Ein Buch, das definitiv mehr Aufmerksamkeit verdient hat
Inhalt:
Der ein wenig seltsame und aufgrund der im Kindesalter erlebten Gewalt lernschwache und stotternde Zoltán Kertész ist ein in seiner eigenen Welt lebender, kindlich gebliebener Philosophe. Indem ...
Inhalt:
Der ein wenig seltsame und aufgrund der im Kindesalter erlebten Gewalt lernschwache und stotternde Zoltán Kertész ist ein in seiner eigenen Welt lebender, kindlich gebliebener Philosophe. Indem er sich in der Natur verliert, liebevoll ein Lindenblatt streichelt, Ameisen beobachtet oder Kreuzworträtsel löst, entflieht er seinem oft sehr traurigen Alltag, in dem er überall aneckt und auf Widerstände stösst. Ausgerechnet er wird von seinem willensschwachen und lieblosen Vater und seiner Mutter, die scheinbar genug Liebe für alle Männer dieser Welt übrig hat, in die Jugoslawische Volksarmee geschickt, in der er Gehorsam lernen und in den Krieg ziehen soll.
Nur versteht Zoltán oft nicht, was überhaupt von ihm erwartet wird und gerät versehentlich mit seinen Vorgesetzten aneinander. Erst als er sich mit Jenő anfreundet, wird seine Welt wieder bunt, er fühlt sich verstanden und geschätzt. Doch ausgerechnet dieser eine Freund wird ihm genommen und so beginnt er, sich dem System komplett entgegenzustellen.
"Wem gehören wir? Dem Staat? Gott? Den Eltern? Der Luft? Uns selbst? Dem Tod?"
Schildkrötensoldat - Melinda Nadj Abonji
Meine Meinung:
"Schildkrötensoldat" hat mich mit seiner poetischen, musikalischen Sprache und seiner überwältigenden Wortgewalt gefesselt und berührt. Besonders angetan hat es mir die liebevolle Erzählweise, in der die Ich-Erzählerin Anna (von Zoltán immer Hanna gennant) von ihrem Lieblingscousin Zoltán spricht. Sie ist es auch, die sich auf Spurensuche in ihrer gemeinsamen Vergangenheit macht und sie ist es, welche in der Kaserne, in der er bis kurz vor seinem Tod stationiert war, nach dem "Warum" fragt.
"Schildkrötensoldat" ist aber auch deshalb so grossartig angelegt, weil alle Ereignisse, die während des Kroatienkriegs um 1991/1992 spielen, immer ganz knapp am Kriegsgeschehen vorbeischrammen. Die Stimmung ist zwar da, die Luft flirrt, die Soldaten wissen, was ihnen unweigerlich blühen wird, aber das Buch umgeht, ja, verweigert diese direkte Konfrontation, bezieht keine Stellung, lässt Zoltán um Vukovar herumkommen, stattdessen aber einen geliebten Freund verlieren und wieder zum Ausseinseiter werden. Abonji zeigt, wie sehr sie sich den Eierschalen der europäischen Geschichte, auf denen ihr Protagonist zu tanzen scheint, bewusst ist, wie sehr diese Ereignisse, die zwar da sind, aber nie ganz konkret geschildert werden, die Stimmungen und Lebensumstände ihrer Figuren beeinflussen. Und trotzdem schafft sie es, die Gräuel und Sinnlosigkeiten dieser Zeit aber auch Zoltáns persönliche Erlebnisse mit seinen Eltern und weiteren Mitmenschen mit einer gewissen Leichtigkeit und einem äusserst poetischen Humor zu erzählen. Sie zeigt auf, was neben den Schlachtfeldern existiert und lässt ihren philosophischen Helden, den man einfach mögen muss, uns allen die Welt aus seiner Sicht erklären und so entdecken wir Farben, Formen, Gerüche und Zusammenhänge, die uns ohne Zoltán für immer verborgen geblieben wären.
Schreibstil:
Zoltán und Anna erzählen uns die Geschichte und durch ein paar Zeitsprünge reisen wir stets zwischen ihrer Kindheit und dem jungen Erwachsenenalter hin und her. Während Zoltán stottert, sich verliert und immer wieder Gedankensprünge macht, ist Anna von ihrer Schlaflosigkeit und dem steten Konsum von Xanax ruhiggestellt und betrachtet ihre Welt durch einen dumpfen Nebel, der ihre Empfindungen zu dämpfen scheint.
Nicht nur schafft es Abonji also, ihren Figuren auch charakteristisch passende sprachliche Stilmittel zuzuordnen, sie vereint die unterschiedlichen Ebenen auch äusserst intelligent zu einem wundervoll konstruierten Ganzen, das mit seinen humorvollen, poetischen, kritischen und auch schmerzlichen Untertönen zu überzeugen weiss.
Meine Empfehlung:
Sprachgewandt und wortgewaltig setzt uns Melinda Nadj Abonji hier eine Geschichte vor, die es in sich hat, die berührt und mit philosophischem, leichtem Humor unterhält und die auf ihre ganz eigene, äusserst intelligente Weise mit einem düsteren Kapitel der jüngeren Zeitgeschichte umgeht und uns statt Kriegsgräueln einen Protagonisten bietet, der die Schönheit in den kleinen Dingen des Lebens findet.
Von mir gibt es eine sehr, sehr ausdrückliche Leseempfehlung für "Schildkrötensoldat".