Die Ursachen der Gewalt
Lingyuans neuster Roman basiert auf dem abscheulichen Mord an der der chinesischen Studentin Li Yangjie 2016 in Dessau. Und gerade deshalb möchte ich darauf hinweisen, dass es sehr explizite Szenen von ...
Lingyuans neuster Roman basiert auf dem abscheulichen Mord an der der chinesischen Studentin Li Yangjie 2016 in Dessau. Und gerade deshalb möchte ich darauf hinweisen, dass es sehr explizite Szenen von Kindesmisshandlung, psychischer, physischer und sexueller Gewalt gibt. Aber der Reihe nach.
Yanyan träumt von einer Karriere als Architektin und möchte vor allem ihre Eltern stolz machen. Sie ist ihnen dankbar, dass sie ihr Auslandsstudium finanzieren, und möchte sie keinesfalls enttäuschen. Die ersten Monate in Deutschland sind hart, da ihre Englischkenntnisse kaum reichen, um den Vorlesungen zu folgen. Doch Yanyan kniet sich rein, gönnt sich kaum eine Pause und schreibt immer bessere Noten. Sie ist eine freundliche, gesellige junge Frau, die oft mit ihren Freundinnen kocht, auch wenn ihr kaum Zeit dafür bleibt. Deutschland und dessen Menschen bleiben ihr hingegen fremd. So viel ist anders als bei ihr zu Hause in China, dass sie sich oft nur wundern kann.
Und da ist der Schulabbrecher Ben, kaum achtzehn aber schon einiges auf dem Kerbholz. Die Mutter trennt sich früh von Bens Vater und durch ihre wechselnden Männerbekanntschaften wächst Bens Neugier auf das, was hinter der Schlafzimmertür geschieht. Vom Stiefvater und der Mutter finanziell verwöhnt und vor allem in Schutz genommen, wächst seine Gewaltbereitschaft und Zerstörungswut. Hier eine Schlägerei, dort mal schnell einen Brand gelegt. Egal, er weiß, dass seine Mutter ihn überall raushauen wird. Sein übermäßiger P0rnokonsum weckt zunehmend Gewaltfantasien, die schon bald in einer ersten Vergewaltigung gipfeln.
Abwechselnd folgen wir beiden Perspektiven über mehrere Monate, die am Ende in einem abscheulichen Mord gipfeln. Die Autorin versucht in diesem True-Crime-Roman, den Ursachen der Gewalt auf die Spur zu kommen. Sie zeichnet fiktiv den Werdegang Bens nach, der uns Lesern vor Augen führt, warum er so ein Geltungsbedürfnis hat, so machtbesessen ist, so ein gespaltenes Verhältnis zu Frauen hat. Dies schreibt sie in einfachen, schlichten Worten, zum Teil auch sehr plakativ, ohne immer die nötige Tiefe zu erreichen.
Wesentlich besser und berührender gelingt ihr in meinen Augen die Perspektive Yanyans – ihr stabiles soziales Umfeld, den familiäre Rückhalt, das leise Anbahnen der ersten Liebe.
Ich bin eigentlich keine True-Crime-Leserin, die wenigen Bücher, die ich kenne, waren sehr oberflächlich und reißerisch. Daher kann ich keinen Vergleich innerhalb des Genres ziehen. Ich kann nur sagen, dass mich die detaillierte Darstellungen von Bens Gewalt am Ende erschüttert haben. Deshalb gibt es auch nur bedingt eine Empfehlung von mir, denn man sollte schon einiges wegstecken können.
Wer mehr über den Mord erfahren will, findet dazu einiges im Netz. Es wurde auch für einen Tatort adaptiert, den ich allerdings nicht gesehen habe.