Von der Fragilität der menschlichen Seele
Mein Spontankauf von Michela Murgia lässt mich nach einer ersten Ratlosigkeit ziemlich begeistert zurück. Sprachlich ist es in meinen Augen schlicht herausragend und schwer mit anderen mir bekannten Autor*innen ...
Mein Spontankauf von Michela Murgia lässt mich nach einer ersten Ratlosigkeit ziemlich begeistert zurück. Sprachlich ist es in meinen Augen schlicht herausragend und schwer mit anderen mir bekannten Autor*innen vergleichbar; die Übersetzerin Julika Brandestini hat hier richtig gute Arbeit geleistet. Virtuos spielt die Autorin mit der Sprache in der ich deutlich zu spüren meine, dass es eine andere als die meine ist, ein anderer Rhythmus und Klang. Sie besticht durch glasklare Einblicke in die Gefühlswelt der Protagonistin und eine beeindruckend wache, schonungslose Sicht auf das eigene Handeln und Fühlen sowie das Verhalten anderer.
Eleonora, eine erfolgreiche Theaterschauspielerin, ist 38 als sie den 18jährigen Musikstudenten Chirú trifft und sich seiner annimmt. Ihre Beweggründe bleiben dabei erst einmal ziemlich unklar, fast schwammig, und mir fiel es in der ersten Hälfte des Buches schwer, die Beziehung der beiden einzuordnen und das Lehrerin-Schüler-Verhältnis zu begreifen. Diese beiden Begriffe sind für mich stark geprägt durch die Schule und eher kindliche Hobbies wie Sport oder Musikunterricht, doch hier handelt es sich vielmehr um eine Art Gesellschaftskunde, eine Einführung in die (höhere) Gesellschaft, die Bildung des noch formbaren Charakters. Die gehobenen Kreise, in denen besonders Eleonora sich bewegt, spielen dabei eine zentrale Rolle; sind mir aber bisweilen so fremd, dass es seine Zeit brauchte, bis ich mich an die Dialoge gewöhnt und auch Sympathien für die Protagonisten entwickelt hatte.
Was macht uns und unser Handeln aus, macht uns zu dem, was wir heute sind? Welche Rolle spielt die Liebe, die Verletzung, welche die Ablehnung? Dieser schmale Grat, das Ausbalancieren von Glück und Gefahr, dem der Mensch sich in den Beziehungen zu anderen aussetzt; der Fragilität der menschlichen Seele widmet Michela Murgia sich in „Chirú“ mit Bravour. Sicher nicht mein letztes Buch der Autorin!