"An jenem Tag, der alles verändern sollte, machte der magere Herbert das, was er wegen fehlender Alternativen immer machte: Er versuchte, mit seinen guten aerodynamischen Eigenschaften zu beeindrucken. Wie ein grüner Derwisch kreiselte er auf den Seerosenblättern, hüpfte wie ein Irrer und schlug einen Salto nach dem anderen. Einen Reiher, der paralysiert auf Herberts artistische Darbietung starrte, wurde sogar so schlecht davon, dass er in den Teich reiherte."
Die Autorin Marion Alexa Müller hat in ihrem Buch "Die unterschätzte Kunst des Scheiterns und weitere Mysterien im Leben von Menschen und anderen Kleintieren" (wenigsten einmal MUSS ich diesen wunderbaren Titel in voller Länge ausschreiben) 32 höchst unterschiedliche Bühnentexte, Heldenepöschen und Erzählungen zusammengefasst. Es geht um das, was wir (nicht) Glauben, um Anerkennung und um den (vermeintlichen) Wert unserer Freiheit, um das Scheitern, um Verrat und um Manipulation. Aber auch um (vermeintliche) Freundschaft und Liebe. Leider manchmal auch mit dem ein oder anderen Todesopfer. Bei Tieren ist das für mich immer ganz besonders tragisch. Auch wenn es nur "Geschichten" sind.
Dabei spielen ihre Erzählungen von (manchmal selbsternannten) Helden, Außenseitern und Vorreitern mit der großen Bandbreite unserer Gefühle. Sie sind lustig, rebellisch, traurig, machen betroffen und regen zum Nachdenken an.
Was mir besonders gut gefallen hat, sind die kleinen versteckten Details, auf die die Autorin in ihren Texten anspielt, ihr Wortwitz und die liebevolle, gelungene Namensgebung für ihre (meist tierischen) Protagonisten. (zum Beispiel die Haie Haiko und Heinz oder die "Happy-Hippo-Komune im Happy-Hippo-Spirit"). So etwas bleibt im Gedächtnis.
Auch ihre "Nachworte" zu den einzelnen Geschichten, sind meist sehr informativ, auch wenn ich mich damit, vor allem zu Beginn, etwas schwer getan habe.
Es gibt so viele tolle Geschichten im Buch, dass es mir sehr schwer fällt, die ein oder andere besonders hervorzuheben. Was mir aber spontan einfällt und mir damit im Gedächtnis geblieben ist, ist zum Beispiel "Geld regiert die Welt". Was für ein bezeichnender Titel, der gerade vor der bevorstehenden Bundestagswahl nicht weniger an Bedeutung gewinnt. Hier zeigen uns ein Hängebauchschwein, ein Hase und ein Waschbär bei ihrer "Insolvenzverschleppung im Waldladen", was unser Geld und Freiheit wirklich wert sind und wie wir uns von außen manipulieren lassen.
Auch "Wenn Engel reisen" war eine herrlich sarkastische, überspitzte und überzeichnete Geschichte, bei der wir die Protagonisten auf ihrer Reise im Regionalzug begleiten und an ihren (stillen oder weniger stillen) Gedanken teilhaben dürfen. Ich habe mich sofort in die Berliner S-Bahn versetzt gefühlt und habe wirklich mehrfach Schmunzeln müssen. Wahrscheinlich ist die Geschichte auch gar nicht so überzeichnet. Das Leben schreibt tatsächlich die besten Geschichten.
"Blut ist dicker als Wasser" und "Natürliche Schöhnheit kommt von innen" haben mich nachdenklich zurückgelassen. Wir leben in einer Überflussgesellschaft. "Man isst und isst und wird trotzdem nicht satt" und "verhungert". Was für ein bezeichnendes Gleichnis. Und ist in unserer Gesellschaft zwingend vorgegeben, wer wir sind oder was aus uns wird? Gibt es eine "Natur des Menschen"? Können wir tatsächlich nicht raus aus unserer Haut?
Das Buch wurde 2016 als Softcover im Periplaneta-Verlag veröffentlicht, einem ambitionierten Berliner Verlag mit Literaturcafè und wirklichen Visionen.
Auf den ersten Blick wirkt das Cover unspektakulär, überzeugt jedoch beim genauen Hinsehen mit liebvollen Details. Während die chillige Schildkröte ihr Leben genießt, könnte das der Fliege am oberen linken Bildrand bald zu Ende sein. Oder ist es doch ganz anders als es scheint? Vielleicht drehen sie das Buch einfach einmal auf seine Rückseite. Sie werden überrascht sein.
Auch die Gestaltung des Titels finde ich sehr gelungen und ich habe mich ein bisschen in den kleinen Scherenschnitt-Frosch im Buch unten rechts verliebt.
Der Scheibstil der Autorin ist - wie die Vielfalt ihrer Geschichten schon erahnen lässt - nicht durchgängig gleich. Mich hat das gar nicht gestört, weil es das Lesen abwechslungsreich und nicht langweilig werden lässt. Außerdem überzeugt die Autorin mit Wortwitz, Schlagfertigkeit und schwarzem Humor. Das alles macht dieses Buch einzigartig und unvergleichbar.
Fazit:
Mal etwas ganz anderes. Und weil ich es nicht besser selbst formulieren kann, an dieser Stelle ein Zitat von der Verlagsseite: "Denn es werden heute viel zu wenig gute Geschichten erzählt - also Geschichten, die die Menschen weiter bringen und nicht nur von ihrem Dasein ablenken. Mit Periplaneta soll man Spaß an der Erweiterung des Hochizontes haben, sich in Erzählungen wiederfinden können oder einmal etwas ganz anderes lesen, hören oder sehen, als das immerzu Gewohnte."
DAS hat mit diesem Buch geklappt. Meine absolute Leseempfehlung.