Die 600 Seiten fliegen an einem vorbei, als wären sie nichts. Dieser Auftakt hat alles!
An Büchern mit über 600 Seiten traue ich mich immer nur mit einer gewissen Skepsis heran, weil ich eine unglaublich langsame Leserin bin und nicht gerne parallel lese – sprich: Ich möchte das angefangene ...
An Büchern mit über 600 Seiten traue ich mich immer nur mit einer gewissen Skepsis heran, weil ich eine unglaublich langsame Leserin bin und nicht gerne parallel lese – sprich: Ich möchte das angefangene Buch möglichst in einem Rutsch durchlesen und das ist bei 600 Seiten nicht gerade leicht. Wenn sich das Buch dann auch noch schleichend liest und ich nach der höheren Seitenanzahl die Lust verliere, ist das ganz übel.
Langer Rede kurzer Sinn: Der Auftakt zu „Die Krone der Dunkelheit“ fällt ganz und gar nicht in diese Kategorie, im Gegenteil: Ich habe mich so sehr an den Seiten festgesaugt, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie viele Seiten an mir vorbeigerauscht sind. Nicht einmal ist mir während des Lesens langweilig geworden, ich hatte stetig den Drang, weiterzulesen und die Welt und die Geschichte weiter zu entdecken. Dieses Buch hat sich geradewegs zu meinen Lieblingsbüchern katapultiert.
Wo soll ich nur anfangen, um den Inhalt zu beschreiben? Es gibt so viele Charaktere, so viele Handlungsstränge und so viele wichtige Elemente in der Geschichte, dass es nahezu unmöglich ist, alles in kurzen Worten darzulegen. Wir befinden uns in Lavarus, das sich in die Länder Thobria (das der Sterblichen) und Melidrian (das der Fae) unterteilt, die durch eine Mauer getrennt sind. Melidrian teilt sich noch einmal in die Gebiete der Seelie (mit ihrer Hauptstadt Daaria) und der Unseelie (mit ihrer Hauptstadt Nihalos). Die Völker der Sterblichen, der Seelie und der Unseelie haben vor ewigen Zeiten ein Abkommen geschlossen, das es ihnen jeweils verwehrt, die Mauer zur anderen Seite zu überqueren – bei einem Bruch des Abkommens droht ein Krieg. Um dieses Abkommen zu wahren, gibt es die sogenannten unsterblichen Wächter, die einmal Menschen waren, aber durch ein Ritual zu etwas Stärkerem werden, das es sowohl mit Fae als auch mit sogenannten Elva, tierartigen Wesen, aufnehmen kann. Diese Wächter patrouillieren an der Mauer, um die Einhaltung des Abkommens zu gewährleisten.
Obwohl sich auch Kapitel finden, die aus der Sicht anderer Personen geschrieben sind, verfolgen wir das Geschehen hauptsächlich aus der Sicht zweier Charaktere: Auf der einen Seite haben wir Prinzessin Freya, die Tochter des sterblichen Königs, die sich auf die Suche nach ihrem entführten Zwillingsbruder begeben will. Unterstützung sucht sie bei dem unsterblichen Wächter Larkin, den sie vorher erstmal aus dem Verlies ihres Vaters befreien muss.
Auf der anderen Seite haben wir Ceylan, eine Waise, die vor sieben Jahren ihre Eltern verloren hat und nun aus Rachegefühlen eine unsterbliche Wächterin werden möchte. Das Problem ist nur: Der Field Marshal sperrt sich dagegen, denn an der Mauer gab es bisher keine Frauen.
Mich hatte das Buch schon nach wenigen Seiten, da mir der Schreibstil auf Anhieb imponiert hat. Während des Lesens ist er mir immer wieder positiv aufgefallen, weil er nahezu mühelos ein Kopfkino in Gang setzt. Er baut eine eindrucksvolle, magische Atmosphäre auf, sodass man sich in die fantastische Welt hineinversetzt fühlt. Gleichzeitig wusste mich auch der Humor zu überzeugen, der hin und wieder anklingt, ohne der Geschichte ihre Ernsthaftigkeit zu nehmen. Laura Kneidl serviert ihn uns in genau den richtigen Dosen.
Neben dem beeindruckendem Schreibstil sind es aber auch die Charaktere, das Worldbuilding und die Handlung, die dieses Buch so großartig machen. Die Autorin hat es geschafft, dass ich so viele Charaktere ins Herz schließe, Charaktere, mit denen ich richtig mitfiebere und um die ich bange, in der Sorge, dass sie sterben könnten. Bei manchen Charakteren war das richtig überraschend, weil ich ihnen gleichzeitig auch misstrauisch gegenüberstand, da sich nicht vorhersagen ließ, was man von ihnen noch zu erwarten hatte. Von manchen weiß ich es immer noch nicht, dafür sind sie einfach zu undurchschaubar. Diese Zwiespältigkeit, das Unvermögen, die Charaktere klar in „Gut“ und „Böse“ unterteilen zu können, macht das Buch so spannend und die Handlung so unberechenbar.
Freya und Ceylan sind als Protagonistinnen jedoch schlichtweg bemerkenswert. Sie sind beide auf ihre eigene Art mutig, ehrgeizig und dickköpfig. Während Ceylan kämpfen kann und nicht wenige der Wächternovizen in den Schatten stellt, ist Freya eher auf die Magie fokussiert, obwohl sie diese auch nur relativ schwach wirken kann. Sie macht das jedoch durch ihren Mut und ihre Entschlossenheit wett und ist für mich sogar noch die beeindruckendere und sympathischere Protagonistin, auf deren Kapitel ich mich immer wieder gefreut habe. Ceylan hat mich dagegen durch ihr vorlautes und freches Mundwerk stets zu erheitern gewusst. Die beiden machen die Geschichte zu etwas ganz Besonderem.
Dazu tragen aber auch die männlichen Charaktere bei, die ihren Weg kreuzen. Larkin als unerbittlicher, düsterer Wächter, der der Königsreligion angehört, Freya und ihren Vater anbetet und für die Prinzessin sein Leben geben würde, Leigh als überraschend humorvoller Wächter, Khoury als strenger, unvorhersehbarer Field Marshal (und damit Anführer der Wächter), aber auch der Prinz der Unseelie, sein Berater Aldren, der Assassine Weylin und der Pirat Elroy. Jeder ist auf seine Weise interessant und schwer einzuschätzen. Ich habe selten so viele Charaktere ins Herz geschlossen.
Durch das nicht gerade einfach gestrickte Worldbuilding ist die Handlung nicht vorauszuahnen. Ich hatte lange Zeit keine Ahnung, in welche Richtung sich das Geschehen entwickeln würde, bis sich langsam ein paar Puzzleteile an ihren Platz gefügt haben – auch mit dem einen oder anderen Twist, der überraschend kam. Es ist nie langweilig geworden, die ganze Zeit passiert irgendetwas: Selbst, wenn ich mich gelegentlich über den Sichtwechsel geärgert habe, weil ich vor allem bei Freya und Larkin weiterlesen wollte, wusste mich auch das neue Kapitel immer wieder in seinen Bann zu ziehen. Jeder Handlungsstrang ist wichtig für die Haupthandlung, auch wenn das am Anfang noch nicht so klar zu erkennen ist.
Abgesehen von der spannenden Handlung und dem Drang, zu erfahren, ob Freya ihren Bruder findet und Ceylan bei den Wächtern aufgenommen wird, haben mich auch die möglichen Liebesgeschichten an die Seiten gefesselt, denn sie sind lediglich unterschwellig und andeutungsweise vorhanden, sodass man als Leser auch diesbezüglich ordentlich mitfiebert. Hier findet sich kein seitenweises Angeschmachte oder die dauernde Erwähnung des guten Aussehens irgendeiner Person – es wird sich ganz schön bedeckt gehalten und trotzdem werden dem Leser gerade genug Brocken hingeworfen, um sich auf mehr zu freuen.
Ich bin so gespannt auf den nächsten Band und habe schon richtig Angst davor, anschließend auf den dritten Band warten zu müssen. Wie soll man das aushalten, wenn der zweite Band so gut ist wie der erste?
Fazit
Ich hatte keine hohen Erwartungen an diesen Auftakt und wurde förmlich weggepustet: von dem Schreibstil, den Charakteren, dem Worldbuilding und der Handlung. Es ist so spannend, dass man sich gar nicht von den Seiten lösen möchte, und bei jedem Griff nach dem Buch freut man sich auf ein Wiedersehen mit den Charakteren. Ich bin wahnsinnig gespannt, ob die Reihe ihr hohes Niveau halten wird, kann aber diesen Auftakt auf jeden Fall schon mal uneingeschränkt empfehlen. Die 600 Seiten fliegen nur so an einem vorbei. Volle Punktzahl!