Profilbild von Anna625

Anna625

Lesejury Star
offline

Anna625 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Anna625 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 15.07.2024

Jahreshighlight

Mitternachtsschwimmer
0

Eskapistische Romane sind gerade in Mode. Oder vielleicht häufen sie sich auch aktuell einfach nur in meinem persönlichen Leseverhalten? Roisin Maguires Roman jedenfalls reiht sich wunderbar unter seinesgleichen ...

Eskapistische Romane sind gerade in Mode. Oder vielleicht häufen sie sich auch aktuell einfach nur in meinem persönlichen Leseverhalten? Roisin Maguires Roman jedenfalls reiht sich wunderbar unter seinesgleichen ein, oder, vielleicht treffender: sticht deutlich daraus hervor. Nicht einmal wegen der Story an sich, denn die ist eigentlich recht klassisch: Ein schwerer Schicksalsschlag führt nicht nur Evans Beziehung bis an ihre Grenzen, sondern auch ihn ins kleine Küstendörfchen Ballybrady. Hier mietet er sich in ein windschiefes Airbnb ein und lungert auf dem Sofa herum. Bis er seiner Vermieterin Grace begegnet, die wahrhaftig eine Erscheinung für sich ist - unförmiger, riesiger Poncho, ruppig und fluchend, nachts nackt im Meer schwimmend, und das bei den Temperaturen!

Und da wären wir auch schon am Kern der Faszination angelangt, die "Mitternachtsschwimmer" ausübt: die Figuren. Evan, sein kleiner Sohn Luca, der später hinzukommt, allen voran Grace und auch so manche Nebenfigur ziehen einen beim Lesen schnell in den Bann. Da fällt es kaum auf, dass man am Anfang der Geschichte nicht recht weiß, wohin sich das entwickeln soll - ehe man sich's versieht ist man mittendrin und will am liebsten auch gar nicht mehr raus.
Die Nähe zur Natur, die rauen Küstenlinien, das Meeresrauschen, der Geruch nach Fisch und Salz und die Gezeitentümpel voller wimmelden Lebens, aber auch die Eigentümlichkeit der Dorfbewohnerinnen, insbesondere die Exzentrik Graces, lassen einen ganz tief eintauchen in diesen Roman. Kein Wunder, dass Evan, der eigentlich nur ein paar Tage dem Alltag entfliehen wollte, Woche um Woche in Ballybrady verbringt und gar nicht merkt, wie die Zeit verfliegt!

Wirkt der Roman auch am Anfang unnahbar und abweisend - passenderweise exakt wie seine Protagonistin -, offenbart sich sehr schnell eine ganz andere Seite. Die Figuren tasten sich vorsichtig aneinander an, und als Leser
in fühlt man sich bald schon als Teil dieser zarten Freundschaft, die sich da entspinnt.
Einfühlsam und wild, zart und ruppig ist Maguires Roman. Und dabei jetzt schon ein Jahreshighlight für mich. Ganz große Empfehlung!

Veröffentlicht am 03.07.2024

CoA zum Abtauchen

Die Sache mit Rachel
0

Mit Anfang 30 blickt Rachel zurück auf ihre frühen 20er. Damals hat sie neben dem Literatur-Studium unterbezahlt in einem Buchladen gejobbt, in dem sie auch James kennenlernt. Die beiden werden schnell ...

Mit Anfang 30 blickt Rachel zurück auf ihre frühen 20er. Damals hat sie neben dem Literatur-Studium unterbezahlt in einem Buchladen gejobbt, in dem sie auch James kennenlernt. Die beiden werden schnell beste Freunde und gehen gemeinsam durch dick und dünn; dass es in der gemeinsamen Wohnung etwas chaotisch zugeht und vor allem meistens ziemlich kalt ist, spielt keine Rolle - sie sind jung, die ganze Welt steht ihnen offen. Als Rachel und James gemeinsam eine Lesung mit Rachels Literaturprofessor Dr. Fred Byrne organisieren, in den sie schon seit einer ganzen Weile mehr oder weniger heimlich verliebt ist, kommt alles ganz anders als geplant. Denn es ist nicht Rachel, die Dr. Byrne näherkommt - sondern James.

"Die Sache mit Rachel" ist eine klassische Coming-of-Age-Geschichte, die sich besonders in der ersten Hälfte regelrecht verschlingen lässt. Einmal kurz das Buch aufgeschlagen, und plötzlich sind 2 Stunden vergangen. Gegen Ende verliert das Ganze dann leider etwas an Fahrt und droht mehrmals, ins Belanglose abzudriften - sehr schade, denn das Tempo des Anfangs war klasse. Trotzdem kann man problemlos eintauchen in Rachels und James' Geschichte und möchte den Roman am liebsten am Stück verschlingen. Es geht um die klassischen Fragen und Themen des Erwachsenwerdens, um die Ausbildung der eigenen Identität, um Liebe, Geldnot, Angst vor der Zukunft, Hinter-Sich-Lassen der Kindheit und um Freundschaft. Trotz der ein oder anderen Länge hätte ich den Roman noch eine ganze Weile weiterlesen können, denn er ist wunderbar einfühlsam geschrieben und porträtiert sehr authentisch das Leben zweier junger Menschen, die zwar nicht immer sympathisch in ihren Entscheidungen sein mögen, mit denen man aber trotzdem sehr gut mitfühlen kann.
Ein schöner Roman mit ein paar kleineren Schwächen, der sich super zum Abtauchen eignet!

Veröffentlicht am 12.06.2024

Philosophische Dystopie

Die Stimme der Kraken
0

Rund um das Archipel Con Dao wurde ein Fangverbot verhängt. Schiffe, die dies ignorieren, laufen Gefahr, abgeschossen zu werden, denn vor kurzem wurde in den Gewässern nahe der Insel eine außergewöhnliche ...

Rund um das Archipel Con Dao wurde ein Fangverbot verhängt. Schiffe, die dies ignorieren, laufen Gefahr, abgeschossen zu werden, denn vor kurzem wurde in den Gewässern nahe der Insel eine außergewöhnliche Krake entdeckt - eine Tatsache, die der Großkonzern Dianima lieber geheimhalten möchte und das Fangverbot daher mit dem Plädoyer für mehr Naturschutz begründet. Nur sehr wenige Personen haben Zutritt zur Insel: unter ihnen der beste Android, der je gebaut wurde, eine skrupellose Sicherheitsbeamtin und die Meeresbiologin Dr. Ha Nguyen. Der Fokus des Romans liegt mal auf ihnen und ihrer Forschungsarbeit, mal auf Hacker Rustem und mal bei Eiko, der mit einer handvoll anderer Menschen als Sklave auf einem KI-gesteuerten Fangschiff festgehalten wird.

Klingt düster? Ist es auch. Der Roman ist eine Mischung aus Sci-Fi und Dystopie, im Zentrum steht die Frage danach, was intelligentes Leben ist und was dessen Existenz für den Menschen bedeutet. Die Technik in der Welt, die hier gezeichnet wird, ist unserer weit voraus; beispielsweise gibt es Androiden, die als eine Art "imaginärer Freund" bzw. Partnerersatz fungieren und individuell angefertigt werden, und die in ihrem Verhalten und Denken (Denken??) so echt wirken, dass kaum jemand mal ihre Grenzen offenlegt. Drohnen, die mit einem Menschen verbunden sind und von diesem durch bloße Gedanken oder minimale Muskelanspannungen äußerst präzise ferngesteuert werden können. Schiffe, die eine Art eigenes Bewusstsein haben und selbst entscheiden, wo gefischt werden soll; die sogar aus Eigeninitiative heraus ihre Besatzung - bestehend aus menschlichen Sklaven, versteht sich - einfach so töten können.

Dann wäre da noch jener eine Android, der sich durch nichts von einem Menschen unterscheidet. Der jeden Turing-Test spielend besteht. Dessen Gefühle so echt sind, dass er selbst an sie glaubt. Bei dem man sich unweigerlich zu fragen beginnt: Wo verläuft die Grenze zwischen Mensch und Maschine? Was definiert einen Menschen, wenn auch eine Maschine dazu in der Lage sein kann, wie ein Mensch zu denken, zu empfinden, zu sprechen? Wenn sie Humor hat und tiefe Trauer empfinden kann, wenn sie Freundschaften schließen und verletzt werden kann? Wenn ihre Haut sich warm anfühlt? Was ist dann noch der Unterschied, wo ist die Grenze, was macht uns als Menschen aus?

Und dann haben wir: eine Krakenart, die möglicherweise gerade den nächsten Evolutionsschritt bewältigt hat. Die beginnt, zu kommunizieren. Die eine Sprache entwickelt. Die Erlerntes an ihre Nachfahren weitergibt. Die Kunst schafft, die eine Kultur aufbaut. Die mit einem Mal unser Monopol auf Herrschaft infragestellt.

Obwohl der Roman also dystopische Sci-Fi ist, ist er zugleich auch zutiefst philosophisch. Von der ein oder anderen Länge abgesehen, war ich sehr angetan von dieser Geschichte, die einerseits düster und beängstigend, stellenweise beinahe beklemmend ist, andererseits aber auch faszinierend, spannend und überraschend tiefgründig. Zwar entsteht zu keiner der Haupt- oder Nebenfiguren ein engeres Verhältnis (vielleicht auch einfach, weil der Roman ein sehr breites Themengebiet abdeckt; die Charaktere leiden darunter ein wenig, vermutlich hätte das Buch etwa doppelt so dick sein müssen), trotzdem liest es sich ausgesprochen gut. Die Hintergründe der Welt, in der die Geschichte spielt, bleiben zu großen Teilen im Dunkeln; das hätte gerne noch etwas ausführlicher beschrieben werden können. Wie gesagt hätte das Buch dann aber wohl auch spürbar dicker sein müssen, von daher ist das wohl akzeptabel. Eine spannende Lektüre ist "Die Stimme der Kraken" auch so allemal - gerade angesichts der sich heute immer schneller entwickelnden Technik und auch der Frage danach, wer wir als Menschen sind, sein wollen, sein können, und weshalb genau wir eigentlich davon überzeugt sind, die "Krone der Schöpfung" zu sein.

Veröffentlicht am 01.06.2024

Zeitreisen

Das andere Tal
0

Die Welt hat Grenzen, denn jenseits des Tals gibt es nichts - der Zaun ist gut bewacht, die Flucht nahezu unmöglich. Es gibt keine anderen Kontinente oder Länder oder auch nur fremde Städte, die sich besuchen ...

Die Welt hat Grenzen, denn jenseits des Tals gibt es nichts - der Zaun ist gut bewacht, die Flucht nahezu unmöglich. Es gibt keine anderen Kontinente oder Länder oder auch nur fremde Städte, die sich besuchen ließen. Und doch stimmt das so nicht ganz, denn an den Rändern des Tals fällt man nicht ins Nichts, endet das Universum nicht einfach plötzlich, im Gegenteil: Es erstreckt sich bis ins Unendliche nach Osten und nach Westen. Würde man, könnte man, entlang dieser Achse reisen, dann käme man immer und immer wieder ins selbe Tal, dieselbe Stadt am See im Wald - nur jedes Mal 20 Jahre mehr in der Zukunft oder der Vergangenheit. Wie Perlen an einer endlos langen Kette reihen sich so die Täler aneinander, und in jedem leben dieselben Menschen (oder deren Urahnen oder Nachkommen).

Doch, wie gesagt: Der Zaun ist gut bewacht, und wer ihn überqueren will, muss einen Antrag stellen und hoffen, dass dieser bewilligt wird. Besuche in anderen Tälern sind in seltenen Fällen erlaubt, etwa, um Verstorbene noch einmal zu sehen. Doch sie sind immer eine Gefahr, und zwar für alle, denn was, wenn man etwa in der Vergangenheit erkannt wird oder absichtlich oder unabsichtlich den Lauf der Dinge ändert, sodass plötzlich Gegenwart und Zukunft ausgelöscht und durch neue Realitäten ersetzt werden?

Odile steht fast am Ende ihrer Schulzeit. Für sie entscheidet sich nun, welchen Lebensweg sie weiter gehen wird, und sie bewirbt sich mehr aus dem Ehrgeiz ihrer Mutter heraus denn aus eigenem Antrieb für eine Ausbildung beim Conseil. Und tatsächlich, Odile hat Glück und darf das strenge Auswahlverfahren antreten. Jede Woche werden Teilnehmer*innen ausgesiebt, während sie alle um eines kämpfen: bis zum Ende ausgebildet zu werden, um in alle Geheimnisse der Täler eingeweiht zu werden und fortan die Entscheidung darüber treffen zu dürfen, wessen Reiseanträge genehmigt werden.

Und Odile hat Talent, es läuft gut für sie. Dann jedoch kommt es zu einem Zwischenfall: Sie begegnet den Eltern ihres Schulfreundes Edme. Nicht etwa jenen der Gegenwart, sondern jenen der Zukunft. Und das kann nur eines bedeuten: Edme wird sterben.
"Das andere Tal" ist eine Mischung aus Jugendbuch und Dystopie, Coming of Age und Zeitreiseroman. Odile muss sich mit den klassischen Teenager-Problemen herumschlagen: Mobbing und Außenseitertum, sich langsam offenbarenden Gefühlen, der Frage nach dem, was die Zukunft bereithält. Das liest sich wunderbar, ist jedoch noch lange nicht alles. Denn nach und nach wird offensichtlich, dass diese so normal, ja beinahe idyllisch anmutende Welt so toll dann doch nicht ist: Grenzpatrouillen, Wachtürme und bewaffnete Gendarmen überall, wenn man nur genau genug hinschaut (was die meisten aber lieber nicht tun). Keine Gnade für jene, die kein Glück mit ihrer Ausbildungswahl hatten oder jene, die sich den Gesetzen entgegenstellen. Und zwischen alledem Odile, die weiß, dass die Grenzen zu Vergangenheit und Zukunft in greifbarer Nähe liegen; Odile, die weiß, dass der Junge, in den sie sich gerade verliebt, sterben wird.
.
Howards Roman ist ein Gedankenexperiment, das die Frage danach stellt, was wäre, wenn ebendiese Grenzen zu Vergangenheit und Zukunft überwindbar wären. Dabei ist der Roman sehr nachdenklich und manchmal auch sehr verwirrend, und man muss beim Lesen sehr mitdenken, welche Ereignisse zeitlich wie durch andere bedingt sind und was kausal auseinander folgt oder eben nicht. Ob das tatsächlich an allen Stellen immer ganz logisch war, kann ich nicht mit abschließender Gewissheit sagen, aber eines war es auf jeden Fall: spannend. Und das nicht im Sinne dessen, dass sich auf jeder Seite die Ereignisse überschlagen, denn eigentlich ist der Roman die meiste Zeit über recht ruhig, etwa, wenn wir Odile dabei begleiten, wie sie im Wald sitzt und ihre Aussicht mit dem Messer auf einer Holzplatte verewigt. "Spannend" war für mich eher der nachdenkliche, philosophische, zum Mitdenken anregende Aspekt des Romans, und letztendlich ist es genau diese Mischung, die interessante Welt, das Sich-Selbst-Gedanken-Machen und das Ruhige, in Kombination mit der schönen Sprache, die mir an diesem Roman unglaublich viel Spaß gemacht hat.
Nach einem solchen Debütroman bleiben nur zwei Dinge zu sagen: 1. Leseempfehlung, und 2.: Ich bin sehr gespannt, was da noch so kommt!

Veröffentlicht am 19.04.2024

Meerliebe

Was das Meer verspricht
0

Landflucht gibt es auch auf Inseln, und so ist Vidas Bruder Zander nur einer von vielen, die nach dem Abitur die kleine norddeutsche Insel hinter sich lassen und sich ein Leben in der Stadt aufbauen. Vida ...

Landflucht gibt es auch auf Inseln, und so ist Vidas Bruder Zander nur einer von vielen, die nach dem Abitur die kleine norddeutsche Insel hinter sich lassen und sich ein Leben in der Stadt aufbauen. Vida stattdessen bleibt mit ihren Eltern zurück, ihre Rolle ist mit dem Fortgang des Bruders geklärt - irgendwer muss immerhin den kleinen Laden übernehmen. Nicht nur, weil es ohnehin schon kaum mehr Bewohner gibt und der Laden einen wichtigen Versorgungspunkt darstellt, sondern auch, weil die Arbeit der Eltern fortgeführt werden soll. Das war von Anfang an klar für Vida, nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, ihre Zukunft zu hinterfragen; wäre da nicht eines Tages Marie aufgetaucht, denn einsame Orte mögen zwar viele Menschen vertreiben, ziehen andere jedoch wie magisch an.

Und Magie und Marie scheinen überhaupt nah zusammenzuhängen, was nicht nur an dem merkwürdigen Meerjungfrauenkostüm liegt, mit dem Marie zum Entsetzen der Inselbewohner (die keine 10 Seepferdchen ins Wasser bekommen würden) selbst im Winter das Meer unsicher macht; sie übt außerdem schon bald eine merkwürdige Faszination auf Vida aus. Vida, die gute, brave, niemals aufbegehrende, niemals hinterfragende Vida, die mit einem Mal erahnt, dass es da vielleicht doch noch mehr gibt als das ihr vorherbestimmte Inselleben an der Seite ihres Verlobten Jannis. So schnell sich ihre Gefühle für Marie vertiefen, so rasant steuert die Beziehung der beiden jungen Frauen jedoch auch schon auf ihr Ende zu.

Von Anfang an ist klar, dass Vida und Marie keine gemeinsame Zukunft haben können, lässt sich doch häufig eine gewisse Bitterkeit und Melancholie aus Vidas rückblickender Erzählung herauslesen. Trotzdem kommt schnell Spannung auf und es fällt leicht, sich mitziehen zu lassen von Blöchls einfühlsamem Schreibstil. Man fühlt sich Vida nah, deren Leben innerhalb der nichtmal 300 Seiten mehr als einmal aus den Fugen gerät. Ihr Verliebtsein, die Leidenschaft, das Glück, der Schmerz - all das ist wunderbar nahbar beschrieben und lässt Vidas Entwicklung gespannt verfolgen. Ein sehr schöner Roman!