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Veröffentlicht am 09.08.2019

Sexuell verfügbar?

Sexuell verfügbar
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Im Vorfeld hatte ich schon einige Ankündigungen zum Buch gesehen und mich deshalb umso mehr gefreut, ein Rezensionsexemplar zu bekommen. Dafür danke an den Verlag.

Wie immer ist das hier natürlich mein ...

Im Vorfeld hatte ich schon einige Ankündigungen zum Buch gesehen und mich deshalb umso mehr gefreut, ein Rezensionsexemplar zu bekommen. Dafür danke an den Verlag.

Wie immer ist das hier natürlich mein rein subjektiver und persönlicher Leseeindruck.

Sexuell verfügbar ist eins der Bücher, die grade wie Pilze aus dem Boden schießen: autobiografisch und gesellschaftskritisch.
Dabei ist es normal, dass man sich als Leserin nicht immer mit allem identifizieren kann. Bei diesem Buch war das Gefühl für mich allerdings besonders stark, was wohl zum einen daran liegt, dass ich komplett andere Erfahrungen gemacht habe und zum anderen an meiner gänzlich gegensätzlichen Einstellung zu Themen wie Intimität und Sexualität. (Obwohl ich mir da bei den ganzen Widersprüchen gar nicht mehr so sicher bin, dazu später mehr)

Das ist gleich zu Beginn so. Dort geht es um die Kindheit und Jugendzeit der Autorin, ihre Erfahrungen mit Mobbing (die ich ganz furchtbar finde) und auch um Sex und was das für sie bedeutet.
Ich möchte diese Gefühle nicht schmälern und nehme sie natürlich als Leserin so an, allerdings habe ich doch erhebliche Probleme, mich da so reinzudenken.
Es scheint etwas Großes zu sein, mit viel Macht, Glück und Unglück behaftet. Ich bin dagegen keine Frau, die das so sehr zerdenkt und dem eine solche emotionale Bedeutung beimisst.
Erschreckend sind dabei aber natürlich bestimmte Statistiken und Zahlen. Eine überwältigende Mehrheit der Frauen bekommt beim Sex nicht regelmäßig einen Orgasmus und lässt sich zu Sachen verleiten, die sie eigentlich gar nicht so richtig machen will. Für mich undenkbar und doch weiß ich, dass es stimmt, weil ich in meinem Leben mit sehr vielen Frauen sehr oft über solche Themen gesprochen habe.
Ich kann gar nicht ausdrücken, wie frustrierend es ist, wenn einem die Freundin erzählt, dass sie mit ihrem Partner Dinge tut, die sie blöd findet, die ihr gar nichts bringen, halt ihm zu Liebe. Und er weiß das auch. Und ich kann nichts machen.
Dieses Gefühl der Ohnmacht und das man andere Frauen manchmal gerne schütteln würde, lese ich auch bei der Autorin raus und das ist etwas, das ich so gut verstehen kann.

Nach der Beschreibung des Gefühls, das Sex in der Autorin auslöst, war ich ein bisschen verwundert über die beschriebene spätere Promiskuität im Studium, für die sie auch (leider... ich hasse das so) verurteilt wurde.
Es erschien mir erstmal ziemlich paradox und wollte nicht so recht zusammenpassen, allerdings sind Menschen sehr komplexe und oft nicht "logisch" zu verstehende Wesen und deshalb habe ich das nochmal überdacht. Ich mag es, wenn Bücher mich dazu anregen.

Womit ich dagegen nicht ganz so gut klar kam, war die ganze "I'm not like the other girls" - Rhetorik, die sich so durch die Schilderungen zieht.
Die Autorin inszeniert sich als Loner Girl und Bücherwurm, trägt lieber Männerhemden und hält nicht wirklich viel Make-Up.
Die Anderen, das sind (bis auf wenige Ausnahmen) die "Schmink-Tussis" und "Rosa-Zopf-Mädchen" (bei einer Kindheit in den 80ern und 90ern ein bisschen merkwürdig, weil damals eigentlich gar kein wirklicher Trend, aber okay).
Die Anderen, das sind die Bösen, die Mobberinnen... and don't I know it. Allerdings von der anderen Seite.
Ich habe mich immer gern geschminkt, mochte meine gefärbten und gestylten Haare, schöne Kleidung etc. Ich hatte immer gute Freunde. Ich bin aber auch der absolute Bücherwurm (wie man an meinem Profil hier unschwer erkennt) liebe Videospiele (fiktive Welten allgemein), stehe auf Comics und Mangas und japanische Rockmusik. In der Schule war ich die, die morgens mit roten, aber kajalumrandeten Augen ankam, weil sie die halbe Nacht den neuen Harry Potter Band gelesen hatte. Ich war die, die sich aus Klarsichtfolie kleine Taschen auf ihre Schultasche genäht und dort Bilder ihres japanischen Lieblingskünstlers drapiert hatte.
Oh, das war Mobbingpotenzial.
Allerdings fand das niemand meiner Altersgenossen schlimm. Meine Hobbies waren für sie zwar nicht nachvollziehbar, aber trotzdem vollkommen normal und okay.
Ich weiß, da hatte ich vielleicht Glück. Die Ausgrenzung und das Gemeinsein kamen dann aber trotzdem. Ich fand nämlich niemals den ersehnten Anschluss bei den "nerdigeren" Leuten, mit denen ich mich so gerne ausgetauscht hätte. Von einer "Freundin", die damals im alternativen, leicht punkigen Stil gekleidet und die einzige mit ähnlichen Interessen war, wurde ich ständig sitzen gelassen, hintergangen und indirekt als "hohl" und "Modepüppchen" beleidigt.
Auf Conventions und Messen wurde ich doof angeguckt und Freundschaften schließen war so gut wie unmöglich. Weil ich in eine Schublade gesteckt wurde, die höchstens (aber auch das nur bedingt) optisch zu mir passte, mit meinem Innenleben aber nichts zutun hatte.
Ich will damit nur sagen, dass auch die "Schmink-Tussis" und "Rosa-Zopf-Mädchen" keine eindimensionalen Strichfiguren sind, sondern komplexe Menschen, mit Hobbies, Träumen, Ängsten und Problemen.
Ich kann mir problemlos Wimperntusche auftragen und dabei mit einem Kumpel darüber streiten, ob nun - grobes Beispiel -Harrowmont oder Bhelen der bessere Herrscher der Zwergenstadt Orzammar in Dragon Age: Origins ist. Oder ob man sich den Sturmmänteln oder lieber dem Kaiserreich in Skyrim anschließen sollte.
Ich kann mir zarte Kleidchen anziehen und blondiert sein, während ich eine neue Sprache lerne und mich weiter in die Astrophysik einlese.
Man muss sich nicht entscheiden. Das geht alles zusammen.

Im Buch werden Neid, Missgunst und auch Hass unter Frauen sehr explizit und ausschweifend angesprochen. Das finde ich erstmal richtig und ich musste bei einigen Dingen auch nicken.
Ich bin zwar immer noch nicht ganz sicher, ob das wirklich so ein spezifisches Frauending ist (obwohl man an einer Stelle im Buch in Großbuchstaben angebrüllt wird, dass das alles belegt und bewiesen ist - fragt sich halt wie), oder ob in unserer Gesellschaft das selbe Verhalten bei den Geschlechtern einfach nur unterschiedlich bewertet wird (ich habe jahrelang in der Gastro gejobbt und was ich da an Gesprächen und Lästereien in reinen Männergruppen mitgehört habe, hat mich stark zum Nachdenken gebracht... ist halt leider nur anekdotische Evidenz und sagt im Grunde nicht viel aus), aber sei's drum.
Es ist jedenfalls ein großes Thema, grade im Feminismus. Im Gegensatz zur Autorin finde ich allerdings nicht, dass es einfach so abgetan oder gar geleugnet wird.
Ganz im Gegenteil, ich habe noch nie so viel Selbstreflexion und Hinterfragen des eigenen Verhaltens wie innerhalb feministischer Gruppierungen erlebt. Das mag an meiner Bubble liegen, klar.
Dennoch vermisse ich genau diese Dinge im Buch, bei der Autorin selbst. Die Fehler anderer werden sehr intensiv behandelt und aufgezeigt. Die Bösen sind hier die anderen (Frauen). Und ich komme nicht umhin, mich zu fragen, ob sie denn selbst immer so einwandfrei, korrekt, nett und super fair zu eben diesen anderen Frauen in ihrem Leben war.
Oder ob es da nicht mindestens eine gibt, die ähnliches zu erzählen hätte. Halt von der anderen Seite.
Die Sache ist nämlich die: Meiner Erfahrung nach gibt es eine große Schnittmenge von Frauen, die sich sehr laut und sehr vehement darüber beschweren, dass Frauen so fies sind und man keine echte Freundschaft aufbauen kann und denen, die selber nicht grade gut zu Frauen sind.
Als ich eine Bekannte zum ersten mal traf, sagte sie mir, dass sie sich so freue, dass wir uns gut verstehen, denn normalerweise könne sie ja überhaupt nicht mit Frauen. "Weiber sind die schlimmsten, Gott, ich hasse Weiber."
Ich war irritiert und wütend, aber auch zu nett (oder angepasst), um etwas Deutliches dagegen zu sagen. Stattdessen antwortete ich ihr, dass ich sehr gut mit Frauen könne, sie gelegentlich sogar liebe. Mittlerweile habe ich einige Freundschaften dieser Person zerbrechen sehen und unschuldig war sie daran nie. Eher im Gegenteil.

Bevor es doch noch so rüberkommt: Ich will natürlich nicht leugnen, dass es die sogenannte Stutenbissigkeit gibt. Überhaupt nicht. Und ich glaube auch, dass es stimmt, dass Frauen andere Frauen als weniger vertrauenswürdig und eher manipulativ sehen, als Männer. Dieses Buch ist der beste Beweis.
Aber vielleicht lese ich es auch falsch. Immerhin behauptet die Autorin ja auch, anderen Frauen die Hand zu reichen.
Aber ich bin definitiv hellwach, wenn ich was von "Schmink-Tussis" und "Rosa-Zopf-Mädchen" und "Lästerschwestern" und "Intrigantinnen" und "Bitchiness" lese.

Es gibt dennoch viele eindringliche und interessante Passagen. Manchmal hatte ich beim lesen der persönlichen Erfahrungen regelrecht Bauchschmerzen, was gut ist, weil mich das Geschriebene total erreicht hat.
Außerdem werden Dinge beleuchtet, über die ich so noch nie nachgedacht hatte. Das beispielsweise der Fokus auf Falschbeschuldigungen, wenn es um Vergewaltigungen geht, Menschen (vor allem Frauen) dazu bringt, ihre eigene Erfahrung zu hinterfragen und sich nicht mehr sicher zu sein, ob sie das überhaupt wirklich so erlebt haben und richtig einschätzen, klingt leider plausibel.
Ebenso wie die Schilderungen des alltäglichen Sexismus, den ich kenne, den meine Freundinnen kennen, den so gut wie jede Frau auf dieser Welt kennt.

Sexuell verfügbar ist im Endeffekt ein Buch voller Widersprüche (und das wird zum Schluss sogar erwähnt).

Auf einer Seite ist die Autorin genervt von Frauen, die einen semi-kritischen Spruch über Brust-OPs bringen (weil sie nämlich selbst eine hatte), auf der anderen kritisiert sie wiederum selber Frauen, die sich einem Schönheitsideal zu sehr anpassen.
Dabei darf man dann nicht vergessen, dass auch sie gefärbte Haare hat und auf Mode steht aber halt "auf die gute Weise", die was mit Kunst und Ausdruck zutun hat. Na dann.

Auf einer Seite weiß sie, wie schlimm es ist, betrogen und belogen zu werden, auf der anderen beschreibt auch sie eine Affäre mit einem verheirateten Mann (zwar nicht kritikfrei, aber eigentlich lese ich da nur wieder ganz viel Rechtfertigung raus).
Sie verzeiht sich, weil sie jung und naiv war, verlangt dann aber im nächsten Moment mit deutlichen Worten, dass Frauen aufhören müssen, Geliebte zu sein.

Auf einer Seite schreibt sie, dass Frauen harmoniebedürftiger sind, gerne deeskalieren und die Schuld bei zwischenmenschlichen Problemen bei sich selbst suchen, auf der anderen zeichnet sie das Bild der manipulativen, intriganten Schlange, die vor Bösartigkeiten nur so strotzt und Mittel und Wege kennt, andere zu zerstören.

Auf einer Seite berichtet sie von einem traumatischen Erlebnis mit Slut-Shaming unter Frauen, das wohl bis heute dazu führt, dass sie vorsichtig mit dem ist, was sie ausplaudert, wenn es um Sex und Liebschaften geht, auf der anderen wundert sie sich später, dass Mütter nicht offen über Sex und ihr Verlangen reden.
"Warum sagt denn niemand was?" heißt es da und ich denke mir, ja, vielleicht haben die ähnliches erlebt und möchten auch nicht verurteilt werden.

Auf einer Seite sollen Frauen zu ihrem Begehren stehen, auf der anderen wird die One-Night-Stand und Friends-with-Benefits Kultur kritisiert.

Auf einer Seite wird Solidarität unter Frauen verlangt, auf der anderen spöttisch auf die ehemaligen Klassenkameradinnen runtergeguckt, die zuerst heirateten, Kinder bekamen und ihre Karrieren auf Eis legten.

Es erscheint mir, offen gesagt, schwer überhaupt etwas zu finden, was man als Frau in den Augen der Autorin richtig machen kann.

In Rosales steckt eine Menge Frust und das ist okay. Ich teile ihn auch manchmal.
Ich muss mich beim Lesen eines solchen Buches nicht immer wohl fühlen, nein, ich verlange sogar mich ab und zu unwohl zu fühlen und zum Nachdenken gebracht zu werden. Das passiert hier gut.
Ich nehme das Geschriebene insgesamt als Bereicherung mit. Dennoch fehlt aber eben auch ganz viel. Vor allem Mut, eigene Fehler zu gestehen und weniger nachsichtig mit sich selbst zu sein, während man alle anderen gnadenlos abwatscht.

Veröffentlicht am 09.08.2019

Wie ist das Leben mit Vertrauensvorschuss

Was würdest Du tun?
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Tja, das bedingungslose Grundeinkommen. Ein Thema, das sicherlich polarisiert.
Um meinen Standpunkt gleich vorweg zu nehmen: Ich bin grundsätzlich eher dafür. Und das war auch vor dem Lesen dieses Buches ...

Tja, das bedingungslose Grundeinkommen. Ein Thema, das sicherlich polarisiert.
Um meinen Standpunkt gleich vorweg zu nehmen: Ich bin grundsätzlich eher dafür. Und das war auch vor dem Lesen dieses Buches schon so.

Inhaltlich geht es bei diesem Werk vorwiegend um das Projekt der beiden Autoren: 1000 Euro jeden Monat für ein Jahr für die Personen, die bei der Verlosung auf der Website gezogen werden. Bedingungslos. Finanziert wird das alles von Spenden, nicht vom Staat (wie in anderen Ländern, die dieses Modell austesten), denn eine Menge Menschen scheinen an die positiven und produktiven Effekte des Grundeinkommens zu glauben.
Dabei hatte es gar nicht mal so toll angefangen. Die ersten Gewinner wollten beispielsweise ihre Telefonnummern einfach nicht rausgeben und waren zu keinem Austausch bereit.
Das Geld einstecken war aber kein Problem und da ist er eben auch schon, der Nachteil an "bedingungslos". Das da Frustration aufkam ist nachvollziehbar.
Das Projekt ist an diesen Erfahrungen aber zum Glück nicht gescheitert, sondern ging erst richtig los.

Hier komme ich zu dem Teil, der ein bisschen persönlich wird, anders ist es für mich mal wieder unmöglich, anständig zu rezensieren und ich möchte auf eine Sache genauer eingehen.
Ich bin eine Person mit Hartz IV Erfahrung. Ich kenne das Gefühl, mit Bauchschmerzen den Briefkasten zu öffnen, kenne die Scham, wenn man erklären muss, dass man sich den Kinoabend nicht leisten kann, kenne die Wut, wenn man in einer Maßnahme für Schulden- und Suchtberatung sitzt, obwohl man nie Schulden oder eine Suchterkrankung hatte, und sich dann mit "gehen Sie da halt einfach hin, was anderes haben wir im Moment nicht" abgekanzelt wird.
Ich kenne die Beschäftigungstherapie-Maßnahmen in denen man bastelt und ich kenne den Stress und die Panik, wenn auf einmal schon sechs Monate rum sind und man einen Folgeantrag - natürlich mit Kontoauszügen, Privatsphäre gleich null - stellen muss.
Wegen all dieser Dinge war ich verdutzt, als ich eine der ersten Geschichten las, von einem Mann, für den sich gar nicht so viel verändert hatte, der aber beispielsweise seine (vorher nicht bezahlbaren) Konzertkarten aufbewahrte.
Die Autoren sind davon nicht so begeistert, müssen schlucken und dann akzeptieren, dass Menschen auch "doof sein, faul, verschwenderisch, konsumgeil" dürfen, wenn es wirklich bedingungslos sein soll. Diese Worte waren vielleicht nicht auf den Mann gemünzt (bzw. wird sich im Nachhinein sogar bei ihm entschuldigt), seine Geschichte war aber der Aufhänger dafür und darüber bin ich doch etwas wütend.
Konzertkarten sind für mich kein sinnloser Konsum, sondern Teilhabe am sozialen Leben und an Kultur. Dabei ist mir wurst, ob es sich um Bruno Mars oder ein André Rieu Klassikkonzert handelt!
Ich freue mich für diesen Mann, weil das, was er sich nun leisten konnte sicher zu seiner psychischen Gesundheit beigetragen hat.
Die ist bei ALG II Empfängerinnen und Empfängern nämlich nicht nur wegen entwürdigender Maßnahmen und so gut wie keiner Privatsphäre am Boden, sondern auch, weil man sich neben der Lebenserhaltung nichts mehr leisten kann.
Man überlebt. Kunst und Kultur gibt es nicht. Bildung auch nicht (ich konnte mir meinen Schwedisch-Unterricht beispielsweise nur dank Verwandtschaft leisten und das sollte man auf dem Amt lieber nicht erwähnen).

(Menschen, die ALG II beziehen, können bei der "Grundeinkommenslotterie" übrigens nicht mitmachen, weil sie sich beim Amt abmelden müssten und nicht mehr krankenversichert wären - es lohnt sich also nicht.)

Leider geht es dann erstmal so weiter, die Anschaffungen werden als unnütz abgetan, der Gewinn als "verkonsumiert".
Sich ein paar "anständige Wanderstiefel", ein Fahrrad oder endlich eine gute und funktionierende Waschmaschine zu kaufen... das kann auch nur jemand als "Geld verballert" abtun, der vielleicht noch nicht so richtig große Geldsorgen hatte.
Es wird wahnsinnig verurteilend, die Umweltschiene wird gefahren, weil sich Menschen Flugreisen buchen (selbst ich als links-grün-versiffte, radfahrende, nichtfliegende, vegetarische Umwelt-Trulla würde meinen Finger nicht so hoch heben).
"Das ernüchtert uns sehr" steht im Buch und ich frage mich, ja, was sollen die Menschen denn mit dem Geld machen?
Und was habt ihr erwartet?
Irgendwie kann ich jetzt die Menschen vom Anfang verstehen, die vielleicht genau vor dieser Verurteilung Angst hatten.

Und keine Sorge: Mir ist bewusst, dass bei den Autoren im Laufe der Zeit ein Umdenken stattgefunden hat und das im Buch auch so beschrieben wird, ja sogar von Scham ob dieser ersten Gedanken die Rede ist. Das finde ich auch sehr gut.
Trotzdem musste ich mich dazu nochmal äußern, auch für eventuell ähnlich Denkende, die sich vielleicht nur die Leseprobe schicken lassen und das Buch nicht kaufen werden.

Ein bisschen baff war ich aber auch, als ich las, dass ein Teilnehmer während der zwei Jahre ALG II, die er bezog, bis auf eine Maßnahme ja weitestgehend in Ruhe gelassen wurde und somit schon ein "fast bedingungsloses Grundeinkommen" gehabt hätte.
Die Kontoauszüge aller Konten, den Mietvertrag, alle Wertanlagen und -gegenstände, sowie das verdammte Bargeld, das man grade in der Tasche hat, offenlegen zu müssen ist dann wohl schon "fast bedingungslos".
Mal ganz abgesehen davon:
"Zwei Jahre Hartz IV, denken wir, das summiert sich inklusive Wohngeld auf etwa 24000 Euro."
Äh, welches Wohngeld? Wohngeld und Hartz IV gibt es nicht gemeinsam. Oder war die Miete gemeint? Und die 24000 Euro finde ich auch merkwürdig. Wurde da die Krankenversicherung mit reingerechnet?
Das irritiert mich umso mehr, da später im Buch noch ein ganzer Abschnitt zum Thema Hartz IV - und zu Sanktionsfrei - kommt, den ich respektvoll, informativ und nah an der Realität fand. Es geht also doch.
Vielleicht wurde versucht, das Umdenken einzufangen, ich habe es aber leider eher so empfunden, dass man sich hier selbst widerspricht.

Trotz meiner Kritik habe ich, wie man ja sehen kann, das Buch sehr gut bewertet. Die Geschichten der Personen, die bereits das Grundeinkommen gewonnen hatten, waren interessant, die Gedankengänge dieser (und der Autoren) dazwischen spannend - auch wenn man diese nicht immer teilt.
So habe ich das Buch mit den verschiedensten Gefühlsregungen gelesen, mal geschmunzelt und mich für die Menschen gefreut, mal wütend die Augen verdreht und mich gefragt, warum diese Person dort überhaupt mitgemacht hat.
Die Beschreibung des Drucks und der Existenzangst, die fast jede der vorgestellten Personen kannte (ich auch!), hat mich sogar ziemlich berührt und der Abschnitt über gewaltfreie Kommunikation zwischen Staat und BürgerIn sehr zum Nachdenken angeregt.

Und natürlich habe ich mir immer wieder zwei Fragen gestellt:

1. Sollen "reiche" Menschen das Geld auch bekommen und ab wann ist jemand "reich"? Darauf habe ich bisher für mich keine Antwort gefunden.

2. Was würde ich mit dem Geld machen?
Meinen größten Wunsch - einen höheren Bildungsgrad - könnte ich mit einem Jahr Grundeinkommen nicht finanzieren, da müsste es schon unbegrenzt sein.
Aber ich würde mir ein richtig gutes Fahrrad kaufen, das nicht ständig repariert werden muss. Sorry für's "verkonsumieren". Aber vielleicht ist es ja auch "Selbstfürsorge". ;)

Fazit: Ein Thema, mit dem sich unbedingt mehr Menschen auseinandersetzen sollten und das nicht einfach so mit einem Fingerzeig auf den "faulen Nachbarn/Kollegen/Bekannten/ ALG II Empfänger", der dann angeblich sowieso nichts mehr machen würde, abgekanzelt werden muss. Alles ist gut und verständlich geschrieben, es stellt sich schnell ein Lesefluss ein.
Ich bin froh, dass die Autoren machen, was sie da machen.
Dicke Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 09.08.2019

Nicht meins

Sarg aus Glas
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Ich muss gestehen, dass ich sowohl das Lesen dieses Buches als auch das anschließende Schreiben der Rezi vor mir hergeschoben habe.
Wer will in der Vorweihnachtszeit schon negativ sein?
Nun habe ich ...

Ich muss gestehen, dass ich sowohl das Lesen dieses Buches als auch das anschließende Schreiben der Rezi vor mir hergeschoben habe.
Wer will in der Vorweihnachtszeit schon negativ sein?
Nun habe ich aber etwas Luft und setze mich doch mal ran.
Ich möchte vorher aber noch betonen, dass ich die Leistung der Autorin überhaupt nicht schmälern möchte, auch wenn ich mit der Story eher nichts anfangen konnte.
Ich beschreibe hier wie immer meinen ganz persönlichen und subjektiven Leseeindruck.
Dabei werde ich nicht wirklich auf den Inhalt eingehen, weil ich finde, dass der Klappentext da schon recht aussagekräftig ist und vollkommen ausreicht. Den Rest sollte man selber erlesen.

Die große Anfangsschwierigkeit war es, überhaupt erstmal in die Geschichte rein zu finden. Die ersten fünf (!) Kapitel sind aus der Sicht von jeweils vollkommen unterschiedlichen Charakteren erzählt, was mich immer wieder rausgerissen und dafür gesorgt hat, dass ich nicht so richtig in einer Szene/Stimmung ankommen konnte.
Der ständige Narrativ-Wechsel tut auch dem Rest der Story in meinen Augen keinen Gefallen.
Zu viele Charaktere, die meisten sehr blass und/oder unsympathisch. Im Prinzip hätten am Ende alle sterben können, es wäre mir egal gewesen. Obwohl... vielleicht hätte ich mich sogar gefreut und einen zweiten Stern dafür vergeben.

Mein nächstes Problem waren die Namen.
Abgesehen davon, dass ich sie mir bis zum Schluss nicht alle merken konnte und manchmal nicht mehr wusste, wer das nochmal genau ist:
Die Vornamen klangen, als seien sie aus dem afrikanischen oder indischen Raum, die Nachnamen dagegen eher englisch - allerdings wirkte alles sehr ausgedacht und manchmal sogar etwas albern. Mir kamen die Geschichten in den Sinn, die ich als 13jährige so geschrieben habe, da kamen ähnliche Namenskreationen vor.
Und bei Kaminari musste ich immer an Kimahri aus Final Fantasy X denken, und habe sie mir dementsprechend als Ronso vorgestellt - mein Problem, ich weiß. :)
Natürlich kann es gut sein, dass ich hier einfach ignorant bin und sich die Autorin sehr viel Mühe dabei gegeben hat, Namen für ihre Figuren zu finden.

Das für mich größte Manko des Buches kann ich gar nicht so recht in Worte fassen. Es war einfach eine Grundstimmung, mit der ich mich überhaupt nicht anfreunden konnte.
Ich habe mich beim Lesen die meiste Zeit recht unwohl gefühlt und damit meine ich nicht das positive Unwohlsein, das beispielsweise bestimmte Geschichten mit unheimlichen Ton oder Thriller auslösen sollen, sondern noch mal was anderes. Vielleicht hat mich der Subtext gestört und die doch schon sehr durchscheinende Agenda abgeschreckt. Ich glaube, die Autorin und ich haben eine grundverschiedene Einstellung zu bestimmten gesellschaftlichen Themen (was interessant ist, weil es da neben ähnlicher Berufswahl auch noch das Zocken als Gemeinsamkeit gibt).

Ich finde es selber sehr schade, dass sich hinter dem sehr schönen Cover und der interessanten Prämisse für mich dann doch ein Flop versteckt hat, kann mir aber gut vorstellen, dass es genug Menschen gibt, die das anders sehen als ich. Und das ist auch gut so, denn ich wünsche allen immer grundsätzlich ein schönes Leseerlebnis - auch mit Büchern, die ich nicht mochte.

Veröffentlicht am 09.08.2019

Ganz viel Lese-Schmunzelei

Die Känguru-Apokryphen (Die Känguru-Werke 4)
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Bisher hatte ich bloß den ersten Teil der Känguru-Trilogie gehört und das nur, weil ich QualityLand so liebe, denn ursprünglich reizte mich daran eher nicht so viel.
Eigentlich habe ich sogar ziemlich ...

Bisher hatte ich bloß den ersten Teil der Känguru-Trilogie gehört und das nur, weil ich QualityLand so liebe, denn ursprünglich reizte mich daran eher nicht so viel.
Eigentlich habe ich sogar ziemlich lange einen großen Bogen um die Reihe gemacht, weil ich sie (und ich schäme mich, das zuzugeben) fälschlicherweise in einen Topf mit den schrecklichen Büchern von Kai Twilfer gesteckt habe.
Auf Empfehlung einer ganz tollen Frau hörte ich mich dann aber begeistert durch QualityLand - ohne zu wissen, dass es sich um den Autor handelt, der die Känguru-Bücher geschrieben hat - und bekam einen ziemlichen Schreck, als meine Ohren nach mehr verlangten.
Lange überlegen musste ich dann aber nicht mehr und nach einem weiteren wundervollen Hörerlebnis (und einer mentalen Ohrfeige für meine Vorurteile) hatte ich einen Lieblingsautor mehr.

Ich bin wie gesagt noch nicht dazu gekommen, mir die anderen Teile anzuhören. Da die Apokryphen aber mehr oder weniger außerhalb der Trilogie stehen, konnte ich nicht widerstehen, als es die Option zur Anfrage gab.

Das Beste an den Büchern sind für mich persönlich definitiv die kurzen und in sich abgeschlossenen Kapitel.
Ich fühle mich nicht gezwungen, noch ewig weiterzulesen, damit ich mich nicht aus der aktuellen Szene reiße - im Gegenteil: Ich kann mir alles super einteilen und deshalb waren die Apokryphen die letzten Abende meine perfekte Bettlektüre.
Allerdings endete das "ein kleines Kapitel noch" häufig in "drei kleine Kapitel noch" - aber dann immerhin freiwillig! :)

Man sollte es bei Geschichten, in denen ein sprechendes, kommunistisches Känguru die Hauptrolle spielt nicht meinen, aber das Identifikationspotenzial ist bei mir meistens ziemlich groß.
Eines meiner Lieblingskapitel ist z.B. "VX 2000", weil eben doch so viel Wahres im Überspitzten steckt und ich den Alptraum vom Handwerker, der für immer in der Wohnung zugange ist, absolut teile.

Interessanterweise gibt es neben allem Schmunzeln und Nicken auch immer Stellen, die mich ein bisschen zum Nachdenken bringen. Das gefällt mir sehr.

Was soll ich sagen? Ich liebe es einfach und ich freue mich jetzt umso mehr auf die zwei ausstehenden Hörbücher!

(Zu meinem eigenen Leidwesen gehöre ich zu den Personen, die meist dann nicht ganz so viel zu sagen haben, wenn ihnen etwas einfach nur so richtig gut gefallen hat, darum zum Abschluss bloß noch zwei Dankeschöns: eins an den Verlag, weil ich das Buch lesen durfte und eins an Marc-Uwe für's Schreiben (und Vortragen) so toller Geschichten).

Veröffentlicht am 09.08.2019

Für Fans des Genres

Skandal im Ballsaal
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Georgette Heyer steht schon ewig auf meiner To-Read-Liste, vor allem, weil einer meiner besten Freunde (ja, männlich) ein großer Fan ist. Und da er weiß, dass ich Jane Austen mag, liegt er mir seit Ewigkeiten ...

Georgette Heyer steht schon ewig auf meiner To-Read-Liste, vor allem, weil einer meiner besten Freunde (ja, männlich) ein großer Fan ist. Und da er weiß, dass ich Jane Austen mag, liegt er mir seit Ewigkeiten mit Heyer in den Ohren.
Als Skandal im Ballsaal nun also zur Anfrage verfügbar war, musste ich nicht lange überlegen.

Wir haben hier die Geschichte von Sylvester und Phoebe, die auf keinem guten Fuß miteinander starten.
Er such einfach irgendeine Frau, mit der es sich zumindest aushalten lässt, sie möchte nicht mit einem Mann verheiratet werden, den sie nicht ausstehen kann.
Als Sylvester dann zu Besuch kommt und alle davon ausgehen, dass er Phoebe einen Antrag machen wird, rennt diese Kurzerhand davon - wird aber von Syvester eingeholt.

Bei Büchern wie diesen, finde ich die Charaktere an sich meist spannender als die Story.
Es ist so interessant zu lesen, wie eine Frau, die 1902 geboren ist, über Männer, Frauen und Liebe schreibt.
Phoebe ist ein unkonventioneller Wildfang mit eigener Meinung und das ist etwas, das (zumindest für uns Lesende) als sympathisch gilt.
Es werden trotzdem bestimmte "weibliche" Attribute von ihr verlangt, während gleichzeitig "Modepüppchen" und "typische dumme Gänse" im Buch ständig abgewertet werden.
Schwierige Zeiten für Frauen, spannende Charakterisierung durch die Autorin.
Sylvester ist auf einer Seite sicher anziehend (zumindest ist er reich und sieht gut aus), aber auch das, was wir heute als Muttersöhnchen bezeichnen würden. Er erinnerte mich manchmal ein bisschen an John Thornton aus North & South.
Ich mochte beide Protas und hatte insgesamt viel Spaß dabei, ihre Gespräche zu verfolgen.

Kritikpunkte habe ich nur zwei eigentlich ganz kleine:
Zum einen sind manche Stellen ein wenig langatmig.
Zum anderen bin ich mit der Übersetzung nicht ganz warm geworden. Der Schreibstil hat mich nicht so richtig angesprochen, die Wortwahl manchmal irritiert und generell hat das alles ein wenig zu der Distanz beigetragen, die in dieser Art Geschichten ja sowieso manchmal ein Problem ist.
Zum Vergleich habe ich Venetia von Heyer, das noch ungelesen und auf englisch auf meinem Kindle lag, ein bisschen quergelesen und bin deshalb auf die Übersetzung als Ursache meiner Probleme gestoßen.
Das Englische hat mich in dem Fall deutlich mehr angesprochen, der Lesefluss war besser. Deshalb bleibe ich für die Zukunft wohl bei der Originalsprache, kann dieses Buch aber dennoch für Fans des Genres empfehlen!