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Veröffentlicht am 16.05.2019

Landleben in Yorkshire

Bell und Harry
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Wieviel leichter es Kindern gelingt, Gräben zwischen unterschiedlicher Herkunft und Lebensumständen zu überbrücken, davon erzählt Jane Gardam in ihrem erstmals 1981 erschienenen kurzen Roman „Bell und ...

Wieviel leichter es Kindern gelingt, Gräben zwischen unterschiedlicher Herkunft und Lebensumständen zu überbrücken, davon erzählt Jane Gardam in ihrem erstmals 1981 erschienenen kurzen Roman „Bell und Harry“. Bell Teesdale ist der Sohn einer Farmerfamilie aus Yorkshire und in der ersten Episode acht Jahre alt, Harry Bateman, geringfügig jünger, ist Sohn intellektueller Londoner. Während es unter den Erwachsenen immer wieder zu Missverständnissen kommt und die Verständigung zwischen Dorfbewohnern und ruhebedürftigen Sommerfrischlern zu Beginn schwierig ist, werden die beiden Jungen schnell zu Freunden und bewahren ihre Freundschaft bis ins Erwachsenenalter. Erst allmählich fühlen sich alle Batemans in Light Trees, dem gepachteten Bauernhaus der Teesdales, so wohl, dass sie nicht nur ihre Sommer dort verbringen, sondern auch im Winter in ihr zweites Zuhause kommen. Sie lernen die manchmal äußerst schrulligen Dorfbewohner kennen und verstehen, schließen Freundschaften und hören die teils gruseligen, teils mystischen Geschichten und Legenden, die die Bewohner so gerne erzählen.

Für mich war „Bell und Harry“ der erste Roman von Jane Gardam. Er hat mir vor allem stilistisch und wegen der ruhigen, humorvollen Erzählweise gefallen: „«Sagt mal gleich im Dorf Bescheid. » «Die wissen das anscheinend schon» sagte Harry. «Dabei hat meine Mutter es nur im Fish und Chips Shop erzählt.» «Sollte reichen», sagte Mr Teesdale.“ Jane Gardams Art, in eine Szene die Gedanken der Nicht-Anwesenden einzublenden, ist äußerst raffiniert. Während Harry und Bell verbotenerweise in einen aufgegebenen Stollen eindringen und sich großer Gefahr aussetzen, denkt die ahnungslose Mrs Bateman: „Der einzige Grund, weshalb ich es bereuen würde, hierhergekommen zu sein, wäre, wenn einer der Jungs in die Minen einsteigen würde“, und Bells Großvater warnt Harrys Bruder vor eben diesen Minen: „Wer auch nur halbwegs bei Verstand ist, würde sich nie in die Nähe wagen.“ Ganz besonders mochte ich, wie Jane Gardam die neun Kapitel miteinander verwebt. Was an einer Stelle völlig nebensächlich erscheint, wird an anderer bedeutsam und bildet die Klammern, mit denen die einzelnen Episoden aus über 20 Jahren zusammengehalten werden. Die wechselnde Erzählperspektive – zu Beginn berichtet der achtjährige Bell, am Ende dessen elfjährige Tochter Anne, meist jedoch ein auktorialer Erzähler – macht die Lektüre abwechslungsreich.

Einzig den Blick ins Jahr 1999, während der Entstehungszeit des Romans ein Blick in die Zukunft, mit einer neuen Energiekrise und einer Rückkehr zu Pferd und Dampfzug, fand ich weniger gelungen. Abgesehen davon ist das auch optisch wunderschöne Buch jedoch sehr lesenswert.

Veröffentlicht am 13.05.2019

Eindrückliche Mahnung an alle, die in Nordirland wieder zündeln

Cal
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Bei einem Besuch in Londonderry und Belfast im Sommer 2018 war ich schockiert über die noch deutlich sichtbaren Spuren des Nordirlandkonflikts, nicht zuletzt über die Mauer in Belfast. Gleichzeitig hat ...

Bei einem Besuch in Londonderry und Belfast im Sommer 2018 war ich schockiert über die noch deutlich sichtbaren Spuren des Nordirlandkonflikts, nicht zuletzt über die Mauer in Belfast. Gleichzeitig hat mich der spürbare Wille der Menschen dort begeistert, den Frieden, der seit dem Karfreitagsabkommen vom April 1998 herrscht, zu bewahren. Nun ist die offene Grenze zwischen Irland und Nordirland im Zuge des Brexits erneut in Gefahr und der Mord an der Journalistin Lyra McKee durch die militante New IRA im April 2019 in Londonderry sowie zahlreiche neue Bombenattentate machen nicht nur vielen Iren und Nordiren Angst. Bernard MacLavertys Roman „Cal“ aus dem Jahr 1983 ist daher aktueller denn je und eine Warnung an alle, die leichtfertig zündeln.

Der 19-jährige Cal Mc Cluskey, arbeitslos wie viele seiner Altersgenossen, schlägt sich im tristen, vom Bürgerkrieg gebeutelten Nordirland der 1970/80er-Jahre mühsam durch. Zusammen mit seinem Vater Shamie, einem Schlachthausarbeiter, lebt er in einem protestantischen, loyalistisch geschmückten Viertel irgendwo in der Provinz Ulster. Als letzte Katholiken dort erhalten sie massive Drohungen, die dazu führen, dass der friedliche Shamie von militanten IRA-Anhängern einen Revolver zur Selbstverteidigung annimmt. Doch die IRA gibt nichts umsonst, fortan muss Cal als Fahrer bei Überfällen fungieren. Als dabei ein protestantischer Farmer und Reservepolizist vor den Augen seiner Familie erschossen wird, will Cal, der „nie richtig eingestiegen“ ist, die Gruppe verlassen. Sein Gewissen lässt ihn nicht mehr zur Ruhe kommen, doch mitten im Krieg duldet die IRA keine Aussteiger: „Nicht zu handeln – weißt du – heißt handeln... Dadurch daß du nichts tust, trägst du dazu bei, daß die Engländer hierbleiben.“

Ein Jahr nach dem Anschlag lernt Cal in der örtlichen Bibliothek Marcella Morton kennen, „ausgerechnet die eine Frau, die ihm verboten war“, und verliebt sich, doch „Von Liebe zu sprechen, das wußte er, erforderte Offenheit und Wahrhaftigkeit. Wegen dem, was er getan hatte, war er für sie eine einzige Lüge“.

Bernard Mac Laverty zeigt in "Cal" eindringlich, wie ausweglos die Situation für den Einzelnen in einem gewalttätigen Konflikt sein kann. Auch wenn der Roman keine ganz große Literatur ist und die ständig beschriebene exzessive Raucherei Cals mich zunehmend genervt hat, ist die Perspektive auf den nordirischen Alltag und die Frage nach Schuld, Verantwortung und Vergebung gut gelungen.

Der Roman wurde 1984 von Pat O’Connor mit John Lynch und Helen Mirren in den Hauptrollen verfilmt.

Veröffentlicht am 17.04.2019

„Es wiederholt sich immer alles und doch ist es nicht dasselbe.“

Gott wohnt im Wedding
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Ihr 2014 erschienenes Debüt "Machandel" habe ich erst kürzlich entdeckt und war absolut begeistert von dieser gelungenen Verknüpfung aus Zeitgeschichte und Romanhandlung. Genau dies gelingt Regina Scheer ...

Ihr 2014 erschienenes Debüt "Machandel" habe ich erst kürzlich entdeckt und war absolut begeistert von dieser gelungenen Verknüpfung aus Zeitgeschichte und Romanhandlung. Genau dies gelingt Regina Scheer auch in ihrem neuen Buch "Gott wohnt im Wedding".

Im Personenregister, einem wegen der Vielzahl von Mitwirkenden hilfreichen Instrument, steht ein überraschender Protagonist ganz oben: ein Berliner Mietshaus in der Utrechter Straße im Wedding, erbaut um 1890 und nun Spekulationsobjekt und, „weil ich als Immobilie nicht mehr das Potential habe, den Mietwert zu erhöhen“, kurz vor dem Abbruch. Seine kursiv gedruckten Geschichten über seine Erbauer und Besitzer, die Mieter, die kamen und gingen, und sein Wissen darum, dass sich „alles wiederholt“, sind so spannend wie melancholisch, „jetzt, wo alles zu Ende geht“, und es „eine Ahnung von Endgültigkeit“ umweht.

„Wenn man lange genug wartet, kommen hier alle wieder vorbei“, so auch der Jude Leo Lehmann, der ab 1943 mit seinem Freund Manfred als „U-Boot“, Untergetauchter, lebte. Nun ist er mit seiner Enkelin Nira wegen Erbangelegenheiten aus Israel nach Berlin gekommen und ausgerechnet in einem Hotel im Wedding gelandet. Im alten Haus in der Utrechter Straße lebt noch immer Gertrud Romberg, die den beiden Jungen damals Unterschlupf gewährte. Manfred wurde in ihrer Wohnung verhaftet und Leo hat nie erfahren, welchen Anteil Gertrud daran hatte. Die alte Frau ist an die hundert Jahre alt, schon ihr Vater wurde in diesem Haus geboren. Sie hat Manfred nie vergessen, nie geheiratet und nie über das gesprochen, was damals passierte. Der Handlungsstrang um Leo und Gertrud, der wiederum viele Einzelschicksale umfasst, hat mir ausnehmend gut gefallen, besonders auch die Geschichte von Leos Frau Edith.

Ein weiterer Handlungsstrang umfasst das Schicksal der Sintiza Laila, die 1975 in Polen geboren wurde und als Spätaussiedlerin über Umwege 1991 nach Berlin kam. Sie hat studiert, lebt getrennt von ihrem Mann und hat einen Mietvertrag über drei Jahre, der demnächst ausläuft. Mit ihrem ausgeprägten Sozialbewusstsein kümmert sie sich um die alte Gertrud, um die vielen Roma-Familien aus Rumänien, die genauso wie Wanderarbeiter inzwischen im Haus leben. Ihre komplizierte, sehr ausführlich erzählte Familiengeschichte und die ihrer Schützlinge haben mich das ein oder andere Mal verwirrt, es war nicht leicht, Personen, Orte und Schicksale auseinanderzuhalten. Wichtiger ist aber ein großer Erkenntniszuwachs über die Geschichte und Tradition der sehr verschiedenen Roma-Gruppen, zu denen die Sinti als eine Untergruppe gehören, und über ihre fehlenden Perspektiven.

Man merkt dieser geglückten Verbindung von Geschichte und Gegenwart die umfängliche Recherchearbeit von Regina Scheer deutlich an. Dass sie darüber hinaus so viel Wärme für ihre Figuren aufbringt und auf Schwarz-Weiß-Zeichnung weitgehend verzichtet, macht den Roman für mich empfehlenswert.

Ich hatte das Glück, Regina Scheer am 10. April 2019 live bei einem Interview mit Lesung im Botnanger Buchladen in Stuttgart zu erleben. Wer die Gelegenheit dazu hat, sollte sie sich nicht entgehen lassen, denn die Autorin hat auch über den Roman hinaus viel zu erzählen.

Veröffentlicht am 09.04.2019

Bei den Prischingers wird niemand zurückgelassen

Rückwärtswalzer
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Bei den Griechen und Römern brachte der Fährmann Charon die Seelen über den Styx und wurde dafür entlohnt. Was aber, wenn man das Geld für den Fährmann nicht aufbringen kann? Für die drei alten Prischinger-Schwestern ...

Bei den Griechen und Römern brachte der Fährmann Charon die Seelen über den Styx und wurde dafür entlohnt. Was aber, wenn man das Geld für den Fährmann nicht aufbringen kann? Für die drei alten Prischinger-Schwestern Mirl, Wetti und Hedi ist die Antwort klar: Sie werden selbst zu Fährmännern. Willi, Hedis verstorbener Lebenspartner, der in seiner Heimat Montenegro begraben werden möchte, wird kurzerhand beim Metzger tiefgefroren, auf den Beifahrersitz verfrachtet, der Neffe Lorenz als Fahrer verpflichtet und schon beginnt bei auf Hochtouren laufender Kühlung die 1029 Kilometer lange Fahrt von Wien durch Slowenien, Kroatien und Bosnien nach Montenegro.

Die Vorgeschichte und der Ablauf dieser skurrilen Fahrt mit Leiche sind der rote Faden in Vea Kaisers drittem Roman „Rückwärtswalzer oder Die Manen der Familie Prischinger“. Während der Ton in diesen Kapiteln trotz des Toten überwiegend komisch ist, sind die Kapitel dazwischen von ernsterem Inhalt bis hin zu Themen wie Kindesmissbrauch, Rassismus oder österreichische Zeitgeschichte und Politik. Zwischen 1953 und 2001 werfen sie Schlaglichter auf das Leben der vier Geschwister Prischinger, der drei Schwestern und Lorenz‘ Vater Sepp, sowie auf Willis Vergangenheit. In diesen Abschnitten geht es um Kindheit, Partnerschaften, Geburten, Trennungen und Schicksalsschläge aller Art. Sowohl Willi als auch die Schwestern leiden unter Traumata: der eine muss mit dem Tod seiner Halbschwester leben, die anderen mit dem ihres kleinen Bruders Nenerl, und immer geht es um Schuld. „Niemand wird zurückgelassen“ war Nenerls Wahlspruch - und doch ist ausgerechnet er verlorengegangen.

Vea Kaiser beherrscht sowohl die Komik als auch die Tragik und kann sehr unterhaltsam erzählen. Oft habe ich bei der Lektüre herzlich gelacht, teils über das originelle österreichische Vokabular, teils über loriothafte Szenen wie den Metro-Großeinkauf der Schwestern, Mirls pannenbehafteten Heiratsantrag, die ablenkende Gesprächsführung der Schwestern, den Stellenwert der Mahlzeiten („Essen rettet jede Situation“) oder der Tupperware. Gelegentlich wurde es mir aber zu slapstickhaft, wenn das Transportgefährt ausgerechnet ein roter Fiat Panda war, die Reisenden auf einen Bus mit 24-Stunden-Pflegerinnen aus Bulgarien trafen oder ein Zwischenstopp im Pilgerort eingelegt wurde. Auch das Loblied auf die sehr engen Familienbande, die den drei so unterschiedlichen Schwestern manchmal fast die Luft zum Atmen zu nehmen scheinen, hat mich nicht voll überzeugt. Gut gelungen ist dagegen die Entwicklung der Figuren, denn die Fahrt nach Montenegro verändert Lorenz, Mirl, Wetti und Hedi: „Lorenz gefiel der Gedanke, dass auch Onkel Willi seiner hinterbliebenen Familie neue Wege aufgezeigt hatte.“ Überhaupt Onkel Willi: Er ist nicht nur für mich der eigentliche Held des Romans, sondern auch für „drei alte Damen, die diesen Irrsinn aus Liebe und Zuneigung zu dem einzigen Mann unternommen hatten, der sie nie enttäuscht hatte“.

Veröffentlicht am 27.03.2019

Und führe uns nicht in Versuchung...

Goldschatz
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Ganz ohne Mord geht es bei Ingrid Noll auch in ihrem neuesten Buch nicht, doch liegt die Untat dieses Mal weit in der Vergangenheit und liefert lediglich die Erklärung für den Dreh- und Angelpunkt der ...

Ganz ohne Mord geht es bei Ingrid Noll auch in ihrem neuesten Buch nicht, doch liegt die Untat dieses Mal weit in der Vergangenheit und liefert lediglich die Erklärung für den Dreh- und Angelpunkt der Handlung: den Münzfund. „Goldschatz“ ist daher mehr Charakter- und Gesellschaftsstudie als schwarz-humoriger Krimi, doch geht es auch hier um den für Ingrid Noll typischen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele. Obwohl es für mich nicht ihr stärkster Roman ist, vor allem, weil ich die gewohnte Bissigkeit vermisst habe, unterhält die Geschichte doch sehr gut, auch wenn man das Schicksal der WG früh erahnen kann. Reflektionen darüber, wie man sich selbst durch einen plötzlichen Reichtum verändern würde, drängen sich auf und machen nicht unbedingt Lust auf einen Lottogewinn.

Fünf alternativ angehauchte Studenten, die sich unter dem Namen „Gegenstrom“ dem Konsumverzicht und der Nachhaltigkeit verschrieben haben, stehen im Mittelpunkt des Romans. In einem maroden Bauernhaus, das die Mutter der Ich-Erzählerin Trixi geerbt hat, möchten sie sich den Traum vom alternativen Leben erfüllen. Zwar wollen Trixis Eltern das alte Haus lieber abreißen als in die Ruine zu investieren, den Idealismus der jungen Leute können sie damit jedoch nicht bremsen. Mit Feuereifer beginnen die fünf Bewohner zu renovieren, doch werden ihre hehren Ziele bald von der rauen Wirklichkeit auf eine harte Probe gestellt, denn undichte Fenster, unzureichende Heizmöglichkeiten und fehlende Küchengeräte versprechen allzu große Unbequemlichkeiten. Zuwendungen von Trixis Eltern in Form eines Autos und einer Waschmaschine werden daher gerne akzeptiert und der Verkauf von Antiquitäten der Erbtante auf dem Flohmarkt und über das Internet soll das benötigte Baumaterial finanzieren. Als Trixi und ihre Freundin Saskia jedoch beim Stöbern in einer alten Blechkanne einen Lederbeutel mit Goldmünzen finden, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Denn je mehr Geld ins Haus kommt, desto mehr rücken die idealistischen Überzeugungen in den Hintergrund und steigt die Gier. Dass Geld den Charakter verdirbt, weiß der Volksmund schon lange, die Mitglieder der WG und ihr sonderbarer alter Nachbar Gerhard Gläser bekommen es nun schmerzhaft zu spüren. Eine verheimlichte Shopping-Tour Trixis und Saskias in Mannheim wird zur Ouvertüre für den schleichenden Niedergang der Hausgemeinschaft, in der sich Missgunst, Egoismus, und Skrupellosigkeit einnisten, während Anstand, Empathie und Rechtsbewusstsein auf der Strecke bleiben.

Luise Helm liest den glücklicherweise ungekürzten Text auf fünf CDs in 395 Minuten in sehr angenehmem Tempo, engagiert und mit der richtigen Intonation. Die Sprecherin schlüpft glaubhaft in der Rolle der Ich-Erzählerin Trixi und ich habe ihr mit Freude zugehört.