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Veröffentlicht am 16.07.2024

Die Schrecken der illegalen Migration aus der Sicht eines Kindes

Solito
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»Dieses Buch ist für alle, die die Grenze überquert haben, die es versucht haben, die es jetzt im Augenblick tun und weiter versuchen werden.« S.472

7 Wochen war Javier Zamora auf der Flucht von El Salvador ...

»Dieses Buch ist für alle, die die Grenze überquert haben, die es versucht haben, die es jetzt im Augenblick tun und weiter versuchen werden.« S.472

7 Wochen war Javier Zamora auf der Flucht von El Salvador in die USA und das ist seine wahre Geschichte. 7 Wochen, in denen seine Familie nicht wusste, wo er sich befand und ob die Flucht gelingen würde. Javier war damals 9 Jahre alt und ganz allein – solito.

Javier wächst bei seinen Großeltern auf, nachdem seine Eltern vor dem von der USA finanzierten Bürgerkrieg nach »La USA« geflüchtet sind. So oft es geht, telefoniert er mit ihnen. Er vermisst sie schrecklich, doch nun endlich soll er nachkommen.
Sein Großvater begleitet ihn noch bis Guatemala, wo man Javier und den anderen beibringt, wie sie sich auf der Flucht zu verhalten haben, bevor sie sich mit dem Kojoten (Schlepper) auf eine ungewisse Reise machen. Es soll eine Odyssee werden, die sie mit einem Boot nach Mexiko bringt, wo sie aus Bussen gezerrt werden, wo sie als »pinches migantes« (verdammte Migranten) beschimpft werden, auf LKWs wie Vieh verfrachtet werden und zum Schluss unter unglaublichen Strapazen die Sonora-Wüste zu Fuß durchqueren müssen.
Erzählt wird aus der Sicht des 9-jährigen Javiers, dass es mir an manchen Stellen fast das Herz zerrissen hat. Nur zögerlich fasst er Vertrauen zu den anderen Erwachsenen, immer bedacht, nicht aufzufallen, die mexikanischen Wörter richtig auszusprechen, seine wenigen Klamotten zu waschen. Doch mit der Zeit werden sie zu seiner Ersatzfamilie, die ihn trösten und unterstützen. Hitze, Kälte, das ewige Warten – oft über Wochen, das allein ist schon unvorstellbar, doch Zamora holt uns immer wieder in die Gefühlswelt des Jungen zurück, dessen Blick das große Ganze nicht zu erfassen vermag, dessen Gedanken darum kreisen, dass er nachts im Raum mit den anderen nicht pupst und ihn niemand nackt unter der Dusche sieht; der Angst hat, dass eine Toilette ihn ins Meer spült; der sich Sorgen macht, weil er seine Schuhe nicht zubinden kann.

Immer wieder rufe ich mir ins Gedächtnis, dass dies hier eine wahre Geschichte ist – die eines Kindes. Und genau das hebt das Buch aus allen anderen Fluchtgeschichten heraus, die ich seit letztem Jahr gelesen habe. Immer wieder hören wir in den Nachrichten von unbegleiteten Minderjährigen, doch was es wirklich bedeutet, sich allein als Kind Schleppern auszusetzen, Fremden anzuvertrauen, ein Gewehr auf sich gerichtet zu sehen, Menschen verschwinden zu sehen, wird mir erst durch dieses Buch so richtig bewusst. 20 Jahre hat Zamora sich kaum erinnert, Therapien gemacht, um seine traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten, um sie in diesem Buch niederschreiben zu können. Ein Buch, das einen fordert beim Lesen, denn da wo ich als Erwachsene die drohende Gefahr sehe, hält Javier sich mit seiner unbekümmerten, kindlichen Zuversicht tapfer über Wasser, wächst über sich heraus und überlebt schier Unmögliches. Diese kindliche Unschuld, verpackt in zärtliche Worte, hat mich oft schlucken lassen, stellenweise habe ich mit den Tränen gekämpft.
Es ist ein Buch über die Menschlichkeit und des Zusammenhalts, das unseren Blick auf die einzelnen Schicksale hinter den oft gesichtslosen Flüchtlingsströmen lenken soll und die unzähligen Kinder, egal von wo auf der Welt sie ihre Flucht antreten.
Und gleichzeitig ist es eine Anklage gegen geldgierige Schlepper, den rigorosen Umgang der US-Amerikaner mit den Migranten und nicht zuletzt mit der desaströsen Flüchtlingspolitik weltweit. Dann frage ich mich, wie viele dieser Bücher müssen noch geschrieben werden, dass dieses unsägliche Leid aufhört, dass Menschen nicht mehr gezwungen sind, wegen Krieg, Armut oder den Auswirkungen des Klimawandels ihre Heimat zu verlassen.

Noch ein Wort zu den vielen spanischen Begriffen im Text, die anschließend in einem Glossar übersetzt sind. Ich muss zugeben, es war anfangs mühsam. Aber irgendwann habe ich mich in Javiers Lage versetzt, ein Junge, dessen Spanisch sich von dem in den anderen Ländern unterscheidet, der kein Wort Englisch spricht, dessen Angst, etwas falsch auszusprechen größer ist, als nicht bei seinen Eltern anzukommen. Ab da habe ich sie gespürt, die Hilflosigkeit angesichts der sprachlichen Barrieren. Wo die unterschiedlichen Begriffe für »Strohhalm« ausreichen, um eine ganze Gruppe Migranten auffliegen zu lassen.
Ein wirklich eindringliches Buch, dem auch der Humor nicht fehlt, das ich gern weiterempfehle.

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Veröffentlicht am 16.07.2024

Die Schattenseite Kaliforniens Lew Archer 5

Wer findet das Opfer
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Vor ungefähr 10 Jahren bin ich auf einem Bücherflohmarkt über die schönen alten schwarz-gelben Diogenesausgaben von Ross Macdonald gestolpert und hab sie alle verschlungen. Vor allem seine Lew-Archer-Krimis. ...

Vor ungefähr 10 Jahren bin ich auf einem Bücherflohmarkt über die schönen alten schwarz-gelben Diogenesausgaben von Ross Macdonald gestolpert und hab sie alle verschlungen. Vor allem seine Lew-Archer-Krimis. Nun wurden einige bei Diogenes neu übersetzt und wie ich feststellte, hat mir Band fünf tatsächlich gefehlt. Wer Macdonald liest, sollte wissen, dass der Originaltitel »Find a Victim«, (1954) bereits unter »Opfer gesucht« und »Anderer Leute Leichen« erschien.

»Er war der gruseligste Tramper, den ich je mitgenommen habe.«

Eigentlich ist Archer unterwegs nach Sacramento, als er im staubigen Nirgendwo der kalifornischen Wüste einen angeschossenen, blutüberströmten Mann am Straßenrand findet und mitnimmt. Nach ewigen Kilometern stößt er auf ein Motel und dessen feindseligen Besitzer Kerrigan, dem das Opfer kein Unbekannter zu sein scheint. Tony Aquista verstirbt kurz darauf im Krankenhaus und verzögert Archers Weiterreise.
Las Cruces ist ein Ort, wo jeder mit jedem verbandelt ist und eine Menge zu verbergen hat. Archer findet heraus, dass Aquista einen Lastwagen voller Hochprozentigem gefahren hat, doch der Truck ist verschwunden. Seine Suche führt ihn unter anderem zu einem alten Bankraub, ner Menge Korruption, und natürlich zu einer weiteren Leiche.
Es geht hart zu in den 50ern, Frauen werden geschlagen und vergewaltigt und auch Archer muss sich (ausführlich in einer fast filmisch dargestellten 2 Seiten langen Szene) ordentlich prügeln. Doch er folgt seinem Instinkt und lässt sich von niemanden mundtot machen.

Hier fliegen ordentlich die Fäuste und auch ein paar Kugeln. Dass es so gewalttätig zugeht, war mir gar nicht mehr in Erinnerung. Die Männer sind wenig sympathisch, die Frauen schwach und in ihrer Rolle als Gattin gefangen. Im Gegensatz zu manch anderen Büchern aus der Reihe fehlen mir hier die starken und toughen Frauenfiguren, für die Archer nicht nur eine Schwäche hat, sondern für die er auch immer Partei ergreift.

Doch genau das ist es, was Macdonalds Kimis widerspiegeln, die Korruption des gar nicht so sonnigen Kaliforniens, in dem die Männer ihre Überlegenheit oft mit roher Gewalt demonstrieren, dysfunktionale Familien, deren Konflikten Archer auf den Grund geht.
Ich denke, es ist nicht Macdonalds bester Krimi, aber durchaus lesenswert, wenn man die alten Detektivromane mag. Mit Archer hat er eine Figur geschaffen, die Chandlers Philip Marlowe nachempfunden und doch anders ist. Auch wenn wir privat so gut wie nichts über ihn erfahren, beweist er, dass er einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit hat und sich dafür einsetzt, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Auch wenn das heißt, ordentlich was einzustecken. Was wiederum typisch für das damalige Krimigenre war. Zum Glück entwickelt sich Archer in den Folgebänden weiter.

Dashiell Hammett, Raymond Chandler und Macdonald werden von den Kritikern gern als „Heiligen Dreifaltigkeit“ des Hardboiled-Krimis bezeichnet. Wer also die beiden anderen mag, sollte sich die Lew Archer Reihe nicht entgehen lassen. Ich für meinen Teil bin nun komplett durch Macdonalds Werk durch.
Unterm Strich war es wieder ein rasantes Leseerlebnis, das mich gut unterhalten hat.

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Veröffentlicht am 16.07.2024

Eine Liebe gegen alle Widrigkeiten

Bevor wir uns vergessen
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Was, wenn eigentlich alles dagegenspricht, und es am Ende aber doch gelingt?

»Vergeht die Liebe, wenn das Begehren verblasst, oder erblüht sie gerade dann – befreit vom schönen Schein, von der körperlichen ...

Was, wenn eigentlich alles dagegenspricht, und es am Ende aber doch gelingt?

»Vergeht die Liebe, wenn das Begehren verblasst, oder erblüht sie gerade dann – befreit vom schönen Schein, von der körperlichen Hülle, die uns irreführt?« S.47

Habt ihr euch mal gefragt, wie es ist, ein Leben lang miteinander verheiratet zu sein, trotz aller Dramen, Enttäuschungen und Krisen? Schaut man gelegentlich zurück, was war eigentlich der Auslöser? Geht nicht jedem Ereignis ein anderes voraus?

Da sitzen sie nun, Alice und Jules, beide fast neunzig, in Paris im Jardin du Luxembourg. Gebrechlich, müde, versunken in ihrer eigenen Welt, in der sie bereits vieles vergessen haben. Eine jahrzehntelange Ehe liegt hinter ihnen, die Éliette Abécassis uns im Rückwärtsgang erzählt. Wir streifen vorbei an Momenten der Geschichte – der 11. September 2001, der Fall der Berliner Mauer, die Wahl von Francois Mitterrand, Mai 1968, der Algerienkrieg – die zu einem Echo des Zustands ihrer Ehe werden. Es sind nicht nur Momente des Glücks und der Zufriedenheit, es sind sechzig Jahre Auf und Ab, Träume und Enttäuschungen, Ideale und Zweifel, Ehebruch und Verrat.

Und doch ist die Liebe da, mit jedem Wort, in jeder Zeile. Wir graben uns rückwärts durch die Zeit, um am Ende einen Schatz zu heben – die Liebe, die unter all den Unwägbarkeiten verborgen liegt. Aber vielleicht war sie ja doch immer da? Nur sieht man sie nicht gleich auf den ersten Blick. Verschüttet vom Alltagstrott, von den Launen pubertierender Kinder, von der Erschöpfung zermürbender Routine und sexueller Unlust.

»Wie haben wir das nur gemacht?, denkt er. Trotz unserer gemeinsamer Herzen, trotz unserer Verirrungen, unserer Ausflüchte, unserer Leidenschaftlichkeit und unserer Schwächen, unserer kleinen Dramen und unserer großen Treulosigkeit. Wie haben wir es geschafft, uns in schwierigen Situationen zu ertragen und nach so vielen Jahren nicht voreinander zu fliehen?« S.46

Abécassis beweist ein weiteres Mal, wie präzise sie Beziehungen ausleuchten kann. Auf nur 173 Seiten spürt sie all die Momente auf, die dagegensprechen, dass die Liebe Bestand haben wird. Sie legt die Finger in die Wunden, zeigt die tiefen Narben. Bittersüß, zart und gewaltig zugleich. Die Kraft der Geschichte liegt in ihrer Banalität, ihrer Gewöhnlichkeit, in dem, was wir alle kennen. Die Liebe als Abenteuer in einer Zeit, wo man sich allzu schnell dazu hinreißen lässt, wegen Kleinigkeiten aufzugeben, hinzuschmeißen. Das Leben stellt uns täglich auf die Probe, wir machen Fehler, aber wir können auch verzeihen.

»Wir haben unser Leben gelebt, und wir werden es gemeinsam beenden, wenn unsere Freunde nicht mehr unsere Freunde sind, wenn unsere Kinder uns verlassen haben, um ihr eigenes Leben zu leben, und wenn wir allein zurückgeblieben sind. Vielleicht lässt uns unser Gedächtnis im Stich. Vielleicht verlieren wir unsere Sehkraft und unser Gehör, ebenso wie unsere Erinnerungen. Wir werden mit der Zeit immer verwirrter und können nicht mehr aufstehen, ohne hinzufallen. Und dann werden wir uns noch einmal kennenlernen wie am ersten Tag, als wir zusammen auf einer Bank im Jardin du Luxembourg saßen, vor fast fünfzig Jahren. Und ich werde glücklich sein, mein Leben mit dir verbracht zu haben, wie ein Mann, der liebt und der geliebt wurde.« S.60

Ich klappe das Buch zu, denke nach, lass Abécassis’ Worte wirken. Was bleibt nach dieser Geschichte? Die Erkenntnis, dass man im Augenblick leben soll, dass das Leben vergeht wie ein Wimpernschlag in der Zeit, dass nur eins zählt – die Liebe.
Ich blättere zurück, lese noch einmal, wie am Anfang alles endet, und denke mir: was, wenn alles dagegenspricht, und es am Ende doch gelingt!

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Veröffentlicht am 25.06.2024

Nachdenkliches Gedankenexperiment

Das Spiel des Tauchers
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Ich lese äußerst selten Dystopien, weil allen gemeinsam ist, dass die Antwort auf die Frage »Was wäre wenn …?« mich jedes Mal auf Neue erschaudern lässt. Jesse Ball beleuchtet in seinem Buch eine fiktive ...

Ich lese äußerst selten Dystopien, weil allen gemeinsam ist, dass die Antwort auf die Frage »Was wäre wenn …?« mich jedes Mal auf Neue erschaudern lässt. Jesse Ball beleuchtet in seinem Buch eine fiktive Zukunft, die nach unermesslichen Flüchtlingsströmen eine neue Form des Zusammenlebens angenommen hat.

Es gibt nur noch zwei Gruppen von Menschen – Pats und Quads. Pats sind die eigentlichen Staatsbürger, die befugt sind Gasmasken und Gaskartuschen zu tragen. Die das Recht haben, Quads – wann und wo immer sie ihnen begegnen – zu töten, ohne Konsequenzen. Als Gefängnisse nicht mehr ausreichten, schuf man bewachte Quadranten, in denen die Quads – die Geflüchteten – frei leben dürfen. Allerdings sind das rechtsfreie Räume – für jeden, der sich dort aufhält. Quads werden nach ihrer Ankunft markiert, ihnen wird eine rote Mütze auf die Wange tätowiert und der rechte Daumen abgeschlagen. Irgendwie muss man sie ja auseinanderhalten. Wie diese Welt funktioniert, erfahren wir von einem Lehrer, zu dessen Schülerinnen auch Lethe und Lois gehören. Mit ihnen wird er später noch einen Zoo besuchen. Allerdings gibt es dort nur noch einen altersschwachen Hasen, denn in der zukünftigen Welt sind bis auf Insekten alle Tiere ausgestorben.

Das Buch gliedert sich in 3 Abschnitte, die eigentlich 4 Kurzgeschichten sind, an losen Fäden miteinander verbunden. Während sich die erste Geschichte »Ogias-Tag« wirklich verstörend liest, bricht sie vor dem eigentlichen Ereignis ab, dem Tag, an dem alle Schulden verfallen, aber auch Verbindlichkeiten wie ein Arbeitsverhältnis oder eine Ehe. Jesse lässt auch die beiden folgenden Geschichten in der Luft hängen. Was mich zunächst unbefriedigt zurückgelassen hat, entwickelte sich in den folgenden Tagen zu interessanten Gedankenspielen.

Balls Idee fußt auf den Auswüchsen der aktuellen Flüchtlingspolitik der USA, dem Abhandenkommen von Empathie und Moral; auf Ausgrenzung und der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft.
Der Verfall der Moral gipfelt im Buch in einer neuen Definition von Gewalt, die genau betrachtet nun keine Gewalt mehr ist. Wie sehr sich die indoktrinierten Moralvorstellungen und Gleichgültigkeit bereits in den Kindern etabliert haben, zeigt Ball in drei der Geschichten. Lethe (ein Synonym der griechischen Mythologie für den Fluss des Vergessens der Vergangenheit?) ist schon fast gelangweilt von dem Vortrag ihres Lehrers und interessiert sich nicht für die ausgestorbenen Tiere. Oder das Spektakel einer Kinder-Infantin, die über Schuld und Unschuld entscheiden darf. Es symbolisiert quasi die Rechtlosigkeit der Quads, die als wiederkehrendes kulturelles Ereignis öffentlich ad absurdem zur Schau gestellt wird.
Oder auch in der titelgebenden Geschichte, die einem Initiationsritual gleicht und durch die Gleichgültigkeit der Kinder mit dem Tod eines Jungen endet.
Ball inszeniert hier an drei Charakteren die Entmenschlichung durch die fehlende Moral. Das ist nicht nur brutal, sondern auch wirklich traurig und schmerzhaft zugleich.
Erst die letzte Geschichte, der Brief einer Frau, die einen Quad getötet hat, beginnt die vorherrschende Gesinnung infrage zu stellen.

»Ein solcher Mann ist nicht wegen etwas gestorben, das er tat, sondern weil er war, wer er ist.« S.233

»Entweder ist es falsch, dass es sich nur um Gewalt handelt, wenn sich gleich gegen gleich wendet, oder es ist falsch anzunehmen, dass sie uns nicht gleichen. Es ist mir egal, was es ist; ich bin davon überzeugt, das eines von beiden wahr ist.« S. 242

Ein absolut unbequemes, radikales Buch, das aber von Seite 1 an von einer enormen unterschwelligen Spannung profitiert, dass man förmlich mitgerissen wird. Nicht zuletzt auch von dem Kniff, dass der auktoriale Erzähler uns hin und wieder direkt anspricht und uns somit an unsere Verantwortung, unseren Egoismus, unsere Gier erinnert.
Im Literarischen vielleicht etwas experimentell, auf das man sich einlassen muss, das aber einen tiefen Nachhall hinterlässt. Trotzdem hätte mich sehr interessiert, was an diesem ominösen Ogia-Tag passiert ist.

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Veröffentlicht am 23.05.2024

Unaufgeregt, leise aber intensiv

Was ich zurückließ
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»Diese Worte sind der Versuch einer Annäherung aus der Distanz.« S. 13

In einer Art Brief versucht Marco Ott nachzuspüren, was zu einer Entfremdung von seinen Eltern führte. Ott wächst in einer Sozialwohnung ...

»Diese Worte sind der Versuch einer Annäherung aus der Distanz.« S. 13

In einer Art Brief versucht Marco Ott nachzuspüren, was zu einer Entfremdung von seinen Eltern führte. Ott wächst in einer Sozialwohnung in Dinslaken auf, das Verhältnis zu den Eltern ist herzlich, sie ermöglichen ihm alles, was in ihrer Macht steht. In einzelnen Episoden entsteht in mir ein klares Bild seiner Kindheit: ein gemeinsames Essen im Möbelhaus, weil man Werbecoupons hat, ein Blick auf das Preisschild, das entscheidet, ob man ein Teil gut finden kann. Allmählich mischen sich die Sichtweisen anderer ein, ein Mitschüler, der Otts Wohngegend als assi bezeichnet, offener Spott für Deichmannschuhe.
Er lernt schmerzhaft, was es heißt, anders zu sein, als ungenügend betrachtet zu werden, und erfährt Ausgrenzung. Scham, Verleugnung, Anpassung führen zunehmend zu Orientierungslosigkeit, Entfremdung und dem unbedingten Willen, dieses Milieu zu verlassen und aufzusteigen. Was folgt, ist ein Weg des Scheiterns, des immer wieder Neuorientierens, eine Suche nach sich selbst, die noch nicht abgeschlossen ist. Gleichzeitig analysiert er, wie es zum Bruch mit seinen Eltern kam, gesteht seine Mitschuld ein und sucht eine Aussöhnung.

»Erst später sollte ich erkennen, dass die Beziehung, die ich zu euch habe, ein Spiegelbild der Beziehung ist, die ich zu mir selbst habe.« S.122

Auf gerade mal 125 Seiten gelingt es Ott, all das in leise Worte zu fassen, die trotzdem einer Detonation gleichkommen. Die beim Lesen betroffen machen, die mich auch an meine eigene Kindheit erinnern. Die unserer Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Gerade in einer Zeit, wo der Ton in unserer Gesellschaft wieder rauer wird, braucht es diese Art von Klassenliteratur. Die Medien sind durchtränkt von der Darstellung von Idealen, die eine Welt vorgaukeln, die erstrebenswert sein soll. Die berühmte Möhre vor der Nase.

Ott nennt es gesellschaftliche Gewalt. Es sind die Wertvorstellungen einer anderen Schicht, die für allgemeingültig erklärt werden, Privilegien, die die Arbeiterklasse nicht hat, Geld, Status, Beziehungen. Ott jammert nicht, wenn er neben seinem Studium mehr arbeiten muss, als er letztlich im Hörsaal sitzen kann. Es geht aber um die Abbildung von Realität, das Nichtleugnen von Klassenunterschieden.

Nach der Lektüre standen bei mir noch immer viele Fragezeichen im Kopf. Was ist Klassenliteratur? Wodurch kennzeichnet sich autosoziobiografisches Schreiben? Begriffe, die ich nicht kannte. Nach stundenlanger Recherche war ich schlauer und las das Buch gleich ein zweites Mal – mein Blick war wesentlich schärfer. Nun fiel mir auch auf, wie on-Point seine Sätze sind, wie viel Verletzlichkeit dahintersteckt, wie schonungslos seine Selbstreflexion ist. Wie viel Mut es bedarf, seine unverblümten Gedanken der Ablehnung zu gestehen.

Aber kann man seine Klasse hinter sich lassen? Gibt es ein Ankommen oder auch ein Dazwischen?

»Ich weiß nicht, wie es euch damit geht, aber mittlerweile schäme ich mich dafür, euch verleugnet zu haben. Ich schäme mich für meine Scham.« S.99

Ein beeindruckendes Debüt, das mich sehr berührt hat.

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