Die Wahrheit war eine Lüge
„Den leeren Platz in seinem Inneren nahm etwas Neues ein, etwas Ungeheuerliches, das ihn schreckte und von dem er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, dass es seine Vorstellungen von sich selbst, von der Zivilisation ...
„Den leeren Platz in seinem Inneren nahm etwas Neues ein, etwas Ungeheuerliches, das ihn schreckte und von dem er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, dass es seine Vorstellungen von sich selbst, von der Zivilisation und Menschenwürde unumkehrbar verändern würde.“
Inhalt
Vergangenheit: Der erfolgreiche Geiger Ilja Wassiljewitsch Grenko kehrt nach einem Auftritt im russischen Staatstheater nicht mehr nach Hause zurück. Seiner Grau Galina, die voller Sorge mit den beiden kleinen Söhnen auf ihn wartet, teilt man mit, dass sich ihr Mann ins Ausland abgesetzt hat und sein Versuch auch die Familie mitzunehmen, sei rechtzeitig vereitelt wurden, so dass für Galina nur noch ein Leben in der Verbannung bleibt, ob sie nun von den Plänen ihres Mannes wusste oder nicht, spielt dabei keine Rolle.
Gegenwart: Sascha Grenko, Enkel von Ilja folgt dem Hilferuf seiner Schwester Vika, die er nach dem Unfalltod der Eltern schon viele Jahre nicht mehr gesehen hat. Angeblich befindet sich ein Dokument von Wert in ihrem Besitz, welches die vergangene Familiengeschichte in ein ganz anderes Licht rücken könnte. Doch als Sascha zum Treffen mit Vika kommt, wird diese vor seinen Augen erschossen und kurz darauf befindet er sich selbst in Gefahr, denn auf dem Schreiben, welches er in einem Bankschließfach findet, verbirgt sich die Wahrheit über den Verbleib von Ilja Grenko und dieses Wissen ist nach wie vor tödlich …
Meinung
Die Deutsche-Krimi-Preis-Trägerin Mechtild Borrmann hat mich mit ihren Romanen und Kriminalfällen bisher nie enttäuscht, weil sie historische Fakten geschickt mit persönlichen Geschichten und spannenden Handlungen verwebt und dadurch nicht nur einen guten Unterhaltungswert schafft, sondern auch tief in die Abgründe der Vergangenheit blicken lässt und die dunklen Kapitel von damals wieder beleuchtet. Und auch dieses Buch hier reiht sich nahtlos in die Reihe meiner Lieblingsbücher ein, die man auch nach etlichen Jahren ein zweites Mal lesen kann.
Diesmal legt die Autorin den Schwerpunkt auf die Nachkriegszeit in der russischen Metropole Moskau, hinein ins Milieu der Künstler und Gebildeten. Jener Menschengruppe, die zwar offensichtlich für die Unterhaltung und Bespaßung weiter Bevölkerungsteile zuständig ist, die jedoch den Machtinhabern ein Dorn im Auge ist, weil sie für deren politische Ziele als tickende Zeitbombe agiert und bestenfalls ausgeschaltet gehört. In wechselnden Kapiteln nähert sich das Buch dem tatsächlichen Verlauf der Geschichte und den familiären Zusammenhängen an. Dabei wird der Leser in die angenehme Lage versetzt, auch die Erlebnisse des Ilja Grenkos aus erster Hand zu erfahren und damit sein persönliches Leid und das seiner Familie besser nachzuvollziehen. Ebenso präsent wirkt aber auch die Gegenwartshandlung, denn erst Sascha gelingt es, nicht nur den Verbleib der vermissten Geige seines Großvaters ausfindig zu machen, sondern auch das wahre Komplott aufzudecken, dessen Opfer all seine Familienmitglieder wurden. Denn obwohl Ilja selbstbestimmt den Tod in einem Arbeitslager wählte, auf Grund der Hoffnungslosigkeit, die ihn umgab, so haben seine Nachfahren versucht, der Wahrheit nahezukommen und mussten dass mit ihrem Leben bezahlen, da die Verantwortlichen sehr wohl ihre Schuld von damals konsequent vertuschen wollten.
Damit hat dieses Buch alles, was es braucht: eine spannende, klar umrissene Geschichte, eine interessante historische Hintergründigkeit und eine abenteuerliche, gefährliche Spurensuche, die das Genre Kriminalroman abdeckt. Der Text wird durch wechselnde Zeitebenen und diverse Protagonisten lebendig, besticht durch eine komprimierte Handlung, die sich nicht verzettelt und den Fokus ganz speziell auf die Familie Grenko lenkt.
Fazit
Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne und freue mich jetzt schon auf ein weiteres Buch der Autorin, denn ein paar bleiben mir noch, die ich bisher nicht gelesen habe. Dieser Kriminalroman eignet sich für alle, denen es mehr auf eine erzählbare Geschichte ankommt und weniger auf blutige Aspekte. Der Tod ist hier nur die unvermeidbare Folge einer großen Vertuschungsaktion, die ihre Wurzeln in der grausamen Willkür des Regimes hat. Aspekte wie Flucht, Verbannung, unmenschliche Lebensbedingungen und der Verlust aller Hoffnung sind mindestens genauso wichtig, wie die Spurensuche eines Einzelnen und den nie versiegenden Wunsch nach Gerechtigkeit und Aufklärung. Ein tolles, empfehlenswertes Buch, welches lange nachhallt und ein Ehrenplätzchen in meinem Regal bekommt.