurischen Königreiches Granada und der Einnahme der Alhambra - dem Symbol für politische Macht und Reichtum, gleichzeitig für Schönheit der Phantasie - und der Vertreibung „Boabdils“, des letzten Maurenherrschers, die Reconquista beendeten und anstelle des hochzivilisierten Spaniens, in dem Wissenschaft und Künste, Architektur und die Heilkunst florierten, in dem darüber hinaus ein reger Austausch zwischen den verschiedenen Religionen – Christen, Juden und Muslime – stattfand, deren Zusammenleben im Übrigen weitgehend konfliktarm verlief, die Inquisition unter dem berüchtigten Torquemada einläuteten, die mit ihrer Schreckensherrschaft zunächst gegen die Juden, dann gegen die Araber und zum Schluss gegen praktisch jeden wütete und Spanien direkt ins finsterste Mittelalter zurückwarf.
Doch noch kündigte sich das kommende Unheil nur durch finstere Wolken am Horizont an, als Boston nun im geschichtsträchtigen Jahr 1492 ankam – verstört, ungläubig, voller Angst, nicht begreifend, was mit ihm geschehen war, und alsbald in das Abenteuer seines Lebens hineingezogen wurde und gar um das nachte Überleben kämpfen musste, hielt man ihn doch aufgrund des Inhaltes seines Rucksacks, unter anderem einen Hochglanz-Reiseführer und ein Handy, für einen Teufelsbündler, auf den der Scheiterhaufen wartete...
Und wären da nicht die beiden Jungen Salomon, Sohn des Juden Isaak, und der Araber Tariq gewesen, der seinen Emir, Boabdil höchstselbst, beim nie stattfindenden Kampf gegen die katholischen Könige unterstützen wollte, und nicht zuletzt Isabella und Fernandos Tochter Johanna, die später als „Johanna die Wahnsinnige“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist, - wer weiß, ob die Zeitreise ein gutes Ende, ja obendrein auch noch die Weltgeschichte, nicht einen ganz anderen Verlauf genommen hätte....
Und wie hätte sich Bostons Abenteuer, eingebettet in die sich überschlagenden geschichtlichen Ereignisse des Jahres 1492, wohl gelesen, wenn es nicht Kirsten Boie, eine der renommiertesten, vielseitigsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen, völlig zu Recht dekoriert mit zahlreichen nationalen und internationalen Auszeichnungen, unter anderem 2007 mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises, geschrieben hätte? Keine recherchiert so sorgfältig wie sie, kaum jemand sonst hebt sich so hervor durch Klarheit und Schönheit der Erzählung, Detailreichtum und dem Schaffen einer unglaublich eindrucksvollen und eindringlichen Atmosphäre.
Der Fantasy-Romane gibt es gar viele, mehr oder minder einfallsreiche, mehr oder minder originelle – und ob ihrer Einförmigkeit auch leider mehr oder minder langweilige. Inzwischen ist, so meine ich, ein gewisser Sättigungsgrad erreicht und man kann sich die meisten Neuerscheinungen, die unter dem Strich wenig Neues zu bieten haben und ein Aufguss von längst hinreichend bekannten sind, im Grunde sparen. „Alhambra“ hingegen, 2007 bei Oetinger erschienen, gehört zu den löblichen, immer seltener werdenden Ausnahmen, besticht durch hohe sprachliche Qualität und durch eine enorm spannende, den Leser mitreißende Handlung, ist eine Mischung aus sehr gut gemachtem Geschichtsunterricht, fußt die Erzählung doch auf den historischen Tatsachen, soweit diese überliefert sind, und Abenteuerroman mit Fantasy-Elementen, die natürlich die Zeitreise selbst ist.
Bis auf die beiden jugendlichen Protagonisten im Granada 1492, Salomon und Tariq, einen freundlichen Mönch und einen gewissen bösartigen Soldaten, dessen Hass ihn zu seltsamen Handlungen verleitet, sind alle Mitwirkenden historische Personen – wobei ich von der Bezeichnung „Persönlichkeiten“ Abstand nehmen möchte! -, mit eben jenen Eigenschaften ausgestattet, die die Geschichtsschreibung überliefert hat, angefangen bei der fanatisch frommen Isabella von Kastilien und ihrem geldgierigen Schürzenjäger-Ehemann Fernando, über den blutrünstigen, sich an seinen eigenen Grausamkeiten weidenden Großinquisitor Torquemada bis hin zu – Cristóbal Colón höchstpersönlich! Letzterer sorgt für aufschlussreiche Auftritte, denn er ist zu Bostons Ankunft gerade dabei, die Majestäten um Ausrüstung seiner Schiffe für die vermeintliche Entdeckung des westlichen Seeweges nach Indien zu ersuchen – und erweist sich dabei als alles andere als Sympathieträger! Im Gegenteil muss es sich bei ihm um einen in Wirklichkeit recht unangenehmen Mann gehandelt haben, von seltener Arroganz und Unverschämtheit und, ähnlich wie Isabella, von einem religiösen Wahn besessen.
Nun, der große Entdecker mit zweifelhaftem Charakter spielt eine gewichtige Rolle in der Geschichte um Bostons unfreiwillige Zeitreise, auf die, um nicht zu viel zu verraten, an dieser Stelle jedoch nicht ausführlicher eingegangen werden soll, genauso wenig wie auf den so logischen wie originellen Ausgang der Geschichte, die ich als Paradestück ihres Genres empfunden habe und vorbehaltlos empfehlen kann!