Konnte mich leider nicht durchgehend fesseln
Vox"Ich bin eine Frau weniger Worte geworden."
Inhalt
Neurolinguistin Dr. Jean McClellan lebt mit ihrer Familie in einer von Männern bestimmten Welt. Die Bewegung der Reinen hat sich, Dank des Fundamentalisten ...
"Ich bin eine Frau weniger Worte geworden."
Inhalt
Neurolinguistin Dr. Jean McClellan lebt mit ihrer Familie in einer von Männern bestimmten Welt. Die Bewegung der Reinen hat sich, Dank des Fundamentalisten Reverend Carl Corbin, im ganzen Land durchgesetzt; eine Trennung zwischen Regierung und Religion gibt es nicht mehr.
Amerika hat sich in eine Zeit zurückentwickelt, in der Frauen nur noch so viel Wert besitzen, wie der Weg zwischen Ehebett und Herd lang ist. Sie wurden jeglicher Rechte beraubt und von der Regierung mit sogenannten Wortzählern ausgestattet, die Stromstöße abgeben, sobald die Frauen mehr als 100 Wörter am Tag sprechen.
Die Lage scheint hoffnungslos; doch als eines Tages der Bruder des Präsidenten erkrankt, bietet sich Jean plötzlich die Möglichkeit, nicht nur ihr eigenes, sondern das Schicksal aller Frauen im Land zu verändern - bliebe nur die Frage, wem sie dabei trauen kann.
"Die Frau hat keinen Anlass, zur Wahl zu gehen, aber sie hat ihren eigenen Bereich, einen mit erstaunlicher Verantwortung und Wichtigkeit. Sie ist die gottgewollte Bewahrerin des Heims...
Sie sollte voll und ganz erkennen, dass ihre Stellung als Ehefrau, Mutter und Engel des Heims die heiligste, verantwortungsvollste und königlichste ist, die Sterblichen zuteilwerden kann; und sie sollte alle Ambitionen nach Höherem abweisen, da es für Sterbliche nichts Höheres gibt."
Meinung
Dass Christina Dalcher in theoretischer Linguistik promoviert hat, war für mich vom ersten Moment an spürbar. Ich habe selten ein Buch gelesen, in dem sich jemand so klar ausdrückt.
Die Autorin "schwafelt" nicht herum, ihr Schreibstil ist akzentuiert und pointiert, manchmal etwas unterkühlt aber immer der Situation angemessen. Sprache ist ihre Stärke und sie bedient sich all ihrer Facetten: ist sachlich, leise, wortreich, flapsig, ernsthaft, laut, ausweichend, sarkastisch, liebevoll, direkt und schreckt auch nicht vor Kraftausdrücken oder Vulgarismus zurück.
Sie schreibt aus der Sicht einer intelligenten aber stinkwütenden 4-fachen Mutter und Ehefrau in einer frauenhassenden Welt und das macht sie auf ihre Art einfach großartig.
"Steven war im Wohnzimmer, als ich die Zwillinge ins Bett gebracht hatte, aß Eis und sah sich aufgezeichnete Reden von Reverend Carl an, der offenbar jetzt der Held meines Sohnes ist. Die beiden ergaben ein Paar, beide so standhaft in ihren Vorstellungen über die Rückkehr in eine frühere Zeit, ein Zeitalter, in dem Männer noch Männer waren und Frauen noch Frauen und in dem - Gloria, Gloria, scheiß-Halleluja - alles so viel leichter war, weil wir wussten, wo wir hingehörten."
Christina Dalcher hat eine von der Realität inspirierte erschreckende Welt erschaffen, die uns ermahnt hinzusehen, zu hinterfragen und nicht jedem dahergelaufenen Bock blind zu folgen. Sogesehen ist "Vox" bei Weitem kein schlechtes Buch und es gab mehr als einen Moment, wo mir kalte Schauer über den Rücken gelaufen sind.
Allerdings flacht der Handlungsverlauf mit der Zeit immer mehr ab. Die Autorin geht keine Risiken ein, bleibt bei dem was sie kennt bzw. weiß und schränkt den Handlungsspielraum ihrer Protagonistin ein. Von dem was sich außerhalb von Jeans, hauptsächlich auf Heim und Job begrenzten, Welt abspielt, bekommt man als Leser nur kleine Schnipsel präsentiert, die es mir schwer gemacht haben, das "Wie und Warum" nachvollziehen zu können. Wie kann es z.B. sein, dass sich diese religiöse Interessengruppe derart durchgesetzt hat und die Regierung soweit geht, Wortzähler zu verteilen und Homosexuelle in Arbeitslager zu verschleppen?
Vieles was in "Vox" angesprochen wird, hat in der Vergangenheit so oder so ähnlich stattgefunden, aber eine Welt zu erschaffen, in der die Schrecken der Gegenwart auf die Schrecken der Vergangenheit treffen, ohne auf die Hintergründe einzugehen, nimmt dem Ganzen für mich die Aussagekraft.
"Plötzlich sind mir der Stromschlag oder die Schmerzen gleichgültig. Wenn ich dabei weiter schreien kann, die Wut aufrechterhalte, das Gefühl mit Schnaps und Wörtern ertränke, wird dann der Strom weiterfließen? Mich umlegen?
Vermutlich nicht. Sie töten uns aus demselben Grund nicht, aus dem sie keine Abtreibungen bewilligen. Wir sind zu einem notwendigen Übel geworden, Objekte, die man vögeln, aber nicht hören soll."
Im Vergleich zu anderen feministischen Romanen, die in einer dystopischen Welt spielen, wie z.B. "Report der Magd" von Margaret Atwood oder "Die Gabe" von Naomi Alderman, hat "Vox" es leider nicht geschafft, mich durchgehend zu fesseln. Das erste Drittel war vielversprechend, aber im weiteren Verlauf wurde es insgesamt dann doch sehr holprig. Ich hatte das Gefühl, dass Christina Dalcher ab irgendeinem Punkt selbst nicht mehr so genau wusste, was für eine Geschichte sie eigentlich erzählen will und sich unsicher war, ob sie auf bekanntem Terrain bleiben oder sich in die Unsicherheiten eines kreativen Freigeistes begeben soll. Herausgekommen ist letztendlich eine bunte Mischung aus Beidem die keinen wirklichen Sinn ergibt und mich mit zu vielen Fragezeichen zurückgelassen hat; und auch die Auflösung am Schluss fand ich mindestens fragwürdig.
Trotz allem ist "Vox" aber ein Buch was ich weiterempfehlen würde, weil es den Blick auf eine mögliche Zukunft richtet, deren Entstehung darauf basiert, dass man es wiederholt zugelassen hat, dass die falschen Menschen die falschen Entscheidungen treffen.
"Monster werden niemals geboren. Sie werden gemacht, Stück für Stück und Glied für Glied, künstliche Kreationen Geisteskranker, die wie der fehlgeleitete Frankenstein immer glauben, sie wüssten es besser."
*an dieser Stelle ein ganz großes Dankeschön an den Fischer Verlag, der mir das Buch als unverkäufliches, unkorrigiertes Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat