Ein bedrückendes Erbe
Männer sterben bei uns nicht"Für meine Großmutter war Nähe keine relevante Kategorie. Sie hatte kein emotionales Verständnis von Familie, sondern eher ein dynastisches, auch wenn das Wort zu pompös war für den Haufen, den wir darstellten. ...
"Für meine Großmutter war Nähe keine relevante Kategorie. Sie hatte kein emotionales Verständnis von Familie, sondern eher ein dynastisches, auch wenn das Wort zu pompös war für den Haufen, den wir darstellten. Sie wies jeder von uns einen Platz und eine Aufgabe zu, und wenn wir den Platz einnahmen und die damit verbundene Aufgabe erfüllten, lief alles glatt, wenn nicht, wurden wir aussortiert wie verschlossene Muscheln."
Annika Reich schafft in ihrem Roman "Männer sterben bei uns nicht" ein interessantes Familienporträt, in welchem der Anschein über allem steht; Gefühle dürfen nicht ausgelebt oder gar gezeigt werden, wichtig ist nur die Form zu wahren - und zwar jene, die Großmutter für das jeweilige Familienmitglied gewählt hat. Männer gibt es hier keine.
Erzählt wird die Geschichte aus Luisas Sicht, der vorgesehenen Erbin des Anwesens und spielt am Tag von Großmutters Beerdigung. Dabei erfahren wir durch Rückblenden nach und nach mehr über die Geschichte der "Dynastie", über die einzelnen Familienmitglieder und ihre Rollen. Nach und nach wird ersichtlich, wie jeder jedem misstraut und die jeweilige Position missgönnt.
Im Laufe des Buches dringen wir immer tiefer in die Gefühlswelten ein, die zu Lebzeiten des Familienoberhauptes nie offenbart werden durften, und erfahren, dass jeder auf seine eigene Art einsam und unzufrieden ist.
Luisa stellt sich die Frage, ob sie die Familientradition überhaupt wahren möchte.
Die Autorin hat einen wunderschönen Schreibstil, klar und doch irgendwie poetisch. Die Geschichte ist kurzweilig und zieht einen immer tiefer in ihren Sog. So kann man die etwa 200 Seiten gut an einem Stück durchlesen.
Ich empfehle das Buch jedem, der gerne Familiengeschichten liest und sich dabei besonders für die jeweiligen Personenkonstellationen interessiert. Es gibt keinen großen Plot oder ein überraschendes Geheimnis, doch die Geschichte kommt sehr gut ohne aus, weil die einzelnen Figuren und ihre Beziehungen zu Großmutter und zueinander so gut gezeichnet sind.