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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 18.05.2022

Intensiv und ehrlich

Luftpolster
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Nach dem versuchten Selbstmord ihrer Schwester lässt sich die namenlose Protagonistin in eine Psychiatrie einweisen. Schon lange Zeit vorher hat sich der schlechte psychische Zustand der Schwester abgezeichnet ...

Nach dem versuchten Selbstmord ihrer Schwester lässt sich die namenlose Protagonistin in eine Psychiatrie einweisen. Schon lange Zeit vorher hat sich der schlechte psychische Zustand der Schwester abgezeichnet und die ganze Familie schwer belastet. Nun braucht die Protagonistin Abstand und Zeit für sich, um Schmerz und Trauer zu verarbeiten. Der immergleiche Ablauf der Kliniktage und die strengen Schlafens-, Essens- und Therapiepläne geben ihr dabei ebenso viel Halt wie die regelmäßigen Ausflüge in den Raucherraum und die Gespräche mit den anderen Patient*innen.

Die Handlung flackert hin und her zwischen der Gegenwart und Ausschnitten der Vergangenheit, die Einblicke in die Beziehung der Protagonistin zu ihrer Familie geben. Dabei wird schnell klar: Der Selbstmordversuch war nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte; Schwierigkeiten mit den Eltern und in der Schule sowie das Gefühl, mit dem eigenen Körper nicht zufrieden sein zu können, sind seit ihrer Kindheit ständige Begleiter der Protagnistin.
Die häufigen Wechsel der teilweise sehr kurzen Szenen und die konsequente Kleinschreibung im ganzen Roman mögen im ersten Moment irritieren, veranschaulichen aber sehr gut die Verfassung der Protagonistin. Der innere Konflikt, der Schmerz und die unausgesprochene Frage, ob sie nicht mehr hätte tun, mehr hätte da sein können, ob sie nicht überhaupt mehr sein müsste, beschäftigen die Protagonistin und bringen sie bis an ihre Grenzen. Vieles bleibt vage, Vieles bleibt unausgesprochen. Und doch, oder gerade deshalb, ist "Luftpolster" ein sehr intensiver, verdichteter Roman, über dem man beim Lesen komplett die Zeit vergessen kann.

Veröffentlicht am 08.03.2022

Hat mich nach kurzem Zögern überzeugt

Die Feuer
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Während in den Weiten Australiens die Feuer wüten, begegnen sich die drei Frauen Margot, Summer und Ivy im Theather. Sie alle haben sich vor ihren Ängsten und Sorgen in die Vorstellung eines Stücks von ...

Während in den Weiten Australiens die Feuer wüten, begegnen sich die drei Frauen Margot, Summer und Ivy im Theather. Sie alle haben sich vor ihren Ängsten und Sorgen in die Vorstellung eines Stücks von Samuel Beckett geflüchtet. Winnie, die Protagonistin des Dramas, steckt dabei hüftabwärts in einem Erdhügel und wird so zum regungslosen Ausharren in einem Zustand gezwungen, aus dem sie sich nicht befreien kann oder möchte, wodurch sie nach und nach ihren eigenen Verfall hervorruft.

Ähnlich wie Winnie ergeht es auch den drei Frauen im Publikum, die alle in einer komplizierten, unschönen Version ihres Lebens gefangen sind, aus der sie sich bislang aber nicht befreit haben: Margot ist Literaturprofessorin und muss die körperliche Misshandlung durch ihren dementen Mannes ertragen, während sich die Beziehung zu ihrem Sohn vor allem durch Distanz auszeichnet; die Studentin und Platzanweiserin Summer weiß nicht, wer ihr Vater ist, und muss um das Leben ihrer Geliebten fürchten, die sich in der Nähe dergroßen Feuer aufhält; Kunstmäzenin Ivy hat es zu großem Reichtum gebracht und kann damit doch nicht die Veluste der Vergangenheit aufwiegen.
"Die Feuer" ist eine solide Studie, eine Momentaufnahme dreier Frauen, die sich trotz aller Unterschiede in ihren Ängsten letztendlich gar nicht so unähnlich sind. Wie die Protagonistin des Theaterstücks sind sie gefangen in einem Zustand, der ausweglos erscheint, und schweifen aus dieser Situation heraus gedanklich immer wieder in die Vergangenheit. Doch anders als in Winnie, die sich wortwörtlich immer weiter eingraben lässt und ihre Lage leugnet, steckt tief in den drei Frauen die Kraft, sich zu befreien.

Erst jetzt im Nachhinein, während ich nochmal über den Roman nachdenke, wird mir bewusst, wie geschickt er konstruiert ist. In der Pause zwischen den Akten, dem Moment, in dem sich die drei Frauen begegnen - dieser Teil ist selbst in Dramform geschrieben -, wendet sich das Schicksal der Protagonistinnen. Und das, ohne dass es ihnen selbst oder mir beim Lesen sofort bewusst geworden wäre. Doch in dieser Begegnung liegt das Potential für sie, sich zu befreien, während Winnie auch im zweiten Akt die Notwendigkeit einer Entscheidung verleugnet.

Veröffentlicht am 26.02.2022

Beeindruckend erzeugte Atmosphäre

Tell
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Wilhelm Tell, so heißt der Protagonist von Schillers Drama, das auf dem Leben des gleichnamigen Freiheitskämpfers aus der Schweiz basiert. Doch ist es überhaupt nötig, einen Roman zu schreiben, wenn es ...

Wilhelm Tell, so heißt der Protagonist von Schillers Drama, das auf dem Leben des gleichnamigen Freiheitskämpfers aus der Schweiz basiert. Doch ist es überhaupt nötig, einen Roman zu schreiben, wenn es schon ein Drama gibt? Joachim B. Schmidt zeigt: Ja, ist es.

In kurzen Kapiteln aus wechselnder Sicht - insgesamt 20 Figuren sind es, deren Perspektive wir hier zu lesen bekommen - erzählt der Autor die Geschichte eines Mannes nach, der sich gegen die Macht des amtierenden habsburgischen Landvogts auflehnt und daraufhin zum Apfelschuss auf seinen Sohn gezwungen wird. Doch noch viel mehr als diese eine, bekannte Szene vermag Schmidt einzufangen: Es ist die Kulisse einer kargen Berglanschaft, die den Menschen zum Überleben alles abverlangt, kombiniert mit eigenwilligen, urig-skurrilen Charakteren, die die Atmosphäre des Romans ausmachen. Es herrscht eine Disharmonie, eine Abneigung zwischen vielen der Figuren vor, die mich schon in den ersten Kapiteln faszinieren konnte. Und dennoch ist es auch eine Geschichte der tief empfundenen Zuneigung, die hier erzählt wird. Tell selbst kommt dabei erst ganz am Ende des Romans zu Wort, bis dahin sind es die anderen Figuren, die zu ergründen suchen, was im Kopf des stillen, abwe(i)send wirkenden Mannes vor sich geht.

In wenigen Worten gelingt es Schmidt, einer ganzen Fülle an Charakteren erstaunliche Tiefe und Vielfalt zu verleihen, und das, obwohl auf die meisten selten mehr als ein oder zwei Seiten am Stück entfallen. Entgegen meiner Befürchtungen hatte ich nie das Gefühl, nur eine Aneinanderreihung von Fragmenten zu lesen; eher ist es ein großes Puzzle, das hier nach und nach entsteht, und bei dem nicht selten eine Episode der nächsten die Hand reicht und ein detailliertes, tiefsinniges Bild von Land und Leuten zeichnet. In solch kurzen Kapiteln eine derart eindrückliche Atmosphäre zu erschaffen, ist ganz große Kunst.

"Tell" ist für mich ein Roman, von dem ich mir nach "Kalmann" viel erhofft hatte und der meinen Erwartungen auch vollkommen gerecht werden konnte. Ich freue mich auf mehr von Joachim B. Schmidt!

Veröffentlicht am 19.02.2022

Gerne mehr davon

Wir sind das Licht
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Eine Frau verhungert, und das mitten in einer ganz normalen Wohnsiedlung und vor den Augen ihrer drei Mitbewohner. Nach Elisabeths Tod ist die Polizei ratlos - liegen hier Totschlag und unterlassene Hilfeleistung ...

Eine Frau verhungert, und das mitten in einer ganz normalen Wohnsiedlung und vor den Augen ihrer drei Mitbewohner. Nach Elisabeths Tod ist die Polizei ratlos - liegen hier Totschlag und unterlassene Hilfeleistung vor, oder hat Elisabeth eigenmächtig entschieden, keine Nahrung mehr zu sich zu nehmen?
Wer jetzt einen spannenden Thriller erwartet, ist hier an der falschen Adresse; Gerda Blees' Roman überzeugt auf einer ganz anderen Ebene. Denn statt ganz herkömlich eine oder mehrere Figuren zu Wort kommen zu lassen, sind es hier fast ausschließlich Gegenstände und Abstrakta wie etwa ein Brot, der Ermittlungsbericht oder die Zweifel, die die merkwürdige Geschichte der "Wohngruppe Klang und Liebe" nacherzählen. Und das funktioniert unfassbar gut.

Im Zentrum steht dabei Melodie, die Begründerin der Gruppe, die die anderen nach und nach ihrer eigenen Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit beraubt - und das auf eine so subtile, manipulative Art und Weise, dass man sich ihr kaum entziehen kann. Auch dann nicht, wenn nicht mehr nur die eigene Gesundheit, sondern auch das Leben an sich in Gefahr sind. Denn Melodie ist der festen Überzeugung, dass der Verzicht auf Nahrung vollkommen natürlich und förderlich ist, weshalb sie die Gruppe nach und nach auf eine reine Ernährung von Licht umstellen will - dass Elisabeth, Muriel und Petrus zum Zeitpunkt des ersten Zusammentreffens alle auf ihre Art psychisch instabil und damit sehr leicht zu beeinflussen sind, kommt ihr dabei sehr entgegen.
Durch die regelmäßigen Perspektivwechsel gelingt es der Autorin, ein extrem umfassendes und vielschichtiges Bild der vier WG-Mitglieder zu zeichnen. Als Leserin wahrt man stets eine gewisse Distanz zu den Figuren, erhält aber zugleich einen viel tiefergehenden Einblick in die Mechanismen ihres Zusammenlebens, als die Protagonistinnen selbst ihn hätten liefern können. Ich konnte beim Lesen vor lauter Unverständnis für Melodies Gedankenkonstrukt nur kontinuierlich den Kopf schütteln, und hätte dabei doch am liebsten sie selbst wachgeschüttelt.

Für mich war "Wir sind das Licht" ein unerwartetes Highlight, das ich sehr gerne empfehle!

Veröffentlicht am 17.11.2021

Einfühlsam und spannend geschrieben

Der Feuervogel von Istradar
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Firaya hat nur ein Ziel: Sie möchte den Feuervogel stehlen, eine wertvolle Insigne Istradars. Denn nur so kann sie die Zwietracht unter den Herrschern neu entzünden und ihr eigenes Volk vor großem Leid ...

Firaya hat nur ein Ziel: Sie möchte den Feuervogel stehlen, eine wertvolle Insigne Istradars. Denn nur so kann sie die Zwietracht unter den Herrschern neu entzünden und ihr eigenes Volk vor großem Leid bewahren. Als sie dem vermeintlichen Feuervogel erstmals nahe kommt, stellt sie fest - er ist gefälscht. Firaya entgeht nur knapp einer Verhaftung wegen ihres Einbruchs, und der Preis dafür ist ein gefährliches Bündnis mit der Gardistin Alina, die ihrerseits aus ganz anderen Gründen hinter dem Schatz her ist. Doch wer ist der Dieb, und noch viel wichtiger: Wo ist der Feuervogel?

Mit Alina und Firaya treffen zwei sehr unterschiedliche Frauen aufeinander, und dennoch stellen sie bald schon fest, dass sie mehr verbindet als nur die Suche nach dem Feuervogel. Beide Protagonistinnen sind sehr authentisch und waren mir auf ihre Art gleich sympathisch. Besonders spannend ist natürlich auch die Liebesgeschichte, die sich langsam zwischen den beiden entwickelt und die ich so viel besser und einfühlsamer geschrieben fand als so manche Hetero-Beziehung, kommt sie doch ganz ohne toxische Elemente aus und drängt auch den Plot nicht zu sehr aus dem Fokus. Auch auch der Schreibstil von Ria Winter macht es einem wirklich leicht, ins Buch hineinzufinden und lässt einen förmlich durch die Seiten fliegen.

Langweilig wurde es mir beim Lesen jedenfalls nie, und auch wenn ich leider nicht sofort Zeit für den zweiten Band finde, steht er ganz weit oben auf meiner Liste!