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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 17.09.2022

Ein Roman, der nachhallt

Die Kriegerin
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"Die Kriegerin" hat etwas, dem ich mich beim Lesen kaum mehr entziehen konnte (und das, offen gesagt, auch gar nicht wollte). Vielleicht sind es die Verletztheit und das langsame, vorsichtige Sich-Öffnen ...

"Die Kriegerin" hat etwas, dem ich mich beim Lesen kaum mehr entziehen konnte (und das, offen gesagt, auch gar nicht wollte). Vielleicht sind es die Verletztheit und das langsame, vorsichtige Sich-Öffnen der beiden Protagonistinnen, vielleicht die Schönheit der klaren Sprache, vielleicht das Gefühl, dass das alte Leben eigentlich doch nur ein Provisorium ist, ein Übergang, in dem man irgendwie steckengeblieben ist und sich jetzt fragt, warum eigentlich, und ob es da nicht noch mehr gibt, ob es da nicht noch Dinge zu entdecken gibt in den Weiten der Welt, am Ende vielleicht sogar sich selbst tief verborgen unter der alles erstickenden Decke der Vergangenheit, die erst Schicht um Schicht abgetragen werden muss wie die Kruste längst verschorfter Wunden, bevor darunter etwas Neues zum Vorschein kommen kann.

Als Lisbeth klar wird, dass sie die erdrückende Last der Mutterschaft und ihrer Neurodermitis nicht länger ertragen kann, flüchtet sie überstürzt an die Ostsee, den einzigen Ort, der ihr in ihrer Kindheit Linderung verschaffen konnte. Dort begegnet sie der Kriegerin, die sie vor Jahren während der Grundausbildung bei der Bundeswehr kennengelernt hat. Auch die Kriegerin ist auf der Flucht, doch wovor, das bleibt lange im Verborgenen. Klar ist, dass beide Frauen tief traumatisiert sind und schon vor langem einen Schutzpanzer umgelegt haben, und dass dieser inwischen so sehr Teil ihrer selbst geworden ist, dass er kaum mehr durchdrungen, geschweige denn abgestreift werden kann. Und obwohl dieser Panzer ihr Inneres vor der Außenwelt verbirgt, kann er die Frauen selbst nicht dauerhaft vor dem Einsturz des fragilen Konstrukts schützen, zu dem ihr Leben geworden ist.

Veröffentlicht am 16.09.2022

Große Erzählkunst

Schlangen im Garten
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Nach dem Tod von Johanne gerät die Welt ihres Mannes Adam und ihrer Kinder Steve, Linne und Micha aus den Fugen. Doch Zeit für Trauer gibt es kaum, hält man sich an die Regeln der Gesellschaft. Dass Familie ...

Nach dem Tod von Johanne gerät die Welt ihres Mannes Adam und ihrer Kinder Steve, Linne und Micha aus den Fugen. Doch Zeit für Trauer gibt es kaum, hält man sich an die Regeln der Gesellschaft. Dass Familie Mohn Johanne so schnell nicht vergessen und den Alltag wiederaufnehmen kann, weckt den Argwohn von Nachbarn und Traueramt - es besteht der Verdacht, dass die Trauer "verschleppt" wurde, wie eine Erkältung oder eine Grippe.

Wie schon Stefanie vor Schultes Debüt "Junge mit schwarzem Hahn" lebt auch ihr zweiter Roman von einer fantastischen, einnehmenden Sprache und ungewöhnlichen Bildern. So etwa ist es für Familie Mohn selbstverständlich, ungelesene und in Schnipsel gerissene Seiten aus Johannes Tagebüchern zum Abendessen zu verzehren, um der Verstorbenen nahe zu sein. Das ist ihr ganz eigener Umgang mit einer Trauer, die sich anfühlt wie ein riesiger Klumpen im Bauch und gegen die nichts anzukommen vermag.

Mit bemerkenwerter Präzision und Feinfühligkeit gelingt es der Autorin, Realität mit einer an Traumbilder erinnernden Phantastik zu verflechten. Eigensinnig und doch von verzaubernder Schönheit sowohl in Sprache als auch in zahlreichen der so entstehenden Szenen schafft sie einen Annäherungsversuch an die Themen Verlust und Trauer, der seinesgleichen sucht. Nicht alles daran ist immer nachvollziehbar und greifbar, aber das ist okay, denn auch die Trauer selbst ist etwas, was oftmals weit über unser Begreifen-Können hinausgeht.
"Schlangen im Garten" ist ungewöhnlich, ist bunt in seinen Bildern, poetisch in seiner Sprache. Es ist absurd und skurril und manchmal schwer zu durchdringen, aber es ist auch erfrischend in seiner Herangehensweise, einfühlsam und wärmend.
Ganz große Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 12.09.2022

Zwischen Utopie und Dystopie

Auf See
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Die Welt, in der die 17-jährige Yada lebt, ist im Untergang begriffen. Seit zehn Jahren lebt sie in der von ihrem Vater und einigen anderen gegründeten Seestadt, einer schwimmenden Stadt irgendwo in der ...

Die Welt, in der die 17-jährige Yada lebt, ist im Untergang begriffen. Seit zehn Jahren lebt sie in der von ihrem Vater und einigen anderen gegründeten Seestadt, einer schwimmenden Stadt irgendwo in der Ostsee. Das Festland nahezu unbewohnbar und ohnehin in unerreichbarer Ferne, folgt Yada einem festen Tagesplan mit eigens auf sie zugeschnittenen Ernährungs-, Fitness- und Unterrichtsplänen. Doch nach und nach beginnt die Realität in Yadas kleine Welt hineinzusickern und lässt sie die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Utopie und Dystopie hinterfragen.
Auf der anderen Seite haben wir Helena, die in Berlin als Orakel und Künstlerin gefeiert wird. Dank der sozialen Medien bekommt sie viel mehr Aufmerksamkeit als ihr lieb ist, und so flüchtet sie sich in Anonymität und die Arbeit an ihrem Archiv, einer Sammlung an wenig bekannten Texten über mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, eine eignene Nation zu gründen.

Gekonnt schreibt Theresia Enzensberger von Vertrauen und Zweifel, vom Erwachsenwerden in der Isolation und dem Hinterfragen vermeintlicher Wahrheiten. Ihr Roman wirft einen Blick tief hinein in die immer weiter aufreißende Kluft zwischen fortschreitender Entwicklung, Technologie & Co einerseits und dem Leben in größter Armut andererseits. "Auf See" skizziert eine Welt gefangen irgendwo zwischen Ideologie und Idealismus, Fanatismus und Neoliberalismus, die unserer Welt gar nicht mal so fern ist. Der Roman überzeugt vo allem durch die klugen Einwürfe und den Einblick in Helenas Archiv. Die Figuren selbst bleiben dabei ein wenig auf der Strecke und die Handlung durchläuft zwar einige Wendungen, lässt sich im Wesentlichen aber in wenigen Sätzen zusammenfassen; der Spannung und Tiefe tut das zwar kaum einen Abbruch, eine etwas stärkere Fokussierung auf Protagonistinnen und Storyline - besonders zum Ende des Buches hin - hätte dem Roman dennoch nicht geschadet.

Alles in allem ein solider, kluger Roman, der sich gut lesen lässt, letztendlich aber nicht vollkommen überzeugen konnte.

Veröffentlicht am 29.08.2022

Hält, was der Titel verspricht

Sanfte Einführung ins Chaos
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Dass das Thema "Schwangerschaftsabbruch" nicht immer mit Pauken und Trompeten besprochen werden muss, zeigt Marta Orriols in ihrem neuen Roman ganz wunderbar. Behutsam führt die Autorin an die Fragen und ...

Dass das Thema "Schwangerschaftsabbruch" nicht immer mit Pauken und Trompeten besprochen werden muss, zeigt Marta Orriols in ihrem neuen Roman ganz wunderbar. Behutsam führt die Autorin an die Fragen und Ungewissheiten heran, die mit einer ungeplanten Schwangerschaft einhergehen können. Im Zentrum stehen dabei Marta und Daniel, beide Anfang 30, beide mehr oder weniger zufrieden und erfolgreich in ihrem Job. Seit etwa 2 Jahren sind sie zusammen, das Thema "Kinder - ja oder nein" kam bisher nie auf den Tisch. Und dann, plötzlich, der positive Schwangerschaftstest.
Marta weiß: Sie will das Kind nicht.
Daniel weiß: Er will das Kind.

Was nun? Während der sechs verbliebenen Tage bis zum geplanten Termin in der Klinik begleitet man als Leserin das junge Paar. Dabei plädiert der Roman weder klar für die eine, noch für die andere Seite. Und das ist wunderbar erfrischend, weil man sich als Leserin nicht in die eine oder andere Richtung gedrängt fühlt, sondern Zeit bekommt, sich selbst ein Bild zu machen. Ganz ohne den Zwang, sofort ein Urteil fällen, eine Entscheidung treffen zu müssen.
Beim Lesen hatte ich das Gefühl, dass der Roman weniger ein "So-soll-es-sein" als vielmehr ein "So-ist-es-tatsächlich" skizziert. Denn ja, in der Realität haben wir selten das Privileg, uns nicht klar positionieren zu müssen; und dennoch, ich glaube, dass wir uns gerade deshalb häufig in gewisser Weise dazu verpflichtet fühlen, eine bestimmte Meinung anzunehmen. Weil diese Meinung die ist, die allgemein anerkannt ist. "Sanfte Einführung ins Chaos" verlangt das aber nicht von uns. Der Roman prangert nicht die an, deren Meinung anders aussieht. Statt zu sagen, wie wir die Dinge sehen und uns verhalten sollen, und alles an diesem Maßstab zu messen, zeigt Orriols die Ich-Bezogenheit und den Egoismus, der heimlich in vielen schlummert und aus dem Gefühl einer Pflicht zur Anpassung heraus in der Regel totgeschwiegen wird.

Sicherlich gibt es einige Punkte, die man am Roman kritisieren kann; dennoch finde ich, dass der Autorin hier eine gute und einfühlsame Heranführung an das Thema gelungen ist. Und genau das verspricht der Titel ja auch immerhin.

Veröffentlicht am 25.08.2022

Feine Nuancierungen

Intimitäten
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"Intimität" - ein Begriff, den wir im ersten Moment am ehesten mit zwischenmenschlichen Beziehungen in Verbindung bringen. Mit Gefühlen, mit "Einander-Nahekommen" und mit einem Zustand, der sehr schön ...

"Intimität" - ein Begriff, den wir im ersten Moment am ehesten mit zwischenmenschlichen Beziehungen in Verbindung bringen. Mit Gefühlen, mit "Einander-Nahekommen" und mit einem Zustand, der sehr schön sein kann, der aber unter Umständen auch schnell ein Zuviel mitsichbringt und dazu führt, dass Geborgenheit umschlägt in Zweifel bis hin zu Unwohlsein. "Intimität" ist kein absoluter Begriff, er hat tausend Nuancen, die sich in kürzester Zeit abwechseln können, ohne dass die Veränderung von außen sofort sichtbar wäre.
In ihrem Roman spielt Katie Kitamura mit den Feinheiten und Grenzen dieses Begriffs, mehr noch, sie wendet sie auf unsere Sprache im Allgemeinen an. Denn ebenso schnell, wie sich die Natur einer intimen Beziehung verändern kann, kann es auch unsere Wahrnehmung einer Person oder einer Handlung aufgrund dessen, welche Worte die Person wählt. Bemerkbar macht sich das vor allem immer dann, wenn wir uns mithilfe von Dolmetscher*innen verständigen müssen. Denn für die meisten Worte gibt es nicht "die eine, richtige Übersetzung" - es liegt stets auch im Ermessen desjenigen, der zwischen den Sprachen, zwischen den Menschen vermittelt, welche Wortwahl für angemessen erachtet wird. Und das kann mitunter große Auswirkungen auf das Bild haben, das wir von einer Person oder ihrer Handlung bekommen.

Mit all diesen Schwierigkeiten - den zwischenmenschlichen, den sprachlichen - sieht sich Kitamuras namenlose Protagonistin konfrontiert. Frisch aus New York nach Den Haag gezogen und noch neu in ihrem Job als Dolmetscherin für Kriegsverbrecher am Europäischen Gerichtshof, muss sie bald feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, für beides das richtige Maß zu finden. Nicht für die Geschwindigkeit der Annäherung an eine Person und das Aufbauen von Nähe, und auch nicht für das Außenvorlassen subjektiven Empfndens beim In-Worte-Fassen von Taten, die an Grausamkeit ihresgleichen suchen.

In leisen Tönen und feinfühliger Sprache zeichnet Kitamura die Gefühlswelt einer jungen Frau nach und spielt dabei gekonnt mit den schillernden Facetten menschlicher Empfindungen und den zarten Nuancen der Sprache. Ein Roman, der nicht nur problemlos ohne klar festgelegte, greifbare Grenzen auskommt, sondern gerade mit dem Aufzeigen der Schwierigkeiten überzeugt, die mit einer solchen Fragilität und Vagheit einhergehen.