Die Genesung bedarf mehr als nur eine Pille - Krankheit und das Verlangen nach Zwischenmenschlichkeit
Ich muss gestehen ich hatte an "Die andere Hälfte der Heilung" von Leander Steinkopf sehr hohe Erwartungen. Steinkopfs Erzählung "Stadt der Feen und Wünsche" hatte mich Anfang/Mitte des Jahres inhaltlich ...
Ich muss gestehen ich hatte an "Die andere Hälfte der Heilung" von Leander Steinkopf sehr hohe Erwartungen. Steinkopfs Erzählung "Stadt der Feen und Wünsche" hatte mich Anfang/Mitte des Jahres inhaltlich wie sprachlich sehr beeindruckt und ein ähnliches Empfinden habe ich nun auch bei diesem Sachbuch erwartet. Steinkopf ist nämlich nicht nur Autor und Journalist, sondern hat auch Soziologie und Psychologie studiert.
Und ja, dieses Buch hat mich gepackt. Es hat mich auch begeistert, aber mindestens genauso oft aufgeregt. Vieles ist dabei meiner persönlichen Erfahrung und gebildeten Meinung geschuldet, aber ich habe hier mehr oder einfach anderes erwartet.
"Gesundung ist zwar wichtig, aber die Liebe geht vor.
Bereits der Klappentext stellt interessante Thesen bzw Fragen in den Raum. "Warum helfen Globuli? Warum findet sich für manche Leiden scheinbar keine Ursache? Warum funktioniert Akkupunktur?" Und natürlich spielt bei unzähligen Erkrankungen das Vertrauen in den Therapeuten und Arzt eine sehr große Rolle. Zwischenmenschliche Beziehungen sind in der Genesung beinahe wichtiger als das eigentliche Medikament. Nicht ohne Grund spricht man auch in der Schulmedizin immer wieder von Placeboeffekten und Tests bei denen es Menschen mit einer einfachen Zuckerpille besser geht oder eine vorgegaukelte Operation das eigentliche Leiden des Patienten plötzlich auslöscht. Es gibt auch einen Grund, warum viele Menschen scheinbar immer in ihrem Urlaub krank werden oder Erkältungen sich stets aufs Wochenende verlagern. Doch Symptome sind eigentlich nur Folgen bzw. Reaktionen des Körpers, der sich gerade gegen einen Virus, ein Bakterium, einer Fehlfunktion oder äußeren Einflüssen wehrt. Diese können dann wiederum bei Außenstehenden sowie einem selbst oft als eine Art 'Aufmerksamkeitswink', einem Wunsch nach Veränderung, Unterstützung oder auch Vorsicht, gedeutet werden kann.
Für vieles gibt es dabei evolutionsbiologische Hintergründe und Entwicklungen auf die Steinkopf in seinem Buch auf eine sehr leicht verständliche Art und Weise eingeht, sensibilisiert und gleichzeitig auch zum Nachdenken anregt.
"Kranksein ist nicht bloß das isolierte Problem des einzelnen Körpers, sondern ein soziales Phänomen, das auf zwischenmenschlicher Wechselwirkung beruht, genauso wie Paartanz, Fußball oder die Rede vor Kollegen."
"Die andere Hälfte der Heilung" ist ein Buch, mit dem ich mich beim Lesen sehr intensiv auseinandergesetzt habe. Das kann man nun sowohl als positiv, als auch negativ deuten.
Steinkopf studierte Soziologie und Psychologie und genau dies wird auch in diesem Buch deutlich. Es scheint eher eine Hommage an die Psychologie und der damit verbundenen Erwartungshaltung des Menschen in Bezug auf seine Genesung zu sein. Es gibt unzählige Aussagen, die ich hier eindeutig treffend und evolutionär begründet großartig finde. So gibt es z.B. in Sachen Genesung und Fortpflanzung eine Priorisierung. Auch das offensichtliche Leiden unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen und ist evolutionär bedingt und das Überleben der Gemeinschaft steht stets vor der eigenen Krankheit.
Aber es gibt eben auch ähnlich viele 'Antworten' und Hypothesen, die einfach zu leicht beantwortet werden und nicht über den Tellerrand der veralteten psychologischen Ansicht hinausgehen oder gänzlich eindimensional betrachtet werden. Genau das ist dann leider auch mein größter Kritikpunkt. In jedem Kapitel habe ich mindestens einmal aufgeregt. Das ganze Thema wird mir in diesem Fall einfach zu westweltlich betrachtet. Es gibt weltweit verschiedene Theorien und Ansätze - In Deutschland, sowie der ganzen westlichen Welt sind diese eher symptomfokussiert, während sie im asiatischen Raum einzelne Symptome eher ganzheitlich gedeutet werden. Das ist mitunter auch ein Grund warum die von Steinkopf beleuchtete Depression und andere psychische Probleme hauptsächlich im westlichen Raum als eigenständige Krankheitsbilder betrachtet werden.
"Aus evolutionärer Perspektive dienen depressive Symptome dazu, soziale Probleme anzugehen; der Verlust eines Kooperationspartners, Überlastung durch eine große Herausforderung, der Umgang mit dem großen Scheitern vor den Augen der anderen."
Die versprochene "neue Perspektive", die Krankheit und Heilung beleuchtet blieb so leider aus. Es ist eher ein Ansatz und wissenschaftliche Begründung warum Menschlichkeit in der heutigen Medizin so unterschätzt und dennoch wichtig ist. Er deklariert dabei alle nicht schulmedizinischen Therapien als Humbug und doch als wirksam. Ein Gegensatz, der zwar logisch betrachtet, sicherlich auch richtig ist, aber dem keine wirkliche tiefgründige Auseinandersetzung mit der energetischen Ebene, Einflüsse der Ernährung und deren Verarbeitung und Einfluss auf Gefühle und Gedanken oder Möglichkeit, die hinter dem eigentlichen Hokuspokus zu Grunde liegt. Auch in puncto Evolution ist es eindeutig, dass sich das Gehirn erst nach dem Darmhirn gebildet hat und ihm eigentlich eine eher untergeordnete Funktion zuteil wird. Zwar ist das Thema in diesem Fall eindeutig die Zwischenmenschlichkeit, allerdings erwarte ich dann auch, wenn es z.B. um Erkrankungen wie Depressionen geht, diese nicht so einseitig dargestellt werden. Entzündungen, die anfänglich auch als Ursache gelten könnten, werden einfach im frühen Anfangsstadium der Analyse erwähnt und dann gänzlich bzw. mit der Nennung, dass möglicherweise zukünftig Antidepressiva mit Entzündungshemmer entwickelt und eingesetzt werden könnten, fallen gelassen. Es ist ein großes Thema, was in diesem Buch den Rahmen sprengen würde, allerdings erwarte ich, wenn solche Faktoren Erwähnung finden, einfach etwas mehr. Was ist mit sonstigen Einflüssen? Vitaminen? Zwischenmenschlichkeit und Gefühle, die verschiedene Stoffwechsel und Hormonproduktionen fördern? Ruhe und Selbstheilung? Ablenkungen? Die Welt der Psyche und ihre Einflüsse ist sehr groß und je nachdem mit wem man spricht, erhält man auch hier verschiedene Antworten, selbst Psychologen unterscheiden sich da teilweise stark von einander. Da mir selbst das Fachliche fehlt, kann ich bei vielen mir fraglichen Hypothesen an dieser Stelle keine weitere Auskunft geben. Steinkopf belegt vieles mit Studien, wobei diese Studien auch wieder nur aus der westlichen Welt stammen und ich mich mit der wirklichen unparteiischen Glaubwürdigkeit dieser nicht weiter beschäftigt habe.
Insgesamt ist es dann in dem gewählten Rahmen ein wirklich gut durchdachtes, fachlich entsprechendes, und theoretisch tolles Buch, allerdings ist es für mich einfach nicht umfassend genug oder ausreichend begründet.