Von der Ungerechtigkeit der Ungleichheit
Macht und Magie, ein Reich kurz vor dem Umbruch und zwischen all´ dem Streben, Intrigieren und Chaos ein kleiner Junge auf der Suche nach seinem Platz in dieser Welt. Ein geniales Werk, dass sich der Ungerechtigkeiten ...
Macht und Magie, ein Reich kurz vor dem Umbruch und zwischen all´ dem Streben, Intrigieren und Chaos ein kleiner Junge auf der Suche nach seinem Platz in dieser Welt. Ein geniales Werk, dass sich der Ungerechtigkeiten unserer Welt annimmt und verdreht, durch bizarre Situationen darauf aufmerksam macht, wie viel man hinterfragungslos hinnimmt und zeigt, dass Ungleichheit vor allem eines ist: Ungerecht!
Wie ergeht es einem Jungen in einer matriarchalischen Welt, in der er zum schwachen Geschlecht gehört? Dieser Frage stellen sich Autorin und Buch - und wie erging es mir damit? Denn nachdem mich der erste Band so begeistern konnte, war die Erwartung an diese heißersehnte Fortsetzung natürlich riesig...
Und obwohl die Welt des Goldenen Reiches mir durch den ersten Band bereits bekannt war, konnte mich Monika Loerchner mit dieser Vision eines Matriarchats wieder begeistern und beeindrucken. Denn obwohl auch in diesem Reich Ungerechtigkeit und Ungleichheit existiert, ist die Heimat Helenas doch deutlich freier und fortschrittlicher, als patriarchische Gesellschaften: Hautfarbe und Herkunft, sexuelle Orientierung, Akzent - all´ das spielt in der Welt der Frauen keine Rolle (mehr). Eine Frau zu lieben ist einer anderen nicht nur erlaubt; es ist einfach nichts besonderes.
Interessant war es aber nun, durch Koljas Perspektive, der eines Jungen und damit in der sozialen Hierarchie ganz weit unten, diese Welt zu erleben. Denn nicht alles, was glänzt, ist auch Gold. Alle, die keine oder nur schwache Magie haben, werden im Goldenen Reich benachteiligt, sind potentielle Opfer von Gewalt. Magie heißt Macht und diese verformt auch den Charakter vermeintlich sozialer(er) Frauen.
Wieder genial fand ich, wie die Autorin durch scheinbar abstruse Situationen auf Ungerechtigkeiten und Vorurteile in unserer (heutigen) Welt aufmerksam macht - in der Bar wird dem "schwachen Mann" Sekt oder Cocktail statt hartem Alkohol angeboten, etwas ist "männerleicht", jede (nicht jeder!) hätte dieses oder jenes getan haben können und beim Vorstellungsgespräch wird der Mann ausgiebig zur privaten Situation befragt - die Befürchtung, er könne bald Vater werden und würde dann ja natürlich für einige Jahre ausfallen, weil er sich um das Kind kümmern wollen wird. Und das ganze Konzept des Buches: Nicht, wie für Fantasy üblich, ein (rothaariges)Mädchen mit verbotenen magischen Kräften versucht in der Männerwelt ihren Platz zu finden, sondern ein magieloser Junge muss sich als Frau ausgeben, um Gerechtigkeit zu erlangen. Die klare Botschaft: Die Einordnung, Stärke und Interessen vom Geschlecht abhängig zu machen, ist vollkommener Quatsch!
Mit seiner Entscheidung, allen Hindernissen zum Trotz, nach seinem Vater zu suchen, geht Kolja ein gewagtes Risiko ein und als Leser hält man immer wieder die Luft an - fliegt er auf?! Was geschieht dann mit ihm?! Schlussendlich wächst der "kleine Junge" aber an all´ den Herausforderungen und Gefahren, widersetzt sich dem Sog von Macht und Einfluss und findet seinen eigenen Weg; lernt mit seiner Vergangenheit und (alten) Wunden umzugehen. Ihn bei dieser Reise begleiten zu dürfen ist nicht nur aufregend, sondern ob seiner Entwicklung auch beeindruckend.
Während man mit Kolja mehr über das Goldene Reich, seine Regeln und Funktionsweisen lernt, erfährt man durch seine Erinnerungen und das Tagebuch einer zunächst unbekannten Frau gleichzeitig auch mehr über das verfeindete Große Moldawische Reich. Ein Reich, das grausamer, frauenverachtender und rückständiger kaum sein könnte und bei dem einem die Galle hochsteigt, wenn man von seinen Männern und Ansichten liest. Mit den Tagebucheinträgen habe ich regelrecht mitfiebern können, mal Schock, mal Verständnis, mal Ekel, mal Abscheu, mal Hass... und letztendlich zeigten sie, dass ein Mensch das Produkt seiner Geschichte ist. So verwerfenswert wir die Handlungen einer Person finden mögen - man sollte versuchen, die Motivation, die Gründe und den Kontext dieser nachzuvollziehen. So wie Helena sicher keine strahlende Heldin ist und auch Kolja nicht immer 100% moralisch korrekt handelt, so hat auch diese Frau ein Herz unter ihrer harten Schale.
Aus emotionaler Sicht habe ich eine absolute Lieblingsszene: Die am Ende (S. 400/1), in der Helena Kolja versucht zu trösten und ihm erklärt, dass man lernen kann, mit Schmerz weiterzuleben - weil er derjenige ist, der sein Leben leben muss, nicht alljene, die ihm Schmerzen oder Freude bereitet haben. Helena findet so berührende, so starke, so wahre Worte...
Wie schon in Band 1 verwebt Monika Loerchner verschiedene Erzählstränge gekonnt und geschickt miteinander - Koljas Suche nach seinem Vater, die Mission der Rebellen rund um Adrian, das Leben besagter Tagebuchschreiberin und die mysteriösen Morde in der Hauptstadt. Alles läuft letztlich zusammen...
Insgesamt ist dieses Buch nicht nur ein würdiger Nachfolger des großartigen Auftaktes, sondern auch ein eigenständiges Abenteuer. Man trifft alte Bekannte wieder, erfährt, was aus Figuren des ersten Buches (zum Beispiel Marzena oder der Bluthexe) wird, lernt aber auch neue Charaktere kennen. Der Autorin gelingt erneut, die Geschichte ohne unnötigen Cliffhanger in sich abschließen zu lassen und gleichzeitig die Neugierde auf den folgenden Teil zu schüren.
Jetzt freue ich mich aber, im zweiten Band meiner Helena wieder mehr zu begegnen - so erfrischend Kolja auch ist; die eiserne Ex-Gardistin mit ihrer direkten und scheinbar harten Art habe ich einfach ins Herz geschlossen! Und nach dem dramatischen, niederschmetternden Ende des ersten Bandes konnte ich zwar nun erfahren, dass sie ihr neues Leben meistert, aber in ihre Gefühlswelt und Gedanken möchte ich weiter eintauchen. Außerdem vermute ich, dass sie wieder eine wichtige Rolle spielen wird, in dem Aufruhr, der kommen wird. Hoffentlich kommt auch die schöne Heidrun nicht zu kurz!