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Veröffentlicht am 01.05.2024

Kaleidoskopartige Eindrücke vom Ringen um und Leben mit der Kunst

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen
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Flotter Ritt durch das New York der Zwanziger Jahre und die Kunstszene verwoben mit kreativem Schaffen im Spannungsfeld zwischen Kunst und Alltag

In ihrem Roman Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen ...

Flotter Ritt durch das New York der Zwanziger Jahre und die Kunstszene verwoben mit kreativem Schaffen im Spannungsfeld zwischen Kunst und Alltag

In ihrem Roman Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen läßt sich die rumänisch-schweizerische Schriftstellerin Dana Grigorcea von Fragen zum Thema Kunst leiten und versucht den künstlerischen Schaffensprozeß zu ergründen.

Der 222 Seiten umfassende Roman spielt zeitlich und örtlich an zwei verschiedenen Settings, die in reizvoller Weise miteinander verbunden werden.

Im Hier und Jetzt erleben wir die Schriftstellerin Dora, die im Rahmen eines Literaten-Stipendiums in einem Hotel in Italien versucht, die Amerikareise des Bildhauers Constantin Avis im New York der 20er Jahre literarisch festzuhalten. Als Vorbild für die Romanfigur dient ihr hierfür der rumänische Bildhauer Constantin Brâncuși.

Das zweite Setting ist der Aufenthalt von Constantin Avis in New York etwa 100 Jahre vor unserer Zeit. Eines seiner Hauptwerke „Vogel“ hat er mitgebracht, da er hoffte, diesen im Rahmen einer Einzelausstellung präsentieren zu können. Doch kurz vor seiner Ankunft ist sein Mäzen und Galerist verstorben.

Beide Schauplätze wechseln sich in den einzelnen Kapiteln fast regelmäßig ab.

In temporeichen irisierenden Sequenzen dürfen wir daran teilhaben, wie Constantin das New York der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erlebt. Dann kehren wir wieder in die Gegenwart zurück und beobachten Dora beim Schreiben des nächsten Kapitels und im kreativen Schaffen im Spannungsfeld zwischen den Anforderungen des Alltags und den Ansprüchen ihre Kunst betreffend.

Mit Dora in Italien ist Loris, ihr 8 -jähriger Sohn und sein Kindermädchen Macedonia. Später kommt Regis hinzu, mit dem Dora eine toxische Beziehung zu führen scheint.

Dora hält sich in ihrer eigenen Scheinwelt auf und erschreibt sich in Constantin und Lidy die Traumbeziehung, die sie eigentlich leben möchte, während alle anderen Protagonisten der Gegenwart die Realität nicht verdrängen.

Das Buch schließt ab mit einem Epilog in dem der Prozess beschrieben wird, den Constantin mit der Zollbehörde führt, in dem es im Kern um die Frage geht Was ist Kunst ? Dieser beruht auf dem entsprechenden historischen Ereignis in dem die Frage geklärt wurde, ob es sich beim Werk „Vogel“ des Bildhauers Constantin Brâncuși um Kunst handelt oder nicht. Es ist amüsant zu lesen, doch mit 13 Seiten empfand ich dieses Kapitel, im Vergleich zu anderen nur wenige Seiten umfassenden, überbetont, denn die Frage Was ist Kunst ist für den Künstler und den kreativen Schaffensprozess unerheblich und nur in Fragen der Besteuerung von Relevanz.

Ich bin dankbar dafür, daß mir die Autorin den Künstler Constantin Brâncuși und sein, vermutlich ein wenig vergessenes Werk, nahegebracht hat.

Der Schreibstil ist ein kaleidoskop- bis stroboskopartiger und nicht nur für den Durchschnittsleser gewöhnungsbedürftig und ein wenig anstrengend.

Die Autorin versteht es, sich in die Charaktere ihrer Figuren hineinzuversetzen. Ich vermute, daß sie in diesen Roman auch viele Aspekte ihres eigenen Lebens hat einfließen lassen.

Dieser manche Aspekte der Kunst betrachtende Roman ist kein Buch durch das sich Lesende bequem tragen lassen können, man muß schon selbst kräftig strampeln, um mitzukommen. Zwischendurch abzudriften, ohne etwas zu verpassen, kann man sich bei diesem Buch nicht leisten und das spricht in meinen Augen eindeutig für dieses literarische Werk.

Ich kann mich aber dennoch nicht des Eindrucks erwehren, daß dem Werk etwas Provisorisches anhaftet, etwas Unfertiges. Wie eine Art Skelett, das man erst noch in eine gesättigte Lösung halten muß, damit sich an ihm viele interessante Kristalle ausbilden und die Form vollenden können.

Ich hätte mir gewünscht, daß bei Fragen der Kunst mehr in die Tiefe gegangen wird, so wird vieles nur angesprochen und bleibt dann an der Oberfläche. Auch andere angerissene Fragen bleiben unbeantwortet, manch Schilderung ohne Erklärung oder nur mit sehr verstecktem Bezug.
Doch wer sagt, daß ein Roman immer eine abgerundete Sache sein muß ? Natürlich wäre das uns als Lesende lieber, doch das Leben an und für sich ist ja auch weit davon entfernt, eine abgerundete Sache zu sein.

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen von Dana Grigorcea ist 2024 bei Penguin Random-House in München mit der ISBN 978-3-328-60154-8 als Hardcover erschienen und kostet 24,- Euro.

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Veröffentlicht am 01.05.2024

Selten so gelacht !! Coming of Age für Jungs und Erwachsene !!

Coming of Age with Chat GPT
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Coming of Age with Chat GPT oder Wie ich mit künstlicher Intelligenz zum Mann wurde

Dies ist der Erfahrungsbericht eines pubertierenden Heranwachsenden.

Da er niemanden hat, dem er seine Fragen bezüglich ...


Coming of Age with Chat GPT oder Wie ich mit künstlicher Intelligenz zum Mann wurde

Dies ist der Erfahrungsbericht eines pubertierenden Heranwachsenden.

Da er niemanden hat, dem er seine Fragen bezüglich Sexualität stellen kann, stellt er sie ChatGPT.

Schnell stellt er fest, daß Frau Gepetee, wie er die KI nennt, ziemlich strenge Moralvorstellungen hat und wenn seine Fragen schmutzige Wörter enthalten, werden diese von Frau Gepetee nicht beantwortet oder sie hält ihm eine Moralpredigt.

Schnell findet er heraus, welche Wörter er Frau Gepetee unterjubeln kann und es treibt einem tatsächlich die Schamesröte ins Gesicht, wenn man liest, wie unverblümt Frau Gepetee diese dann z.B. in den "Liebes"-Gedichten verwendet, die der Junge sich für seine Angebetete Schreiben läßt.

Die Künstliche Intelligenz scheint doch nicht so intelligent zu sein, wie alle meinen.

Mit Rat zur Seite steht ihm auch sein bester Freund Sören, der zwar noch nie eine Freundin hatte, aber dennoch alles über Mädchen, Frauen und Sexualität zu wissen scheint.

So tastet er sich auf dem holprigen Weg, den wir alle gehen mußten, mehr oder weniger blind voran bis er dann am Ende des Buches sein und ihr erstes Mal erlebt.

Möglichkeiten und Grenzen der KI auf dem heutigen Stand werden in diesem Buch auf äußerst unterhaltsame Weise dargestellt.

So viel gelacht habe ich schon lange nicht mehr.

Als Heranwachsender hätte ich für dieses Büchlein ohne Bedenken meinen linken Arm geopfert.

Anstatt ihre Kinder aufzuklären bräuchten Eltern ihren Kindern eigentlich nur dieses Büchlein in die Hand drücken. Die Jungs würden alles über das weibliche Geschlecht erfahren und die Mädchen wüßten, wie Jungs in dem Alter ticken.


Das Büchlein mit 72 Seiten und ist bestellbar direkt bei epubli über den Link https://www.epubli.com/shop/coming-of-age-with-chat-gpt-9783757544645 oder im Kulturkaufhaus https://www.kulturkaufhaus.de/de/detail/ISBN-9783757544645/Bernstein-Elon/Coming-of-Age-with-Chat-GPT#r455133-63154-459319:466092:400388

Von mir gibt's satte 5 Punkte da ich mich schon lange nicht mehr so amüsiert habe.

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Veröffentlicht am 30.04.2024

Eine lockere Liebesgeschichte zweier besonderer Menschen. Ein kluges Buch.

The Happiness Blueprint
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The Happiness Blueprint von Ally Zetterberg

Ein amüsantes, kluges, lockeres Buch in dem wir viel über das Innenleben zweier Menschen erfahren, die in ihrem Empfinden und Verhalten nicht der gesellschaftlichen ...

The Happiness Blueprint von Ally Zetterberg

Ein amüsantes, kluges, lockeres Buch in dem wir viel über das Innenleben zweier Menschen erfahren, die in ihrem Empfinden und Verhalten nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen.

Die 26-jährige Schwedin Klara lebt in London, ist eine neurodivergente Chaotin und Diabetikerin und muß nun ohne Fachkenntnisse dafür sorgen, daß die kleine Baufirma ihres Vaters Peter, während seiner Krebsbehandlung, nicht den Bach runtergeht.

Währenddessen versucht der 29-jährige gutaussehende Schwede Alex den Unfalltod seines Bruders zu verarbeiten, an dem er sich mitschuldig fühlt.

Um aus seiner Depression zu kommen, bewirbt sich Alex in Peters Firma um die Stelle als Tischler und Klara stellt ihn ein, ohne zu ahnen, daß der Ring an seinem Finger nicht sein Ehering ist, sondern der seines verstorbenen Bruders.

Schon bei der ersten Begegnung funkt es zwischen den beiden Sonderlingen, doch Klara geht auf Abstand, da sie meint er sei verheiratet. Und Alex deutet ihre Zurückhaltung als Desinteresse.

So sind sie wie zwei gleichpolige Magnete die durch den Ehering wie durch eine unsichtbare Kraft auf Abstand gehalten werden und finden erst sehr spät im Roman zueinander, als sich das Missverständnis aufklärt.

Dann sind da noch Klaras Mutter und ihre Schwester Saga, mit denen der familiäre Austausch primär über Zoom-Konferenzen stattfindet.

Moderne Medien nehmen in diesem Roman eine Schlüsselrolle ein. Es wird beispielhaft gezeigt wie auch die Mitglieder einer weitverstreuten Familie durch Internet und Smart Phone in Kontakt bleiben können. Zudem googelt Klara quasi alles und der Austausch mit Alex findet vornehmlich über einen gemeinsamen digitalen Terminkalender statt.

Ally Zetterberg hat einen wundervoll lockeren Schreibstil, natürlich und sehr humorvoll, ohne flapsig oder beliebig zu werden und sie versteht es dennoch die Ernsthaftigkeit der Probleme aller Beteiligten zu thematisieren.

In sich abwechselnden Kapiteln beschreiben Alex und Klara die Entwicklung jeweils aus ihrer Sicht. Auch das macht das Buch interessant und amüsant.

Als Leser ist man sofort drin in der Geschichte, die Charaktere tauchen binnen kürzester Zeit lebensecht auf. Dies erreicht die Autorin mit dem Stilmittel, das am besten dafür geeignet ist, sie läßt ihre Figuren sprechen. Und wenn die Protagonisten etwas sagen, dann genau so, wie es ihrem Charakter entspricht.

Das Buch ist voller kluger Erkenntnisse, die locker und wie nebenbei rübergebracht werden.

Ich habe die fast 400 Seiten in einem Rutsch durchgelesen und auch das mir persönlich etwas zu schmonzettige Happy End, hat das Leseerlebnis nicht geschmälert.

Es gibt Buchtitel, die lassen sich kaum übersetzen ohne zu verlieren, doch was hätte eigentlich gegen „Blaupause für‘s Glück“ gesprochen ?

Die Covergestaltung hat mir nicht besonders gefallen und bringt den Character des Buches, in meinen Augen, nicht gut rüber. Da reißt es dann auch nicht der poolblaue Farbschnitt raus. Auf den Untertitel Liebe und andere Baustellen hätte man ruhig verzichten können.

Ich würde sagen, das Buch ist für alle von 16 bis 116 Jahre ein Gewinn.
Dieses unterhaltsame, humorvolle, ehrliche und kluge Buch erhält von mir 4 Sterne.
Ich hätte gerne alle 5 Sterne vergeben, da mir das Buch in Bezug auf Neurodivergenz die Augen geöffnet hat. Doch der Fünfte Stern geht leider für die, zwar sehr amüsante, doch letztendlich doch zu kritisierende (weiblich-)chauvinistische Tendenz des Buches drauf.

Ally Zetterberg, „The Happiness Blueprint – Liebe und andere Baustellen“ ist 2024 erschienen bei rohwolt Polaris und
kostet 16,-


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Veröffentlicht am 24.04.2024

Bewegender Einblick in die Traumatisierung durch Krieg.

Und dann sind wir gerettet
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Und dann sind wir gerettet
von Alessandra Carati

Bewertet mit 3 Sternen

Flucht vor dem Angriff der Serben. Schicksal einer Vertriebenenfamilie in Italien. Bewegende und interessante Beschreibung des ...

Und dann sind wir gerettet
von Alessandra Carati

Bewertet mit 3 Sternen

Flucht vor dem Angriff der Serben. Schicksal einer Vertriebenenfamilie in Italien. Bewegende und interessante Beschreibung des Lebens einer Flüchtlingsfamilie


Beschrieben wird in diesem Roman das Leben der Ich-Erzählerin Aida die im Alter von 6 Jahren mit ihrer schwangeren Mutter in letzter Minute vor den „ethnischen Säuberungen“ der Mörderbanden der serbischen Nationalisten, zunächst zur Grenze und dann mit dem dort wartenden Vater, nach Italien flieht.

Dort angekommen ähnelt die weitere Familiengeschichte von außen betrachtet derjenigen von Millionen Migranten. Ankommen, Arbeit finden, malochen, Geld nach Hause schicken und den Traum einer Rückkehr erst nach Jahrzehnten aufgeben.

Doch diese Familie ist durch die Flucht traumatisiert und die Traumatisierung dauert an, da sie von der Ferne hilflos erfahren müssen, wie ihre Verwandten, Freunde und Bekannten nach und nach verschwinden, vergewaltigt und ermordet werden.

Die Mutter zieht sich in sich zurück, der Vater in den Rhytmus von schuften und schlafen.

Kaum gerettet und in Italien in Sicherheit angekommen wird ein Schaf gekauft und nachdem man es eine Weile versorgt hat, wird ihm im Rahmen eines stumpfsinnigen und dummen „Ritus“ anläßlich des muslimischen „Opferfestes“ die Kehle durchgeschnitten. Was für ein fragwürdiges Opfer wird da erbracht, wenn man das Leben eines anderen Lebewesens opfert.

Für mich persönlich war das eine der aufschlußreichsten Szenen in diesem Roman, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, daß sich die Autorin dessen gar nicht bewußt ist. Es war eine mögliche Antwort auf die Frage, warum Gott all die Grausamkeiten zuläßt , die Menschen sich gegenseitig antun. Vielleicht ist es ja tatsächlich so, daß Gott alle Lebewesen, die er erschafft, gleichermaßen liebt und, daß mit jedem Menschen der zu Tode kommt, die Leben all der Tiere gerettet werden, die dieser Mensch im weiteren Verlauf seines Lebens noch getötet hätte oder töten hätte lassen.

Aida erlebt das Schicksal vieler Mädchen in muslimischen Familien. Obwohl die Familie liberal ist, hat Schulbildung keine Wichtigkeit, erst recht nicht für ein Mädchen und man geht ja eh bald zurück.

Einziger Sonnenstrahl in diesem von Tristesse und Lieblosigkeit geprägten Familienleben ist der kurz nach der Ankunft in Italien geborene Bruder Ibro. Doch auch dessen Existenz kann ihre ganz normalen emotionalen Bedürfnisse nicht ausgleichen.

So rettet sich Aida zunehmend zu einem zu Freunden gewordenen kinderlosen italienischen Ehepaar, welches der Familie seit ihrer Ankunft im Rahmen ihrer Möglichkeiten hilft. Diese haben Aidas Potenzial erkannt und unterstützen sie bei ihrem Medizinstudium.

Aida hat es mit Fleiß am Ende bis zur Fachärztin geschafft und das Buch schildert beispielhaft, wie mangelnde Aufmerksamkeit, wie sie Mädchen in muslimischen Familien oft entgegengebracht wird, zu Auslöser und Triebfeder für beruflichen Ehrgeiz und Erfolg werden kann, da es die einzige Möglichkeit ist, der Familienstruktur zu entfliehen.

Auch der brüchige Frieden, der nach all dem Grauen und Gemetzel des als Jugoslawienkrieg bezeichneten Krieges, erreicht wurde, hat nicht zur vollständigen Rückkehr der Familie in die Heimat geführt.

Diesem Bildungsroman per definitionem gab die Autorin eine interessante Struktur.

Beschrieben werden in 4 Abschnitten jeweils 1-2 Jahre. Dann noch ein Epilog. Zwischen den Abschnitten macht die Autorin einen Zeitsprung von jeweils 10 Jahren. Aida ist in den jeweiligen Abschnitten also etwa 6 Jahre alt, dann 16, 26 und 36.

Diese Konstruktion ermöglicht es der Autorin die wesentlichen Lebensabschnitte der Protagonisten zu beschreiben und den Roman nicht zu sehr ausufern zu lassen.

Ich hätte mir aber gewünscht, daß dies den Lesenden in einem Vorwort kurz erklärt wird.

Das Buch ist in viele kleine, teilweise nur eine Seite umfassende Kapitelchen gestückelt und so empfand ich den Erzählstrang weniger wie einen Film, sondern eher wie ein Fotoalbum mit vielen Polaroidfotos.

Der Stil ist mehr ein beschreibender, als ein poetischer und wenn die Autorin immer wieder mal ein oder zwei philosophische Erkenntnisse einstreut, dann klangen diese für mich meist ein wenig deplatziert.

Dennoch haben mich einige ihrer Formulierungen und Feststellungen zu Tränen gerührt oder mit offenem Mund (entsetzt) sein lassen.

Vielleicht liegt mein etwas kritischer Ansatz den Stil betreffend auch daran, daß ich vor diesem Buch die Suite Française von Irène Némirovsky gelesen habe. Ein literarisches Meisterwerk, das im Prinzip ein ähnliches Thema hat. Auch Flucht und Vertreibung, aber in Frankreich zur Zeit des Überfalles der deutschen Nationalsozialisten auf das Land. Nemirovsky’s Buch ist ein Meisterwerk und der Stil der Autorin zieht den Leser mit sich, wie ein reißender Strom.

Im vorliegenden Buch dagegen hatte ich mehr das Gefühl mich auf einem Kiesweg selbst voranbringen zu müssen.

Die direkte Rede in diesem Buch war für mich problematisch, denn bis auf Ibro, den Bruder der Hauptfigur Aida, läßt die Autorin alle Figuren in der gleichen Weise sprechen und selbst die Mutter, die weder lesen noch schreiben gelernt hat, drückt sich, wenn sie mal etwas sagt, gebildet aus. Da hätte ich mir mehr Mühe der Autorin gewünscht, die Sprache der Figuren ihrer Beschreibung anzupassen.

Ich liebe Bücher in denen die direkte Rede überhaupt nicht vorkommt, wie z.B. bei Zeruya Shalev.

Wenn man als Autor die direkte Rede verwendet, dann muß man aber auch jeweils dazu schreiben, wer jetzt diesen bestimmten Satz geäußert hat, wenn das nicht klar zu erkennen ist. Ansonsten ist der Leser ständig mit unnötiger Zuordnung beschäftigt und erstmal verwirrt.

Das ist zum Beispiel einer der Gründe, warum ich mich als Leser dieses Buches stellenweise wie ein ungebetener Gast gefühlt habe, dem man es nicht allzu bequem machen will, damit er sich nicht bei einem festsetzt.

Ein weiteres Beispiel für dieses Gefühl als Leser ist, daß zwar die erste pubertäre zaghafte Annäherung an einen Jungen im Teenageralter ausführlich beschrieben wird, dann aber nichts mehr kommt und einem kurz vor Schluß dann ein Ehemann präsentiert wird, mit dem man schon Jahre zusammen ist. Damit fühlt man sich als Leser vom Geschehen ausgeschlossen und vor den Kopf gestoßen.

So sind die ersten beiden Drittel des Buches zwar interessant, aber ein wenig holprig, doch dann, als es um die Problematik mit ihrem Bruder Ibro geht, zeigt die Autorin mehr Talent und man fühlt sich einbezogen und mitgenommen.

Ein wenig mehr Recherche hätte dem Buch auch gut getan. Entsetzt war ich zu lesen, daß die Flüchtlingsfamilie das stehengelassene Abendessen ins Klo geschüttet haben soll. Derartiges würde eine muslimische Familie wie diese niemals tun.

Ein durchaus lesenswerter Roman, wenn man nicht allzu große stilistische Ansprüche stellt, mit einer geradezu beklemmenden Aktualität, da die serbischen Nationalisten in den Jahren 2023/2024 durch den Angriffskrieg des Diktators des russischen „Brudervolkes“ wieder Auftrieb verspüren Ihre großserbischen Machtphantasien mit Gewalt durchzusetzen.

Auf jeden Fall hätte das Buch eine weniger fade und nichtssagende Covergestaltung durchaus verdient.

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Veröffentlicht am 24.04.2024

Liebe in Zeiten der Familie

Wir bleiben noch
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Von der ersten Zeile an hat mich dieses Buch mitgenommen. Der Schreibstil ist gut. Es liest sich flüssig. Die Charaktere sind glaubhaft und lebensnah, genauso wie auch die Dialoge. Gewürzt mit trokenem ...


Von der ersten Zeile an hat mich dieses Buch mitgenommen. Der Schreibstil ist gut. Es liest sich flüssig. Die Charaktere sind glaubhaft und lebensnah, genauso wie auch die Dialoge. Gewürzt mit trokenem englischen Witz mußte oft schmunzeln oder lachen.

Im Zentrum steht das Leben des Mittvierzigers Victor in den Jahren 2018 bis 2019. Ich sah immer Hugh Grant vor mir. Er ist im Begriff, sich nach 8 Jahren von seiner Frau Iris zu trennen, da der nicht erfüllte Kinderwunsch die Beziehung zersetzt hat. Noch bevor die Trennung sauber vollzogen ist, gestehen sich er und seine Cousine Karoline gegenseitig ihre Liebe ein. Bis zum Ende handelt dann das Buch vom Lieben und Leben der beiden und ihrem Sich-Abfinden damit, daß der Zug in Sachen eigene Kinder abgefahren ist und ihren Schwierigkeiten mit dem Rest der Familie, also mit seinen Eltern und mit ihren Eltern und ihrer Schwester, die ihre Beziehung aufgrund der verwandtschaftlichen Nähe als "abartig" bezeichnen.

Urli, die Großmutter von Viktor ist standhafte Sozialdemokratin und gibt den beiden noch ihren Segen, bevor sie stirbt. Das Verhältnis der beiden zum Rest der Familie wird zusätzlich dadurch belastet, daß Urli im Testament ihrem Enkel Victor alleine ihr Haus vermacht. Ein älteres kleines Haus auf dem Lande.

Das Buch ist eine schöne angenehm zu lesende Paar- und Familienstudie und zudem gibt es einen Einblick in die Verfasstheit der österreichischen Gesellschaft 2018/2019.

Wie in vielen Ländern ist auch in Österreich die Gesellschaft nach rechts gerückt. Aufhänger dafür sind die Flüchtlinge. Tatsächlich ist es aber die Sattheit einer ganzen Generation, die, in jungen Jahren, als sie noch nichts hatten, links waren und nun im Renten- und Vorrentenalter um ihre Pfründe und ihre Bequemlichkeit fürchtend ins konservative Lager gewechselt sind.

Mich hat die Liebesgeschichte der beiden leicht traurig gestimmt, da sie nur sich haben, keine Freunde und die ganze Familie gegen sich. Ein Buch, das ich nur empfehlen kann und ich bin froh, es im Tauschregal entdeckt zu haben, nachdem ich in der Ketten-Buchhandlung eine Stunde lang vergeblich nach einem guten Buch gesucht habe.

Für einen 5. Stern hat es bei mir nicht ganz gereicht, aber beinahe.

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