Manchmal zäh, aber insgesamt sehr gekonnt erzählt
Inhalt:
November 2013: Proteste auf dem Maidan
Februar 2014: Annexion der Krim von russischen Spezialeinheiten
April 2014: Separatisten übernehmen Gebiete im Donbass
Fortwährend bewaffnete Konflikte, Verbrechen ...
Inhalt:
November 2013: Proteste auf dem Maidan
Februar 2014: Annexion der Krim von russischen Spezialeinheiten
April 2014: Separatisten übernehmen Gebiete im Donbass
Fortwährend bewaffnete Konflikte, Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung und ergebnislose Verhandlungen
24.02.22: Beginn des russischen Angriffkriegs gegen die Ukraine
Und mittendrin: Lisa und das Schicksal ihrer Familie, allen voran ihrer Grossmuter Aleksandra, eine Welt zwischen Traum und Wirklichkeit, eine Reise in die Vergangenheit, Krieg und Verluste, Hoffnung und Liebe.
Meine Meinung:
Lisa Weedas Protagonistin Lisa will 2018 nach Luhansk einreisen, um im Auftrag ihrer Grossmutter ein handbesticktes Leinentuch auf dem Grab ihres Cousins Kolja abzulegen, um "die Zeit zu flicken". Auf dem Leinentuch sind alle Mitglieder der Familie und ihre Lebenslinien verewigt. Mit roten Strichen werden die freudigen, mit schwarz die traurigen Ereignisse darauf festgehalten.
Lisa wird aber am Grenzübertritt gehindert und flüchtet in ein Kornfeld, in dem sie auf den magischen Palast des verlorenen Donkosaken stösst. Darin findet sie ihren längst verstorbenen Urgrossvater Nikolaj und zahlreiche weitere Familienmitglieder und Schicksale wieder.
Diese magische Erzählung über die Donkosaken, welche im Buch als Hirsche dargestellt werden, hat mich für sich eingenommen. Gekonnt schafft Weeda eine was-wäre-wenn-Atmosphäre und lässt ihre Protagonistin mit deren Verstorbenem Urgrossvater sprechen und weitere Mitglieder der Familie noch einmal zum Leben erwecken.
Immer wieder erschüttern gewaltvolle Szenen, Momente der Angst, Tage des Hungerns und des Leids die Erzählung und lassen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Erinnerungen und dem hoffnungsvollen Blick in die Zukunft mehr verschwimmen. Und immer wieder weden Feste gefeiert und es wird auf den Frieden und die Liebe angestossen und der Wodka spült das Leid und die Tränen weit weg.
Aufbau und Sprache:
Die Erzählung springt stets zwischen der chronologisch erzählten Geschichte der Ukraine ab April 2014 und den im Palast spielenden, weit in der Vergangenheit zurückliegenden Szenen und Erinnerungen hin und her. Immer wieder rücken das Leinentuch und Lisas Grossmutter Aleksandra dabei ins Zentrum. Sie, die damals den Holodomor überlebt hat, 1942 von den Nazis nach Deutschland deportiert worden ist und später in die Niederlande ausgewandert und geblieben ist. Eine Lebensgeschichte, die wir Leser:innen nach und nach erzählt bekommen und die zugleich die Geschichte eines Landes und eines Volkes ist, in dem eben nicht seit "einem Jahr" Krieg herrscht, sondern das seit Jahrzehnten von schwelenden Konflikten und seit 2014 von Krieg geprägt und gebeutelt ist.
Meine Empfehlung:
Dieses Buch hat mir auf den ersten paar Seiten ein Brilka-Gefühl vermittelt, es mir im Mittelteil sehr schwer gemacht und am Schluss noch einmal gezeigt, was es alles kann. Es ist immer mal wieder zäh und ausschweifend erzählt und somit zwar ein Debüt, das noch Luft nach oben hat, aber ansonsten mit einer aussergewöhnlich dichten, zwischen Traum und Wirklichkeit gekonnt balancierenden Sprache überzeugt. Ich empfehle es allen Leser:innen mit Sitzfleisch und grossem historischem Interesse und allen, die sich gerne auf eine aussergewöhnliche Erzählweise und dem leider brutal realistischem Hintergrund einlassen wollen.