Verstörend und zugleich brillant
"Alles kommt aus dem Nichts, und alles verschwindet im Nichts. So lautet das Prinzip des Wabi-Sabi."
Ingrid lebt und arbeitet seit fünf Jahren auf dem Kreuzfahrtschiff „WA“. Mal verkauft sie im Souvenirshop ...
"Alles kommt aus dem Nichts, und alles verschwindet im Nichts. So lautet das Prinzip des Wabi-Sabi."
Ingrid lebt und arbeitet seit fünf Jahren auf dem Kreuzfahrtschiff „WA“. Mal verkauft sie im Souvenirshop irgendwelchen Tinnef, mal hat sie die Aufsicht am Pool, mal lackiert sie den Gästen im Beautysalon die Nägel. Wenn Ingrid zwischendurch Landgang hat, endet der regelmäßig in einem kapitalen Besäufnis. Und wenn sie sich nach Geborgenheit sehnt, spielt sie mit ihren Lieblingskolleg*innen Familie. So weit, so eintönig.
Dann jedoch wird Ingrid von Keith, seines Zeichens nicht nur Kapitän des Schiffs, sondern auch eine Art selbsternannter Guru, für ein befremdliches Mentoringprogramm ausgewählt (um nicht zu sagen: ausERwählt). Seine Bedingung: Ingrid muss sich intensiv mit ihrer Vergangenheit, mit allen Ereignissen, die sie letztlich auf dieses Schiff gespült haben, auseinandersetzen. Und das ist nicht nur überaus bizarr, sondern für Ingrid auch äußerst schmerzhaft (nicht nur in seelischer Hinsicht). Je weiter das fragwürdige Programm fortschreitet, umso mehr bröckelt Ingrids eh nicht besonders stabile Fassade – und merkwürdigerweise auch die des Schiffes.
Selten hat mich ein Roman so fasziniert und zugleich verstört wie dieser, und das aus folgendem Grund:
Natürlich lässt sich „Die Odyssee“ (aus dem Englischen von Eva Bonné) als genau das lesen, was ich beschrieben habe (bzw. was auch der Klappentext in etwa wiedergibt).
Doch mich ließ während der gesamten Lektüre das Gefühl nicht los, dass es so simpel nicht ist bzw. nicht sein kann. Wird hier wirklich nur von einer einsamen, verlorenen Frau, die auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitet, erzählt? Ist Keith wirklich nur ein Kapitän mit abwegigen Personalentwicklungsmaßnahmen? Und ist das Kreuzfahrtschiff wirklich nur ein Kreuzfahrschiff und die Reise nur eine Reise? Oder ist all das als Parabel zu sehen, gar als symbolische Verbrämung von – ja, von was eigentlich? (Einer Therapie? Eines Traums? Einer Vision? Eines Drogentrips?)
Für mich ein absoluter Ausnahmeroman und ein Highlight; allerdings könnte ich mir vorstellen, dass das Buch nicht jedermanns Geschmack trifft.