Memoir geschrieben mit der Schlagbohrmaschine
Lidia liegt seit achtunddreißig Stunden in den Wehen. Sie weiß, dass ihre Tochter nicht mehr lebt. Man hatte ihr geraten, sie dennoch vaginal zu entbinden, das sei das Natürlichste. Am Ende liegt sie im ...
Lidia liegt seit achtunddreißig Stunden in den Wehen. Sie weiß, dass ihre Tochter nicht mehr lebt. Man hatte ihr geraten, sie dennoch vaginal zu entbinden, das sei das Natürlichste. Am Ende liegt sie im Kreißsaal, aufgeschnitten von der Vagina bis zum Anus, ihr lebloses Kind auf dem Bauch, von dem sie sich nun verabschieden muss. Sie wird nach dem Krankenhaus bei ihrer Schwester wohnen und die Traurigkeit über den Verlust wird sie zerreißen.
Ihre Schwester war achtzehn, als sie von Zuhause wegging. Sie musste ihr Leben retten vor ihrem übergriffigen und prügelnden Vater. Danach war ihm die zehnjährige Lidia ausgeliefert. Die Mutter, eine manisch-depressive Immobilienmaklerin ertrank in Wodka und unternahm nichts, um ihren Kindern zu helfen.
Lidia erhielt fünf Zusagen von Universitäten, die ihr Vater alle ablehnte. Bei einem ihrer zahlreichen Schwimmwettbewerbe wurde sie von einer Frau angesprochen, die ihr ein Vollstipendium in Texas versprach. Lidia war alles recht Hauptsache sie kam aus ihrem Elternhaus raus. Ihre Mutter unterzeichnete ihr den Vertrag und der cholerische Vater flippte aus.
In Texas absolvierte sie jede Trainingseinheit, dröhnte sich jedoch jede Nacht zu um zu tanzen, tanzen, tanzen. Sie nahm jede Körperlichkeit leidenschaftlich entgegen, liebte Frauen ebenso bereitwillig wie Männer. Nach einem halben Jahr schiss sie auf die Trainingseinheiten. Im zweiten Jahr verlor sie das Stipendium, im dritten flog sie von der Uni. Von da an soff sie sich mithilfe toxischer Partner jedes Gefühl von Wertlosigkeit weg.
Fazit: Lidia Yuknavitch erzählt ihr Leben. Dabei zeigt sie sich mit jeder Faser ihres Gewesenseins. Innerhalb der Familie war sie völlig verständlich ein ängstliches weinerliches Kind, das die große Schwester bewunderte. Die Zustände im Elternhaus waren die Hölle. Der Verlust der Schwester ein riesiger Bruch. In der Zeit ihrer Freiheit in Texas geriet sie völlig außer Kontrolle, ließ ihrer unbändigen Wut freien Lauf und betäubte ihre Gefühle mit allem, was sie kriegen konnte. Sprachlich obszön zeigt sie sich nackt und unterstreicht den temporeichen Irrsinn, dem sie sich ausliefern musste. Trotz alledem findet sie im Laufe ihres Lebens zu sich und wird versöhnlich und liebevoll. Zugleich ist die Geschichte Lidias ein Leben für die Literatur, durch die sie Wege fand, den richtigen Menschen zu begegnen und sich weiterentwickeln zu können. In ihrem Buch spricht sie die Leser*innen persönlich an, weil sie glaubt, dass sie sich mit sich selbst besser identifizieren können als mit ihr. Es ist ein verstörendes Buch, nicht wegen der Beschreibung der Tätlichkeiten des Vaters, das macht sie kaum, sondern wegen der Kraft ihres sprachlichen Ausdrucks. Ich habe ihr Leben gelesen, wie das Leben einer Borderlinerin, die es schafft sich aus eigenem Antrieb aus dem Morast zu ziehen. Mir kommt fast alles, was sie erleben musste, überaus bekannt vor. Es lohnt sich, die Anstrengung auf sich zu nehmen einen Blick auf Lidias Leben zu wagen, weil es so eine Wucht hat und dennoch real ist.