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Veröffentlicht am 07.09.2024

Klassischer Whodunit mit unbefriedigendem Ausgang

Der Todeswirbel
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Ihren 38. Kriminalroman, der im englischen Original unter dem Titel "Taken at the Flood" veröffentlicht wurde, lässt Agatha Christie – wie gewohnt – im ländlichen England und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg ...

Ihren 38. Kriminalroman, der im englischen Original unter dem Titel "Taken at the Flood" veröffentlicht wurde, lässt Agatha Christie – wie gewohnt – im ländlichen England und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg spielen. Letzteres wiederum ist ungewohnt, ebenso wie die Tatsache, dass die Autorin, deren Charaktere, wie auch in vorliegender Geschichte, gewöhnlich der britischen Oberschicht angehören, die zwar allerhand Probleme haben, sich finanziell aber nie beklagen können, diesmal so deutlich hinweist auf die Unbillen der Nachkriegszeit, wie Nahrungsmittelknappheit, neue, das Leben erschwerende Gesetze, fehlende Arbeitsplätze, die auch die Begüterten und Privilegierten des Landes zu spüren bekamen. Der realistische und nicht geschönte Hintergrund, den sie entwirft, ist schließlich auch verantwortlich für das, was den Charakteren in der zu besprechenden Geschichte widerfährt und was sich mutmaßlich niemals zugetragen hätte, hätte der Krieg sie nicht aus ihrem behaglichen, sorgenfreien Leben herausgerissen...

Aber da sind sie nun, die Mitglieder der Familie Cloade aus Warmsley Vale, ihres Oberhauptes Gordon beraubt, der bei einem Bombenangriff, genauer gesagt dem „Blitz“, in London ums Leben gekommen war und von dem alle finanziell abhängig waren, auf den sich alle in jedweder Notlage verlassen konnten – ermutigt von ihm, dem Patriarchen Gordon höchstpersönlich!

Zum Leidwesen der Familie allerdings überlebte seine junge Frau Rosaleen, eine Witwe, die er kurz zuvor – man kann sich die Empörung von Gordons nichtsnutzigen Verwandten vorstellen! - ganz unerwarteterweise geheiratet hatte. Das schöne Geld – futsch! Denn Gordons Witwe ist nun mal die Alleinerbin – was so schlimm nicht wäre, denn die lässt sich, naiv und liebenswürdig, wie sie ist, leicht anpumpen, was die übrigen Cloades auch ohne Skrupel versuchen. Leider jedoch gibt es da einen gewissen David Hunter, ein zwielichtiger Abenteurer, voller Wut, voller Hass auf die Cloades – und der ist Rosaleens Bruder und wild entschlossen, seine Schwester von den Schmarotzern, als die er sie empfindet und die sie auch sind, wenn wir ehrlich sein wollen, zu schützen. Die Verzweiflung der feinen Familie, von denen jeder einzelne aus den unterschiedlichsten Gründen dringend Geld braucht, kann man sich vorstellen! Und dass da jemand von ihnen – oder allesamt? - Pläne schmieden, sich Rosaleens zu entledigen, auch!

Die Atmosphäre ist zunehmend angespannt, man kann es fühlen – wie immer, wenn die Meisterin der subtilen Spannung, die man unter einer glatten Oberfläche erahnt, am Werk ist.... Und da sie ebenso bekannt ist für überraschende Wendungen, kleine, gemeine Fallen und eine ganze Reihe falscher Spuren, lässt sie einen geheimnisvollen Fremden in Warmsley Vale auftauchen, einen gewissen Enoch Arden, dessen Namen sie Alfred Tennysons Versepos mit dem gleichen Titel, an dessen Handlung sie sich zudem orientiert, entliehen hat. Und jener Fremde deutet an – man hört förmlich die kalten Herzen der Cloades höher schlagen! - ,dass Rosaleens erster Mann, Robert Underhay, noch am Leben sei! Damit wären ja alle Schwierigkeiten beseitigt, nicht wahr? Das riesige Vermögen ihres lebenslangen Wohltäters würde wieder in ihren Taschen landen, dort, wo es, wie sie überzeugt sind, von Rechts wegen auch hingehört... Doch das wäre ja zu einfach – und wie man erwarten darf, legt Agatha Christie nun, nachdem der Leser in einer unspektakulären, actionarmen ersten Hälfte erst einmal die Charaktere in Ruhe kennengelernt hat und hinter ihre glatten Fassaden geschaut hat ( so etwas beherrscht die „Lady of Crime“ bis zur Perfektion! ), endlich richtig los!

Und endlich auch taucht der Meisterdetektiv Hercule Poirot wieder auf, dem man bereits im Prolog begegnen durfte, im Londoner Coronation Club während eines Bombenangriffs den Erzählungen eines gewissen Major Porter lauschend, der ein Freund des, wie jeder glaubte, verstorbenen Robert Underhay gewesen war. Von ihm hörte der belgische Detektiv im Übrigen auch den Namen Enoch Arden, den der Verstorbene in einigermaßen kryptischer Weise dem Major gegenüber erwähnt hatte.

Aber wie dem auch sei, Poirot ist endlich im Spiel – und wird seinerseits von gleich zwei Mitgliedern der Cloade-Familie um Hilfe gebeten, was er allerdings erst dann annimmt, als der Fremde namens Enoch Arden einen unzeitigen Tod von fremder Hand findet! Weitere Tode kann er zwar nicht verhindern, doch dass er die verzwickte Geschichte auflöst, steht für jeden Leser der Agatha Christie-Krimis und sowieso für alle Poirot-Anhänger außer Frage!

Dame Agatha ist eine unübertroffene Kriminalschriftstellerin – auch daran gibt es keinen Zweifel! Die meisten ihrer Geschichten sind hervorragend, intelligent, spannend, verzwickt – und immer clever ersonnen und in einer geschmeidigen, stets gehobenen Sprache geschrieben. Andere sind intelligent, spannend, verzwickt – ohne großartig zu sein. Einige wenige sind zu all den bereits erwähnten Attributen ärgerlich und unbefriedigend. Leider gehört „Taken at the Flood“ beziehungsweise in der amerikanischen Ausgabe „There ist a Tide...“, einem Vers entnommen aus Shakespeares Drama „Julius Caesar“, zur letzten Kategorie!

Woran liegt das, habe ich mich während der Lektüre immer wieder gefragt. Wieso bin ich einfach nicht recht vorangekommen und wurde auch nicht, wie sonst bei Dame Agathas Büchern üblich, von Spannung oder doch wenigstens Neugierde gepackt? Die Geschichte hat alles, was Mrs.Christies Bücher ausmacht – und dennoch! Es sind die Charaktere, die mich stören, habe ich schließlich entschieden! Es verärgerte mich ihre Selbstherrlichkeit, ihre Geringschätzigkeit des Onkels Witwe gegenüber, die sie dennoch gnadenlos auszunehmen versuchen, ihre offensichtliche Lebensuntüchtigkeit ohne die schützende Hand des Familienoberhauptes. Sie sind schlechte Menschen, die Cloades, punktum! Jeder einzelne von ihnen. Und das trifft auf viele der unzähligen Figuren der berühmten Schriftstellerin zu, ist also per se nichts Ungewöhnliches. Doch die Art und Weise, wie sie mit denjenigen, die uns hier begegnen, verfährt, die Milde, die sie ihnen unverdienterweise zukommen lässt – die ist höchst ungewöhnlich und befremdlich. Diese Milde geht am Ende sogar so weit, dass ein direktes Verbrechen und eines, das durch Egoismus und Manipulation indirekt verschuldet wurde, ganz einfach unter den Teppich gekehrt werden – von dem gerechtigkeitsliebenden, unbestechlichen Hercule Poirot höchstpersönlich! Was mag sich Agatha Christie dabei gedacht haben? Und – was mag sie sich darüber hinaus bei dem Epilog, den letzten drei Seiten ihres Buches, auf die ich hier allerdings nicht näher eingehen kann, ohne die Lösung des Falles zu verraten, gedacht haben, der so manchen Leser ganz entsetzt zurücklässt und ihn an dem Verstand der Dame zweifeln lässt?

Dass dieses eines der schwächsten, vielleicht sogar das schwächste der vielen Bücher der mit Recht hochgelobten Schriftstellerin ist, war mir durchaus klar, als ich es nach vielen vielen Jahren wieder gelesen habe – in der Hoffnung, es heute mit anderen Augen lesen zu können. Diese Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt – ganz im Sinne des blitzgescheiten, hier aber etwas trägen Meisterdetektivs Poirot, der weiß, dass sich einige Dinge nie ändern...

Veröffentlicht am 06.09.2024

Die Wiederauferstehung des Bösen

Harry Potter und der Feuerkelch (Harry Potter 4)
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War der direkte Vorgängerband „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ (engl. Originaltitel „Harry Potter and the Prisoner of Azkaban“) zwar schon deutlich unheimlicher als die ersten beiden Bücher ...

War der direkte Vorgängerband „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ (engl. Originaltitel „Harry Potter and the Prisoner of Azkaban“) zwar schon deutlich unheimlicher als die ersten beiden Bücher aus der Harry Potter Serie, so stellte er doch so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm dar. Was die jungen Leser und überhaupt die gesamte Fangemeinde des Jungen mit der gezackten Narbe auf der Stirn in vorliegendem, im Jahre 2000 erschienenen Roman „Harry Potter und der Feuerkelch“ (engl. Originaltitel „Harry Potter and the Goblet of Fire“) zu lesen bekommen, kann einem schon den Atem stocken lassen denn es lässt das Böse in Gestalt des grässlichen Lord Voldemort alias Tom Riddle, dem Mörder von Harrys Eltern und unzähligen anderen Zauberern und Nicht-Zauberern, die in der magischen Welt der Joanne K. Rowling 'Muggle' heißen, dauerhaft präsent sein, bis der 'Dunkle Lord' schließlich in einem thrillerhaften Finale endgültig wieder aufersteht.
Ja, zweifellos ist dieses Finale der grausige Höhepunkt dieses vierten Bandes und leitet darüberhinaus die wahrhaft dunklen Zeiten ein, die über die Zaubererwelt hereinbrechen und auch die der Muggle nicht verschonen werden. Aber auch davor ist von der trotz aller Gefahren, die Harry und seine Freunde Ron und Hermine bestehen mussten, heimeligen Atmosphäre, die über dem Internat Hogwarts schwebte, nurmehr ein Hauch übriggeblieben, denn bereits bevor Harry und die anderen sich nach mehr als 160 Seiten endlich mit dem Hogwarts Express auf den Weg zur imposanten Schule für Zauberei, irgendwo verborgen im schottischen Hochland, machen, bekommen sie eine Ahnung von dem, was da im Anzug ist, hätten sich, genau wie die Leser, aber wohl nicht träumen lassen, dass die Ereignisse, die ihrer harren, ihr Leben – und das der gesamten Welt der Hexen und Zauberer – entscheidend verändern würden. Nicht nur beginnt Harrys Narbe in den Sommerferien, die er, daran führte nun einmal kein Weg vorbei, erneut bei den ignoranten, verhassten Dursleys zu verbringen hat, aufs Heftigste an zu schmerzen - die Verbindungen zu dem Superbösen, der sie ihm vor inzwischen 13 Jahren beigebracht hatte, werden immer offensichtlicher -, sondern während der mit Spannung erwarteten Quidditch-Weltmeisterschaft, zu der Harry zu seiner Riesenfreude und dem Entsetzen seiner Anverwandten von den Weasleys lange vor Ferienende abgeholt wird, geschieht etwas, das denen, die Augen, Ohren und ein funktionierendes Gehirn haben, zukünftiges Unheil verkündet.
Und dabei sollte Harrys viertes Jahr in Hogwarts doch etwas ganz Besonderes werden, etwas, von dem man noch lange erzählen würde, denn nach Jahrhunderten hat man sich entschlossen, das Trimagische Turnier wieder stattfinden zu lassen, bei dem ausgewählte Schüler aus Hogwarts und den beiden anderen Zaubererschulen Durmstrang und Beaubatons in drei so schwierigen wie gefährlichen Aufgaben gegeneinander antreten würden – auf dass der Beste in einem fairen Turnier den Trimagischen Pokal zur Ehre seiner Schule gewinnen möge! Die Vorfreude ist groß, obschon wegen des Turniers die vielgeliebten Quidditch-Wettkämpfe ausgesetzt werden würden, was vor allem Harry, der Star seiner Mannschaft, bedauert. Doch sollte er im Verlauf der Ereignisse keine Zeit haben, seinem Lieblingssport nachzutrauern, denn der Feuerkelch, in dem die Namen aller über 17 Jahre alten Bewerber für das Turnier gesammelt waren, spuckt bei der Endausscheidung nicht nur ordnungsgemäß die Namen der drei Champions aus, sondern, als man diese schon feiern wollte, zur Verblüffung und leider auch Wut aller – auch Harrys Namen! Harry, der sich nie beworben hatte, der am liebsten davongerannt wäre oder sich doch wenigstens in einem Mauseloch versteckt hätte, ist also der völlig unvorhergesehene vierte Champion. Und was das Schlimmste ist – es gibt kein Entrinnen, denn der Kelch hatte ja gesprochen!
Nun beginnt, man kennt das ja von ihm, dem Jungen, der überlebte, den alle kennen, aber deshalb noch lange nicht lieben, dem so viel Neid und Gehässigkeit entgegengebracht worden war, seitdem er den Dursleys entflohen war und in Hogwarts aufgenommen wurde, eine weitere schwere, einsame Zeit an dem Ort, der Harry doch der liebste ist, der Platz, an dem er zu Hause ist. Offene Abneigung schlägt ihm entgegen, niemand glaubt ihm, dass er völlig ohne eigenes Zutun Kandidat des Trimagischen Turniers geworden ist, man meidet ihn, verhöhnt ihn – doch den Spott der gesamten Schule hätte er irgendwie ertragen können, seinen Widersachern hätte er trotzen können mit den beiden besten Freunden, die man haben kann an seiner Seite: Ron und Hermine. Und ja, auf die treue Hermine mit dem klugen Kopf auf den Schultern ist Verlass, wie man sich auf sie immer hat verlassen können, aber ausgerechnet Ron, der Mensch, dem sich Harry am nächsten fühlt, für den er in jeder Lebenslage die Hände ins Feuer gelegt hätte, kündigt ihm die Freundschaft. Aus Enttäuschung, denn er glaubt Harry nicht, aber auch, wie Hermine gut erkannt hat, aus brennender Eifersucht! Er, der jüngste Bruder der zahlreichen Weasley-Geschwister, der sich nie durch irgendetwas ausgezeichnet hat, der immer im Schatten des berühmten Freundes gestanden hat, kann es nicht länger ertragen und seine schlimmen Gefühle brechen sich heftig Bahn. Sehr menschlich ist das, sehr verständlich – wenn es nicht ausgerechnet Ron gewesen wäre, Harrys Stütze, sein Mitstreiter, derjenige, der bisher alles mit ihm getragen hat. Im Vorfeld des Trimagischen Turniers ist Harry so unglücklich, so einsam wie nie zuvor in seinem geliebten Hogwarts. Noch dazu ist da die Angst vor der ersten Aufgabe, seine Befürchtung, dass er das Turnier niemals lebendig überstehen kann, gepaart mit der sorgenvollen Frage, welcher mächtige Zauberer und warum um Himmels Willen den Kessel überlistet und seinen Namen ins Spiel gebracht hat, im Klartext, wer ihm schaden oder vielleicht sogar tot sehen möchte....
Kein Zweifel, auch der vierte Band der Harry Potter Reihe hält, was seine Vorgänger versprochen haben! An Spannung hatte es gewiss keinem der drei ersten Bänden gefehlt, genausowenig wie an kreativen und ausgefallenen Ideen, die bei der Autorin Joanne K. Rowling offensichtlich aus einer nie erschöpfenden Quelle sprudeln. Für jede Menge Abwechslung sorgt sie zudem, immer die wahre Welt im Blick habend, angelehnt an Trends, die in derselben auftauchen, gerade en vogue sind und dann auch wieder verschwinden – in der Zaubererwelt halte ich sie nicht für nötig, vor allem nicht, wenn die Britin ihre Hermine penetrant und irgendwie fehlgeleitet für die Freiheit der Elfen kämpfen lässt, die diese gar nicht wünschen, weil sie nicht ihrem Naturell entspricht. Auf die unsäglichen B.E.L.F.E.R.-Einschübe hätte ich gut verzichten können, erinnern sie mich doch an die Woke-Bewegung, die sich der Behebung von Missständen verschrieben hat und dabei nicht selten über das Ziel hinausschießt.
Besonderes Vergnügen scheint Harrys geistiger Mutter aber auch an der Erschaffung ausgesprochen widerwärtiger Figuren zu haben, die einzig zu dem Zwecke da sind, der vielgeprüften und -geplagten Hauptfigur das ohnehin nicht leichte Leben noch schwerer, geradezu unerträglich zu machen. Niemand leidet so stark unter den Gehässigkeiten des Lehrers für Zaubertränke, dem schmierigen, sadistischen, undurchsichtigen Snape, ehemaliger 'Todesser', also Anhänger des Lord Voldemort, dessen Namen man nicht über die Lippen bringt. Niemand sonst wird so malträtiert von dem widerwärtigen Draco Malfoy und seinen tumben Kumpanen wie er, Harry. Und als wäre es noch nicht genug, den zornigen, aufbrausenden Jungen einer Sache auszusetzen, die ihn in tödliche Gefahr bringen kann und soll und wird, wie wir lesen werden – jetzt taucht auch noch eine Kreatur wie die abscheuliche Rita Kimmkorn auf, ihres Zeichens aufdringliche und verlogene Reporterin der Zaubererzeitung 'The Daily Prophet', und sorgt für großes Ungemach mit ihren Sensationsgeschichten, die von vorne bis hinten erstunken und erlogen sind – und das meiste davon zu Harrys Nachteil! Nein, Mrs. Rowling, hier haben Sie meines Erachtens über die Stränge geschlagen, was Sie, wie wir im 5. Band sehen werden, noch zu übertrumpfen versuchen. Alles Leid auf Harry zu konzentrieren ist nicht gut, ist weder der Figur noch der Geschichte bekömmlich, deren erste drei Bände ich ohne Einschränkung so genial wie witzig, spannend, anrührend und fesselnd empfunden habe. Dass Harry ein ganz spezielles Kind ist, weiß man schon lange, sonst hätte er die seelischen Misshandlungen der Familie Dursley nicht heil oder doch wenigstens, soweit ich das beurteilen kann, ohne größeren Schaden überstanden. Das tut er schließlich auch während der immer gefährlicher werdenden Prüfungen in Hogwarts, die ihn allerdings seine Liebenswürdigkeit, seine Lebensfreude verlieren lassen, peu a peu, bis wir ihn im Abschlussband als bitteren, verbitterten, freudlosen und zutiefst unglücklichen jungen Mann erleben.
Ja, auch im 'Feuerkelch' darf der Junge schöne, wenn auch viel zu kurze Stunden der Unbefangenheit erleben – aber kann letztere nach dem, was am Ende auf ihn wartet, überhaupt wiederkehren? Ist sie nicht tot für alle Zeiten? Schon beim Vorgängerband hätte ich gezögert, ihn einem Leser unter 10 Jahren in die Hand zu geben, jetzt aber hört die Harry Potter Serie auf, ein Buch für junge Leser zu sein, zu viele grausame Szenen, zu viel Düsternis beherrschen die Handlung. Vielleicht ganz gut, dass schon zehn- bis zwölfjährige deutsche Leser, der englischen Sprache nur rudimentär mächtig, voller Eifer gerade die Originale lesen, die sie nur zu einem geringen Prozentsatz verstehen können. Beruhigend! Denn das meiste wird ihnen dabei zu ihrem Glück entgehen....

Veröffentlicht am 01.09.2024

Ritterin ohne Furcht und Tadel

Igraine Ohnefurcht
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Dass Jungen in einem bestimmten Alter sich sehr für Ritter interessieren und in ihrer Phantasie so manche heldenhaften Kämpfe ausfechten und an Turnieren teilnehmen, aus denen sie selbstverständlich als ...

Dass Jungen in einem bestimmten Alter sich sehr für Ritter interessieren und in ihrer Phantasie so manche heldenhaften Kämpfe ausfechten und an Turnieren teilnehmen, aus denen sie selbstverständlich als Sieger hervorgehen, ist heute noch genau so wahr wie zu der Zeit, als Ritterromane in Mode kamen! Eine männliche Domäne, möchte man meinen, oder doch nicht? Cornelia Funke jedenfalls hat in ihrem 1998 erschienenen, von ihr selbst – gelungen, muss man hinzufügen – illustrierten Fantasyroman die Ritterträume in den Kopf eines 12jährigen Mädchens verpflanzt – Igraine! Sie lebt mit ihrem Bruder Albert und ihren Eltern, der schönen Melisande und Sir Lamorak, auf Burg Bibernell. Alle vier sind einander von Herzen zugetan, gehen so liebevoll wie respektvoll miteinander um, scheinen alles in allem eine normale, ganz alltägliche Familie zu sein, und in den Kabbeleien zwischen Igraine und Bruder Albert können sich gewiss viele junge Leser wiederfinden. Was sie allerdings von deren Familien unterscheidet, ist die klitzekleine Tatsache, dass Igraines Eltern meisterhafte Zauberer sind und dass Albert ihnen mit leidenschaftlichem Interesse nacheifert (auch wenn es ihm einfach nicht gelingen möchte, vernünftiges Essen herbeizuzaubern!). Ganze Tage am Stück sind die Drei mit ihren Zauberbüchern beschäftigt, die, nebenbei bemerkt, ein ganz eigenes Leben haben, die oft übellaunig sind, maulen, dann wieder singen, sich ganz ihrer Bedeutung für die Zauberkünste der Bewohner von Bibernell bewusst!
Und Igraine? Die langweilt sich derweil, wenn sie nicht gerade der Nachbarburg Düsterfels einen Besuch abstattet, dort verbotenerweise das Pferd der Besitzerin reitet oder zu Hause in Bibernell ihre freundlichen Schlangen füttert, die den Burggraben bevölkern. Wie sehnt sie sich danach, in die Fußstapfen ihres Vorbildes, des Urgroßvater Pelleas, zu treten! Der nämlich war ein mutiger Ritter und hatte in Turnieren gekämpft. Zaubern? So wie das die Eltern und der Bruder tun? Das ist nichts für sie!
Und wirklich – ihre Chance, die eigene Kühnheit, von der sie reichlich besitzt, unter Beweis zu stellen, kommt bald. Die schöne Melisande macht beim Zaubern des Geburtstagsgeschenkes für die Tochter einen Fehler und verwandelt sich und Ehemann Sir Lamorak in – Schweine! Äußerst liebenswerte Schweine, nebenbei gesagt. Aber was hilft das, wenn sie als solche nun nicht mehr zaubern können? Ein Gegenmittel muss her, und dafür brauchen sie dringend die Haare eines Riesen. Igraine bietet sich an, die Reise ins Land ebendieser Riesen anzutreten und die Zutaten für das Zaubermittel zu beschaffen, doch muss sie sich sputen, denn Finsteres braut sich drüben auf Burg Düsterfels zusammen! Dort hat sich inzwischen der Möchtegern-Zauberer Osmond (in den ersten Auflagen unter dem Namen Gilgalad bekannt) mit seinem noch düstereren Stachligen Ritter eingenistet und ist nun im Begriff, auch Bibernell einzunehmen, um endlich, endlich in den Besitz der launischen magischen Bücher zu gelangen, die ihn zum größten Zauberer aller Zeiten machen sollen.
Albert ist nun derjenige, der während Igraines Abwesenheit Bibernell verteidigen muss, das zum Glück mit vielen magischen Zaubern geschützt ist, die nicht so leicht zu überwinden sind. Als Igraine dann schließlich zurückkehrt, ist die Burg kaum noch zu halten. Doch kommt sie nicht alleine, sondern hat den Traurigen Ritter mitgebracht, der ihr vom Riesen als Begleiter und Beschützer zur Seite gestellt worden ist. Und dieser edle und tugendhafte Mann, ein wahrer Ritter vom Scheitel bis zur Sohle, bewährt sich ebenso wie sein Schützling, der ob seiner Tapferkeit und List im Kampf gegen Osmond und den Stachligen Ritter gar zu seinem Knappen aufsteigt.
Nach so spannenden wie erheiternden und unvorhergesehenen Entwicklungen und nicht zuletzt der Rückverwandlung der Eltern endet die Geschichte, ein herrliches Abenteuer, das voller Action ist und vor witzigen Einfällen geradezu funkelt, die aber gleichzeitig auch Anlass zum Nachdenken bietet, so wie sie enden muss – mit dem Sieg des Guten über das Böse. Und Igraine hat ein neues Vorbild, den Traurigen Ritter, der unterstützt von dem ungewöhnlichen Mädchen mit dem starken Charakter seinen eigenen Kampf kämpft und zum Schluss auch wieder lachen kann!
„Igraine Ohnefurcht“, direkt nach „Drachenreiter“ geschrieben, ist ein weiteres Buch der längst international bekannten deutschen Schriftstellerin mit ehemaligem Wohnsitz an der Westküste in den Vereinigten Staaten, jetzt aber beheimatet in der Toskana, Cornelia Funke, das die Leser, die ganz jungen ebenso wie die älteren, sofort in seinen Bann zieht. Staunenswert die anscheinend unerschöpfliche Phantasie der Autorin, die darüberhinaus auch noch fesselnd zu schreiben versteht, deren gewandter Stil und differenzierte Sprache, die sich niemals unflätiger Ausdrücke bedient, auch den anspruchsvollsten Leser über die Maßen erfreut.
Mit Igraine hat sie eine nicht alltägliche Hauptfigur geschaffen, eine, die nicht nur überkommene Rollenbilder aufweicht, sondern auch noch uneingeschränkt sympathisch ist; sie vereinigt so viele positive Attribute in sich und bleibt dabei so herrlich normal und völlig unprätentiös, so dass sie eine sehr taugliche Identifikationsfigur abgibt, ein Vorbild, von dem es gar nicht genug geben kann. Zum Glück für die Leser ist die Autorin nicht bei ihrer ursprünglichen Absicht geblieben, Igraines Geschichte nicht länger als 60 Seiten werden zu lassen, denn, so Funke selbst, die Geschichte verselbständigte sich und wollte einfach kein Ende nehmen, weil eine Situation die andere ergab und ein Einfall auf den nächsten folgte.
Dass die Autorin selber großen Spaß beim Schreiben dieses Buches hatte, ist aus jeder Zeile spürbar – und diese Begeisterung überträgt sich unmittelbar auch auf den Leser. Genau so müssen wirklich gute Kinder- und Jugendbücher sein, so eben wie „Igraine Ohnefurcht“, die einen prominenten Platz auf jedem Bücherregal haben sollte!

Veröffentlicht am 03.03.2024

Alltag in Zeiten des Krieges

Margherita und der dunkle Widerschein der Welt
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Wie die Inhaltsbeschreibung verrät, entschließt sich die über 80-jährige Margherita Civitella, Tochter eines in Großbritannien zu Wohlstand gekommenen Italieners und einer englischen Bischofstochter, davon ...

Wie die Inhaltsbeschreibung verrät, entschließt sich die über 80-jährige Margherita Civitella, Tochter eines in Großbritannien zu Wohlstand gekommenen Italieners und einer englischen Bischofstochter, davon zu erzählen, wie sie als junges Mädchen, gerade 13 geworden als der Zweite Weltkrieg mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen begann, die Kriegsjahre erlebt hat. Vorliegendes Buch ist der erste Teil einer offensichtlich auf mehrere Bände angelegten Serie und ihre Erinnerungen im hier zu besprechenden Band beziehen sich auf die Zeit vom September 1939 bis zum Ende des Jahres 1940.
Sehr klar sind sie, diese Erinnerungen, sehr detailliert, wie man das nicht selten bei alten Menschen findet, besonders dann, wenn es dabei um eine Zeit geht, die lebenseinschneidend, lebensverändernd war und die eine ganze Generation um ihre Jugend betrogen, ein normales, sorgloses Heranwachsen und Erwachsenwerden verhindert hatte, sofern letzteres überhaupt erreicht wurde. Und das war bei genügend jungen Frauen, vor allem aber bei Millionen junger Männer, die zunächst voller Begeisterung und Patriotismus in einen von Wahnsinnigen – denn das sind Kriegstreiber immer und ausnahmslos! - angezettelten Krieg zogen, nicht der Fall!
Nun, wie wir alle wissen, sofern wir uns für dieses wohl düsterste Kapitel deutscher Geschichte interessieren, war mit dem Überfall auf Polen 1939 zwar klar, dass da ein Krieg begonnen hatte, aber während der ersten Monate herrschte noch die Ruhe vor dem Sturm, in Deutschland sowie natürlich in Südostengland, dem Hauptschauplatz dieses Romans. Eine trügerische Ruhe freilich, denn außerhalb des Landes, auf See, waren bereits die ersten Opfer zu beklagen, die sich zu Beginn des Folgejahres während der Luftschlacht um England vervielfältigen sollten. Noch aber herrschte Ruhe im Land, das Leben ging mit verschmerzbaren Einschränkungen weiter und auf die gewohnten Vergnügungen, wie Kino und Tanzen, musste erst einmal nicht verzichtet werden.
Darüber mögen die einen, die mit Vernunft und Verstand Gesegneten, froh gewesen sein, die anderen, vorwiegend junge Männer, erfüllt von einem für die junge Generation heute unverständlichen Patriotismus, aber enttäuscht, denn, idealistisch wie sie waren, wollten sie am liebsten sofort in den Krieg ziehen, um Hitler den Garaus zu machen oder, je nachdem, aus welchem nationalen Blickwinkel man es betrachtet, Europa und die Welt zu erobern, für den Führer! Man bekommt geradezu eine Gänsehaut, wenn man über diese Begeisterung des Beginns am Anfang der Geschichte liest....
Da uns Margherita ausführlich an ihrem Familienleben teilhaben lässt, wissen wir, dass auch ihr älterer Bruder Gino ganz erpicht darauf war, zu kämpfen und sich alsbald in der Royal Air Force als Pilot ausbilden ließ, nicht ahnend, mit welchen Desillusionen er schon bald zu kämpfen haben würde. Seine Freunde, bis auf den rationalen Sonny, waren da nicht anders, hatten aber weniger Glück in Bezug auf eine militärische Karriere als der schneidige Gino. Was sich ja vielleicht als lebensrettend erweisen würde... Dem jungen Danny, deutscher Jude, der von seiner Familie rechtzeitig, wie sie meinten, in England in Sicherheit gebracht wurde, jedoch wurde deutlich klargemacht, dass sein Einsatz für England nicht erwünscht war. Ironie der Geschichte, die sich ein ums andere Mal wiederholt hat und das noch immer tut: der vermeintlich sichere Hafen ist genau das nicht! Man will sie nicht, die Fremden, die Geflüchteten. Man schiebt sie ab, interniert sie, schickt sie in Camps, die nichts anderes sind als Gefangenenlager, schafft sie außer Landes – und viele müssen mit dem Leben bezahlen.
Manche Leser, mich eingeschlossen, werden erstaunt über das gewesen sein, was wir über das Schicksal der Flüchtlinge und der Nicht-Briten in England, von denen viele längst in der fremden Heimat sesshaft geworden waren, erfahren haben. Ganz sicher aber betroffen, denn am Misstrauen bis hin zur offenen Feindseligkeit Fremden gegenüber hat sich bis heute nichts geändert, nicht in England, nicht in Deutschland und vermutlich nirgendwo!
Überhaupt ist das Buch, sind Margheritas Erinnerungen nicht nur interessant und spannend zu lesen, sondern darüberhinaus informativ und lehrreich, ob es nun die eben erwähnte Behandlung der Emigranten betrifft oder auch der Dienstboten in jenen Zeiten oder militärische Einzelheiten, die Bildung von Bürgerwehren, die beginnenden Rationierungen und neuen Vorschriften oder das, was einen wichtigen Raum in diesem ersten Teil einnimmt – das Internatsleben nämlich, das auf jemanden, der so etwas gar nicht oder nur aus maßlos verklärenden Kinderbüchern kennt, die eine Zeitlang mit Vorliebe in Internaten angesiedelt waren, ziemlich schockierend wirken mag. Ein Leben voller Zucht und Ordnung und so, wie man sich ein Kasernenleben vorstellt. Gefühle zeigt man nicht, mit Schmerzen und Verletzungen geht man stoisch um und macht im Übrigen alles mit sich selbst aus. In der Tat, auf den ersten Blick wirkt diese so englische Einrichtung mehr als abschreckend, aber wenn man zu seinem Erstaunen Margherita sagen hört, dass ihr eigenes Mädcheninternat ihr zweites Zuhause sei und allmählich tiefere Blicke in diese Institution und ihren Alltag wirft, modifiziert man vielleicht seine anfängliche Abneigung... Dem aber soll an dieser Stelle nicht vorgegriffen werden!
Betrachten wir stattdessen die Art und Weise, auf die uns der Autor an Margheritas Erinnerungen teilhaben lässt, uns geradezu mit hineinnimmt in ihre Gedanken und Beobachtungen! Der Ich-Erzählerin ist die anfangs 13-jährige mühelos abzunehmen. Ein Kind noch in ihrer Einschätzung von etwas, das sie weder recht versteht noch gar abschätzen kann (womit sie schließlich nicht alleine war, denn wer konnte das schon in jenen frühen Monaten des Weltensturms?). Doch blickt sie immer wieder voraus, greift den Ereignissen vor in ihrer Erzählung, um das, was sie viel später erst versteht, mit dem zu verknüpfen, was sich ereignet hat in den Jahren 1939 und 1940. Ebenso glaubwürdig und sehr feinfühlig geschildert wird der Reifeprozess, den Margherita in dieser Zeit durchläuft, die Wandlung vom Kind zum Teenager oder Backfisch, wie man dieses mitunter schwierige Stadium damals nannte, diese Veränderung ahnend, spürend, aber noch nicht recht begreifend, dabei erstaunlich unwissend in den Dingen des Lebens und viel kindlicher als Gleichaltrige heutzutage!
Sehr gut gemacht ist das, mich geradezu begeisternd. Und wenn dann die Geschichte auch noch in einer Sprache abgefasst ist, an der ich nicht den geringsten Makel finden und die ich nur als verführerisch schön bezeichnen kann, dann weiß ich, dass ich hier einen guten, einen sehr guten, tiefgründigen, authentischen, bis in die kleinsten Einzelheiten stimmigen Roman gelesen habe, der haargenau so ist, wie ich das von Büchern erwarte, aber leider immer seltener bekomme – und auf dessen Fortsetzung ich ungemein neugierig bin!

Veröffentlicht am 03.03.2024

Alte Liebe rostet nicht?

Die verschollene Bernsteinkette
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Skizzenhaft mutet es an, das kleine Büchlein, das Robert Mitterwallners Erstling ist. Im Anschluss an die Lektüre kann man lesen, dass der Autor seine schriftstellerische Tätigkeit mit Tagebuchaufzeichnungen ...

Skizzenhaft mutet es an, das kleine Büchlein, das Robert Mitterwallners Erstling ist. Im Anschluss an die Lektüre kann man lesen, dass der Autor seine schriftstellerische Tätigkeit mit Tagebuchaufzeichnungen begonnen hat – und genauso kommt mir die Geschichte auch vor! Tagebuchaufzeichnungen allerdings, die nicht nur von dem ein wenig verloren wirkenden, suchenden, ziemlich einsamen und ratlosen Protagonisten Alex verfasst wurden, sondern vielmehr abwechselnd von all jenen, die an dem Vorfall vor 40 Jahren, den eben jener Alex im Jahre 2016 wieder aufrollt, um endlich ein altes, über die Jahre vergessenes Rätsel zu lösen, das plötzlich wieder gegenwärtig wird, als Alex Tochter sich in den Sohn der Hamburger High Society Dame Anne verliebt, die zu der Gruppe von fünf jungen Leuten gehörte, die im Sommer 1976 gemeinsam ihre Ferien auf Sylt verbrachten, die mit dem Verschwinden einer weiteren jungen Frau, Tina, abrupt endeten, in die Alex seinerzeit verliebt war. Nur halbherzig, wie es mir scheint, hatte dieser versucht, Tina zu finden – um sie wenig später zu vergessen. Wie das nun einmal so ist, wenn man jung ist und das ganze Leben noch vor sich hat. Normalerweise. Ausnahmen mag es geben, aber sie sind so selten wie jene blaue Blume der frühen Romantiker.
Das genau aber ist die Crux an der Sache! Kann man einen Menschen über einen so langen Zeitraum vergessen, um sich dann plötzlich wieder an die, sicherlich nicht lange, Zeit der Verliebtheit erinnern, die längst vorbei ist, überdeckt von einem, wie man den Eindruck bekommt, durchaus erfüllten Leben an der Seite einer Frau, die man liebt, bis sie dann verstarb? Ist es die Einsamkeit, die Sehnsucht nach einer neuen Partnerschaft, die längst vergessene Gefühle zu einem längst vergessenen Menschen wieder hochkommen und sich regelrecht daran festbeißen lässt? Denn Alex lässt nichts unversucht, spannt die nicht gerade begeisterten flüchtigen Bekannten von damals, denn mehr waren sie nie und sind sie auch heute nicht, ein, um Tina aufzuspüren und herauszufinden, was denn eigentlich mit ihr geschehen ist und ob sie überhaupt noch lebt.
Der Leser weiß bereits mehr, ist Alex voraus, der inzwischen seine Tochter und deren Freund, zwei obercoole, aber gutmütige, wenn auch lethargische 'Chiller', gebeten hat, Internetanzeigen auf der ganzen Welt aufzugeben, um über eine unverwechselbare Bernsteinkette, Alex Geschenk an die damals Angebetete (warum sollte sie die noch tragen, frage ich mich, überschätzt Alex die eigene Wichtigkeit nicht gar zu sehr?), Tinas Aufenthaltsort ausfindig zu machen.
Und so, wie die Tagebuchaufzeichnungen, wie ich sie weiterhin nennen möchte, wechseln, so wechseln auch die Schauplätze: von München nach Hamburg, nach Sylt, nach Berlin – und nach Neuseeland, denn dort.... Man kann es sich denken, und auch vermuten, wie die Geschichte ausgehen wird!
Durch die Kürze des Romans und die ständig wechselnden Schauplätze und Perspektiven sind es eigentlich nur Streiflichter einer Geschichte, die uns der Autor sehen lässt. In die Tiefe blicken wir nicht, wobei ich mutmaße, dass es da auch wenig auszuloten gibt, bei keinem der Fünf, so wie der Autor sie angelegt hat, und schon gar nicht bei Alex Studententochter Elsa und Annes Tagträumersohn Paul. Schade, denn ich mag es gerne tiefgründig und facettenreich – und wenn schon große Gefühle, dann aber richtig und konsequent und nicht so lauwarm dahinplätschernd, freilich mit einem paukenschlagartigen Happy End, das vierzig Jahre einfach wegwischt und das mich dann doch umhaut, mir zuviel ist, das schlicht und einfach zu dick aufgetragen wurde, der die ganze Zeit über durch Nüchternheit ersetzten Romantik wegen, die bei einem solchen Ende eigentlich im Vorfeld angebracht gewesen wäre.
Zudem – Tinas Geschichte, wie wir sie allmählich erfahren, kam mir sehr wenig realistisch, sehr konstruiert vor, gar nicht nachvollziehbar, zumal ich mir für ihre Probleme die eine oder andere schlüssigere Lösung gut, besser, hätte ausmalen können.
Aber nun - „Die verschollene Bernsteinkette“ ist ein Erstlingswerk, ein trotz meiner Kritik passables, und daher mit Wohlwollen zu betrachten! Im Übrigen könnte ich mir vorstellen, dass aus den 'Tagebuchskizzen' ein richtig guter, detaillierter, in die Tiefe gehender, vielschichtiger Roman hätte werden können – oder noch werden kann? - , denn die Zutaten, die einen solchen Roman ausmachen, sind alle bereits vorhanden, aber, sozusagen, noch nicht so miteinander verarbeitet, dass sie sich voll entfalten können! Und es wäre nicht das erste Mal, dass aus einer 'Vorübung', einem Ausloten, schließlich etwas ganz Großes und Großartiges entsteht....