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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 10.02.2023

Ein bedrückendes Erbe

Männer sterben bei uns nicht
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"Für meine Großmutter war Nähe keine relevante Kategorie. Sie hatte kein emotionales Verständnis von Familie, sondern eher ein dynastisches, auch wenn das Wort zu pompös war für den Haufen, den wir darstellten. ...

"Für meine Großmutter war Nähe keine relevante Kategorie. Sie hatte kein emotionales Verständnis von Familie, sondern eher ein dynastisches, auch wenn das Wort zu pompös war für den Haufen, den wir darstellten. Sie wies jeder von uns einen Platz und eine Aufgabe zu, und wenn wir den Platz einnahmen und die damit verbundene Aufgabe erfüllten, lief alles glatt, wenn nicht, wurden wir aussortiert wie verschlossene Muscheln."

Annika Reich schafft in ihrem Roman "Männer sterben bei uns nicht" ein interessantes Familienporträt, in welchem der Anschein über allem steht; Gefühle dürfen nicht ausgelebt oder gar gezeigt werden, wichtig ist nur die Form zu wahren - und zwar jene, die Großmutter für das jeweilige Familienmitglied gewählt hat. Männer gibt es hier keine.

Erzählt wird die Geschichte aus Luisas Sicht, der vorgesehenen Erbin des Anwesens und spielt am Tag von Großmutters Beerdigung. Dabei erfahren wir durch Rückblenden nach und nach mehr über die Geschichte der "Dynastie", über die einzelnen Familienmitglieder und ihre Rollen. Nach und nach wird ersichtlich, wie jeder jedem misstraut und die jeweilige Position missgönnt.
Im Laufe des Buches dringen wir immer tiefer in die Gefühlswelten ein, die zu Lebzeiten des Familienoberhauptes nie offenbart werden durften, und erfahren, dass jeder auf seine eigene Art einsam und unzufrieden ist.
Luisa stellt sich die Frage, ob sie die Familientradition überhaupt wahren möchte.

Die Autorin hat einen wunderschönen Schreibstil, klar und doch irgendwie poetisch. Die Geschichte ist kurzweilig und zieht einen immer tiefer in ihren Sog. So kann man die etwa 200 Seiten gut an einem Stück durchlesen.

Ich empfehle das Buch jedem, der gerne Familiengeschichten liest und sich dabei besonders für die jeweiligen Personenkonstellationen interessiert. Es gibt keinen großen Plot oder ein überraschendes Geheimnis, doch die Geschichte kommt sehr gut ohne aus, weil die einzelnen Figuren und ihre Beziehungen zu Großmutter und zueinander so gut gezeichnet sind.

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  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.01.2023

Gelungene Neuerzählung des bekannten Mythos

STONE BLIND – Der Blick der Medusa
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"Du bist derjenige, der denkt, dass alles, was nicht so aussieht wie du, ein Monster sein muss."

Medusa wächst behütet bei ihren beiden Schwestern, den Gorgonen, auf, bis sie den Zorn Athenes zu spüren ...

"Du bist derjenige, der denkt, dass alles, was nicht so aussieht wie du, ein Monster sein muss."

Medusa wächst behütet bei ihren beiden Schwestern, den Gorgonen, auf, bis sie den Zorn Athenes zu spüren bekommt und verflucht wird. Von nun an muss sie ein Leben als Monster führen, während Perseus sich auf den Weg macht, um ihren Kopf als Trophäe zu erlangen.

Natalie Haynes lässt den altbekannten Mythos neu aufleben und schafft es dabei, Medusa in ein anderes Licht zu rücken und zum Nachdenken anzuregen.

Sie hat einen wunderbar klugen, flüssigen und ganz und gar nicht gestellten Schreibstil; besonders gefallen hat mir der ganz leicht eingestreute Humor in manchen Passagen.

Erzählt wird die Geschichte in jedem Kapitel aus der Sicht einer anderen Person und so laufen verschiedene Handlungsstränge parallel ab, die aber alle miteinander verbunden sind.
Man kommt mit den vielen Namen/ Perspektiven überhaupt nicht durcheinander, im Gegenteil: Haynes schafft es, jeder Figur so einen lebendigen und einzigartigen Charakter einzuhauchen, dass man auch als Mythologie-Neuling nicht den Überblick verliert (und für den Fall der Fälle gibt es hinten im Buch ein Personenregister) und das empfinde ich persönlich als absolut herausragende Leistung.

Der Leser wird in einigen Kapiteln persönlich angesprochen, was aber nicht merkwürdig wirkt, sondern ganz und gar in die Geschichte passt.
Das gesamte Buch ist derart kurzweilig und rasant erzählt, dass kein Platz für Längen entstanden ist.

Die Charaktere sind so außergewöhnlich gut gezeichnet, dass man Gefühle und Meinung zu jedem entwickelt und einem die Geschehnisse sehr nahegehen und doch zum Nachdenken anregen:
Wer entscheidet eigentlich, wer oder was ein Monster ist? Und sollte man sich nicht öfter mal in andere Lebewesen hineinversetzen, bevor man urteilt?

Für mich persönlich ist es die beste Neuerzählung eines griechischen Mythos, die ich bisher gelesen habe.
Kluger Schreibstil, lebendige Charaktere und der nötige Tiefgang; ich empfehle das Buch jedem, der in die griechische Sagenwelt einsteigen möchte, aber auch für Kenner bietet es sicherlich noch einiges.
Haynes hat mich mit diesem Werk absolut überzeugt.

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Veröffentlicht am 09.01.2023

Leider etwas enttäuschend

Frankie
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"Niemand nämlich wusste, warum er tat, was er tat, wahrscheinlich nicht einmal er selbst. Und auch nicht, was er als Nächstes tun würde."

Nach 18 Jahren kommt Franks Großvater aus dem Gefängnis. Was er ...

"Niemand nämlich wusste, warum er tat, was er tat, wahrscheinlich nicht einmal er selbst. Und auch nicht, was er als Nächstes tun würde."

Nach 18 Jahren kommt Franks Großvater aus dem Gefängnis. Was er verbrochen hat, weiß der fast 14-Jährige nicht, ebenso wenig, was sein Opa überhaupt für ein Mensch ist.
Die beiden lernen sich kennen und Frank wird immer tiefer in den Bann des Älteren gezogen. Wird in dieser ambivalenten Beziehung der Hass oder die Zuneigung die Oberhand gewinnen?

Michael Köhlmeiers Schreibstil ist sehr gewöhnungsbedürftig und enthält viele eigenwillige Formulierungen ("etwas in den Google eingeben"), die bei mir persönlich den Lesefluss gestört haben. Ich konnte mit der Erzählweise nicht so wirklich warm werden.
Auch mit den Figuren konnte ich nicht so viel anfangen, trotz des Ich-Erzählers war mir der Protagonist Frank nicht wirklich sympathisch (obwohl seine Eigenschaften geradezu musterschülerhaft beschrieben werden, vielleicht etwas zu viel des Guten?) und seine Handlungen und Gedanken sind nicht nachvollziehbar.

Die Grundidee der Geschichte ist zunächst sehr spannend, leider entlädt sich diese Spannung nach etwa der Hälfte des Buches bei der Raststättenszene und danach wird immer mehr klar, dass viele Fragen nicht mehr beantwortet werden, zudem werden Franks Handlungen immer unverständlicher.
Positiv hervorzuheben ist der Aufbau der Story, berichtet wird in kurzen, fast filmischen Szenen, welche ohne viele Umschweife aneinandergereiht werden, sodass eine gewisse Dynamik entsteht.

Leider ging es mir wie einigen anderen LeserInnen auch: Am Ende des Buches hab ich mich nur gefragt, was jetzt die Aussage sein soll.

Wer den Schreibstil Köhlmeiers mag und wer gerne kurze, szenische Beschreibungen liest, für den ist das Buch auf jeden Fall geeignet - ich persönlich kann ihm leider nicht so viel abgewinnen.

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Veröffentlicht am 07.01.2023

Generationen des Schweigens

Saubere Zeiten
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"Mein Vater hatte mir nie etwas erzählt von sich. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass mein Vater mit mir spricht."

Jakob Aubers Großvater war ein Tüftler. Sein revolutionäres Waschmittel ...

"Mein Vater hatte mir nie etwas erzählt von sich. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass mein Vater mit mir spricht."

Jakob Aubers Großvater war ein Tüftler. Sein revolutionäres Waschmittel machte ihn reich und berühmt, bis es plötzlich bergab ging mit der Firma Auber.
Als auch Jakobs Vater im Sterben liegt, erfährt dieser endlich durch Tonbänder und Tagebucheinträge, was damals gesehenen ist und verfolgt die Spuren seiner Familie bis nach Brasilien.

Andreas Wunn ist mit seinem Debütroman "Saubere Zeiten" eine wunderbarere Generationengeschichte gelungen.
Mit einer einfachen, klaren Sprache hält er den Leser auf Distanz und erzeugt trotzdem tiefe Gefühle, genauso wie es auch in der Familie Auber üblich war. Er erzählt die Geschichte dreier Generationen von Vätern, die über nichts gesprochen, alles Wichtige mit sich selbst ausgemacht haben.

Erzählt wird wechselnd aus der Sicht von Jakob, seinem Vater und Großvater, dabei ist jedoch immer sofort klar, um wen es geht und es entsteht keinerlei Verwirrung. Die einzelnen, kurzen Erinnerungen setzen sich in Laufe des Buches nach und nach wie Puzzleteile zu einem Ganzen zusammen und offenbaren die Vergangenheit der Familie Auber.

Für mich ist dies eins der besten Bücher, die ich seit Langem gelesen habe. Die Geschichte, die Gefühle, die nicht ausgesprochen werden, die damit einhergehende Einsamkeit der Figuren - das alles hat mich sehr berührt und ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen.
Absolute Leseempfehlung meinerseits.

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Veröffentlicht am 08.12.2022

Fesselnder Thriller mit überraschenden Wendungen

NIGHT – Nacht der Angst
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"Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Sie ist nicht sein Typ. Charlie hingegen ist sein Typ, sehr sogar. Was ein Problem ist."

Charlies beste Freundin Maddy wird auf dem Universitätsgelände ermordet. ...

"Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Sie ist nicht sein Typ. Charlie hingegen ist sein Typ, sehr sogar. Was ein Problem ist."

Charlies beste Freundin Maddy wird auf dem Universitätsgelände ermordet. Um das traumatische Umfeld zu verlassen, beschließt sie, nach Hause zu fahren und trifft auf Josh, der in dieselbe Richtung muss und ihr anbietet, sie mitzunehmen.
Auf der Fahrt schleicht sich ihr immer mehr der Verdacht ein, Josh könne der Campus-Killer sein, der immer noch frei herumläuft. Kann sie ihren Gedanken trauen?
Je weiter die beiden fahren, desto sicherer wird sich Charlie: Nur einer von den beiden kann die Nacht überleben.

Riley Sager ist mit "Night" ein unfassbar spannender Thriller gelungen. Er spielt hauptsächlich im Auto, was ich als Schauplatz für dieses Genre sehr außergewöhnlich und interessant finde.
Wir erfahren im ersten Teil viel über Charlie und ihre Vergangenheit. Sie hat zwischendurch "Aussetzer", die sie als Filme im Kopf beschreibt und schnell verschwimmen die Realität und ihre Gedankenwelt. Ebenso wie sie selbst fragt man sich auch als Leser, was nun wirklich passiert ist und was nicht. Riley konfrontiert einen direkt mit jenen Ängsten, die wohl jeder kennt, der schon einmal bei einem Fremden mitgefahren ist.
Nach der "Kennenlernphase" der beiden Reisenden nimmt die Geschichte schnell an Fahrt auf und mir fiel es schwer, das Buch überhaupt noch aus der Hand zu legen.

Die Protagonistin setzt sich im Laufe der Handlung immer wieder mit ihren Schuldgefühlen für den Tod ihrer besten Freundin auseinander, die Schlüsse die sie daraus zieht und die Entwicklung, die sich durchmacht, sind sehr schön gelungen und gestalten einen großen Wendepunkt in der Geschichte.
Wenn auch die Angst im Vordergrund steht, behandelt der Thriller ebenso die Themen Schuld, Rache und Vergebung.

Zwischendurch bekommt man den Eindruck, die Handlung sei gerade sehr klischeehaft, doch der Autor schafft es, alles mit völlig überraschenden Wendungen zu erklären und zum Schluss ist nichts mehr, wie es am Anfang schien.
Gerade das Ende empfand ich als sehr besonders und gut gelungen, es wird dem Buch definitiv gerecht.

Absolute Leseempfehlung an alle Thriller-Fans!


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