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Veröffentlicht am 03.04.2021

Alte Nazis, neue Revoluzzer - und im Zentrum die Juden

Teufelsberg (Wolf Heller ermittelt 2)
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Es geht wieder nach Berlin, im Schlepptau von Kommissar Heller, wir schreiben das Jahr 1969. Der Held ist inzwischen Familienvater, die Frau krebskrank - Akzentverschiebung gegenüber der Lebenssituation ...

Es geht wieder nach Berlin, im Schlepptau von Kommissar Heller, wir schreiben das Jahr 1969. Der Held ist inzwischen Familienvater, die Frau krebskrank - Akzentverschiebung gegenüber der Lebenssituation des Helden im ersten Krimi des Autorentrios. Heller gerät von einer Mordermittlung in die ganz große Politik des Kalten Krieges, das kleine West-Berlin fast zerquetscht im Kräftemessen zwischen USA und der Sowjetunion. Destabilisierung ist die Taktik der Stunde, und so steht die jüdische Gemeinde im Fokus des russischen Geheimdienstes. Wieder wählen die Autoren geschickt ein reales Ereignis der Stadtgeschichte, ein gescheiterter Anschlag auf eine Gedenkfeier, um das sie ihre Romanhandlung spinnen. Das typische Flair dieser Zeit kommt dabei zum Tragen: alte Nazis, in allen staatlichen Institutionen noch präsent, die wilde Szene der Linken in ihren Kommunen und WGs, geistig oszillierend zwischen Anarchie und Spinnertum. Und in alle Sphären ist Kommissar Heller eingebunden. Wieder ist das lebendige Heraufbeschwören dieser Zeit das große Plus dieses Romans, umso ärgerlicher, dass es an der sprachlichen Feinarbeit mangelt. Allerlei Stilblüten und ungeschickte Formulierungen schmälern das Lesevergnügen und hätten doch von einem sorgfältig arbeitenden Lektorat beseitigt werden können!

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Veröffentlicht am 27.03.2021

Kunstvoll komponierte Kippkonstruktion

Die lustlosen Touristen
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Es funktioniert (wider alle Erfahrung): ein kapriziöser Tonfall, eine pointierte Darstellung von Menschen und Dingen, eine abwechslungsreiche Szenerie - und gänzlich verstörende Einblicke in eine ernste ...

Es funktioniert (wider alle Erfahrung): ein kapriziöser Tonfall, eine pointierte Darstellung von Menschen und Dingen, eine abwechslungsreiche Szenerie - und gänzlich verstörende Einblicke in eine ernste Zeit mit ernsten Problemen, wenn der Blick auf die Auswirkungen der Politik auf das Schicksal von Individuen fällt. Ehegeschichte, Reisegeschichte, Familiengeschichte, Geschichtegeschichte - die Lektüre dieses Romans hat sich definitiv gelohnt!
Bereits die Figur der Ich-Erzählerin entfaltet eine diffizile Persönlichkeitsstruktur: komplizierte Familienverhältnisse offenbaren sich ihr vergleichsweise spät im Leben, glückhaft der Umstand, im Ehemann der Mutter einen Menschen zu finden, der bereits dem instabilen Teenager Halt und Orientierung zu bieten vermag, während die Mutter der Tochter nicht zutraut, mit der Hypothek ihrer Herkunft fertig zu werden.
Stimmverlust der Sängerin, stockender Arbeitsfortschritt der Doktorandin - auf jeden Fall im Zusammenhang zu sehen mit ihrer inneren Last. Ihr Forschungsgegenstand, die pazifistische Gesinnung des britischen Komponisten Benjamin Britten, ein dezidiertes Gegengewicht zur politischen Gesinnung des leiblichen Vaters.
Was für einen romantischen Akzent stellt da der Beginn der Liebesgeschichte dar, die inmitten der Gefahr eines terroristischen Anschlags ihren Ausgang nimmt! Welch neue Herausforderung, wenn gerade die vorgeblich entspannte Feriensituation einer Reise in die Heimat der Protagonistin den gegenseitigen Vertrauensbruch der Liebenden offenbart!
So anregend, fordernd und befriedigend sich die Lektüre dieses Romans auch erweist - der Verlag hätte dem Leser durch kleine Gestaltungsentscheidungen den Zugang erheblich erleichtern können:
Der gesamte baskische Hintergrund stellt für das deutsche Publikum doch eine beachtliche Hürde dar. Warum also einzelne verwendete Wörter nicht direkt unten auf der Druckseite in einer Fußnote übersetzen? Komplexere Zusammenhänge sind tatsächlich in den Anmerkungen am Ende des Buches bestens untergebracht. Da jedoch die Geschichte der baskischen Separatistenbewegung ETA in Deutschland nicht so präsent sein dürfte, wäre ein äußerst knapper Abriss zu Beginn des Buches hilfreich gewesen. Die verfremdete Europakate auf dem Buchdeckel ist äußerst dekorativ, aber keinesfalls zielführend, eine Landkarte des Baskenlandes mit der eingezeichneten Reiseroute des Paares wär wesentlich aufschlussreicher. Die in einem Wirbel angeordneten exotischen Ortsnamen auf dem Vorsatzpapier können dieses Informationsdefizit nicht kompensieren. Auch die Formulierung des Titels, selbst wenn direkt vom Original übernommen, erweist sich für den deutschen Leser als verwirrend.
Diese rein äußerlichen Kritikpunkte schmälern aber keinesfalls das Lesevergnügen an diesem thematisch und kompositorisch überaus originellen Roman!

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Veröffentlicht am 17.03.2021

Beharrlichkeit und Verbohrtheit

Sie haben mich nicht gekriegt
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Fiktionalisierte Biographien stellen momentan einen Trend im gegenwärtigen Literaturgeschehen dar. Im Falle von Felix Kuchers Roman „Sie haben mich nicht gekriegt“ stehen zwei historisch belegte Persönlichkeiten ...

Fiktionalisierte Biographien stellen momentan einen Trend im gegenwärtigen Literaturgeschehen dar. Im Falle von Felix Kuchers Roman „Sie haben mich nicht gekriegt“ stehen zwei historisch belegte Persönlichkeiten im Zentrum: eine italienischstämmige Fotografin, die ihr ganzes Leben in den Dienst der kommunistischen Partei gestellt hat, und eine aus Fürth gebürtige Buchhändlerin, der als Jüdin durch ihre Flucht in die USA dem Holocaust entkommen ist.
Der Titel des Buches zitiert zwar eine im Text genannte Bemerkung einer der beiden Heldinnen, ist aber in der Banalität der Formulierung kaum zu übertreffen und weckt beim Leser vollkommen unzutreffende Leseerwartungen.
Das kompositorische Prinzip des Romans ist hingegen durchaus ambitioniert zu nennen: in sehr schnellem Wechsel reihen sich alternierend zumeist überaus kurze Szenen aus dem Lebensweg der beiden Hauptfiguren aneinander, wobei jeweils am Ende einer Sequenz ein winziges Detail, ein Gegenstand, eine Bemerkung, eine Wendung in der Handlung den Übergang zur folgenden Episode im Leben der anderen Frau schafft. Ein ausgesprochen kunstvoll gestaltetes Verfahren!
Allerdings ist zu bemängeln, dass der Rhythmus so schnell ist, dass eine Atemlosigkeit der Darstellung das Ergebnis ist. Dazu kommt, dass im Falle der Italienerin Tina Modotti die Abfolge der Einsätze und Engagements im Dienste der Weltrevolution sich immer weiter beschleunigt, so dass beim Leser eine gewisse Ermüdung nicht zu verleugnen ist, zumal im Gedankenleben dieser Protagonistin wenig ausdifferenzierte Reflexion zum Tragen kommt. Ihre Einstellung gegenüber ihrer politischen Ausrichtung lässt sich am besten mit einem Zitat eines populären Liedtitels umschreiben: Die Partei hat immer recht. Eine prägnantere Infragestellung in der Konfrontation mit den Zeitereignissen und den womöglich abweichenden, weil weniger gläubigen Einstellungen ihrer Freunde und Kampfgenossen wäre ergiebiger und interessanter gewesen. Erst ganz am Ende des Romans regen sich sehr verhaltene Zweifel am eingeschlagenen Weg, die sofort wieder unterdrückt werden.
Die gänzlich andere Entwicklung der Buchhändlerin wider Willen Marie Rosenberg kontrastiert hierzu sehr positiv: während sich Tina durch ihre Verbohrtheit auszeichnet, sticht bei Marie ihre Beharrlichkeit hervor, mit der sie den einmal eingeschlagenen, nicht primär der eigenen Entscheidung, sondern der familiären Notwendigkeit geschuldeten Lebensweg verfolgt. Damit wird sie in der Darstellung dieses Romans zu einem eher gerundeten Charakter. Während in Kindheit und Jugend noch die reichlich klischeehaften Träume vom Dasein einer Ärztin im Urwald im Zentrum stehen, gewinnt die Figur im Prozess der Reifung zunehmend an Profil, wenn der an die Wirkmächtigkeit der Literatur geknüpfte Glaube die Oberhand gewinnt.
Abschließend lässt sich anmerken, dass dem Roman ein energisches Lektorat sehr gut getan hätte, einmal, was den ausufernden Umfang betrifft, aber auch, um einer gelegentlich recht anspruchslosen Diktion abzuhelfen.

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Veröffentlicht am 10.02.2021

Verdammt lang her

The Great Escape
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70 Jahre führt uns dieser Bildband in die Vergangenheit, als Seeleute noch keine Seetransportbegleiter (O-Ton meines Bootsmannsvaters) waren.

Die Auswahl der versammelten Fotos, schwarz-weiß wie auch ...

70 Jahre führt uns dieser Bildband in die Vergangenheit, als Seeleute noch keine Seetransportbegleiter (O-Ton meines Bootsmannsvaters) waren.

Die Auswahl der versammelten Fotos, schwarz-weiß wie auch in Farbe, demonstriert eine klug vermittelte Absicht: es sind keine professionellen Fotografien von Berufsfotografen, sondern die Ergebnisse der ambitionierten Bemühungen der Besatzungsmitglieder, die dem Betrachter einen höchst intimen und authentischen Einblick in die Lebenswirklichkeit an Bord gewähren. Dass der Zahn der Zeit wie auch die begrenzten technischen Möglichkeiten der analogen Fotografie an diesen Bildzeugnissen deutlich werden, macht den besonderen Charme aus - umso augenfälliger das gestalterische Bemühen, die ästhetischen Ansprüche der Fotografen.

Überaus abwechslungsreich die Auswahl der Sujets: da sind Seestudien, die höchst unterschiedliche „Wasserschaften“ vorstellen, Genreszenen, die das Leben an Bord dokumentieren, Impressionen von Landausflügen, damals tatsächlich noch Bestandteil des Seemannslebens, und immer wieder Schiffe, Schiffe, Schiffe. Sehr geschickt, auf Bildunterschriften zu verzichten und die erläuternden Legenden ans Ende des Bandes zu verbannen. Auf diese Weise konzentriert sich der Betrachter wirklich ganz und gar auf das Bild vor seinen Augen, und keine erklärenden oder einordnenden Infodaten ermöglichen ihm eine allzu schnelle und umfassende Einordnung. Allein die sich weitgehend an den Kontinenten orientierende Kapiteleinteilung verschafft dem Betrachter einen geschlossenen, von einer ganz bestimmten Atmosphäre geprägten, stimmigen Eindruck.

Eine wunderbare Ergänzung zu diesem vielfältigen Seh-Erlebnis der Essay „Faszination Seefahrt“ als Zwischenzäsur in der Bildauswahl, klug in den vermittelten Einsichten und durch die aufgezeigten historischen Zusammenhänge. Den Band hervorragend abrundend das sehr persönlich gehaltene Nachwort. Insgesamt: ein Bildband, der sich von der Beliebigkeit repräsentativer Coffee Table Books wohltuend absetzt!

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Veröffentlicht am 10.02.2021

Nähe? Ferne?

Vati
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Sich dem eigenen Vater annähern zu wollen, stellt immer eine schriftstellerische Herausforderung dar, zumal, wenn der Erfahrungshintergrund dieser Figur uns Heutigen so fern gerückt ist. Kriegsteilnehmer ...

Sich dem eigenen Vater annähern zu wollen, stellt immer eine schriftstellerische Herausforderung dar, zumal, wenn der Erfahrungshintergrund dieser Figur uns Heutigen so fern gerückt ist. Kriegsteilnehmer und Kriegsversehrter, das hat, zusammen mit der sozial depravierten Herkunft, den Vater der Autorin zutiefst geprägt, und aufgrund der ähnlich determinierten Interessenlage, ihre von allen Kindern intensivste Bindung zu ihm bestimmt. Mit tiefer Einsicht und vollkommen unsentimental stellt sie dar, wie die verwehrten Bildungschancen der Herkunft und die schwere Behinderung den Vater daran hindern, seinen fundamentalen Interessen zu leben. Erschütternd, wie sie dem Leser vermittelt, wie unter diesen Umständen die Liebe des Vaters zu Büchern sich verdinglicht, diese geradezu zum Fetisch werden, so dass manche Verhaltensweisen nur als vollkommen irrational angesehen werden können. Einerseits verschafft seine genuine Verwurzelung in der Welt des Wissens dem Vater Halt, andererseits aber droht er an den Prüfungen, die das Schicksal ihm zumutet, zu zerbrechen. Beeindruckend, welcher betont schlichten, unaufgeregten Sprache sich Monika Helfer bedient, um einem Menschen, einem sozialen Milieu, einem historischen Panorama ein Denkmal zu setzen.

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