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Veröffentlicht am 24.04.2024

Liebe in Zeiten der Familie

Wir bleiben noch
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Von der ersten Zeile an hat mich dieses Buch mitgenommen. Der Schreibstil ist gut. Es liest sich flüssig. Die Charaktere sind glaubhaft und lebensnah, genauso wie auch die Dialoge. Gewürzt mit trokenem ...


Von der ersten Zeile an hat mich dieses Buch mitgenommen. Der Schreibstil ist gut. Es liest sich flüssig. Die Charaktere sind glaubhaft und lebensnah, genauso wie auch die Dialoge. Gewürzt mit trokenem englischen Witz mußte oft schmunzeln oder lachen.

Im Zentrum steht das Leben des Mittvierzigers Victor in den Jahren 2018 bis 2019. Ich sah immer Hugh Grant vor mir. Er ist im Begriff, sich nach 8 Jahren von seiner Frau Iris zu trennen, da der nicht erfüllte Kinderwunsch die Beziehung zersetzt hat. Noch bevor die Trennung sauber vollzogen ist, gestehen sich er und seine Cousine Karoline gegenseitig ihre Liebe ein. Bis zum Ende handelt dann das Buch vom Lieben und Leben der beiden und ihrem Sich-Abfinden damit, daß der Zug in Sachen eigene Kinder abgefahren ist und ihren Schwierigkeiten mit dem Rest der Familie, also mit seinen Eltern und mit ihren Eltern und ihrer Schwester, die ihre Beziehung aufgrund der verwandtschaftlichen Nähe als "abartig" bezeichnen.

Urli, die Großmutter von Viktor ist standhafte Sozialdemokratin und gibt den beiden noch ihren Segen, bevor sie stirbt. Das Verhältnis der beiden zum Rest der Familie wird zusätzlich dadurch belastet, daß Urli im Testament ihrem Enkel Victor alleine ihr Haus vermacht. Ein älteres kleines Haus auf dem Lande.

Das Buch ist eine schöne angenehm zu lesende Paar- und Familienstudie und zudem gibt es einen Einblick in die Verfasstheit der österreichischen Gesellschaft 2018/2019.

Wie in vielen Ländern ist auch in Österreich die Gesellschaft nach rechts gerückt. Aufhänger dafür sind die Flüchtlinge. Tatsächlich ist es aber die Sattheit einer ganzen Generation, die, in jungen Jahren, als sie noch nichts hatten, links waren und nun im Renten- und Vorrentenalter um ihre Pfründe und ihre Bequemlichkeit fürchtend ins konservative Lager gewechselt sind.

Mich hat die Liebesgeschichte der beiden leicht traurig gestimmt, da sie nur sich haben, keine Freunde und die ganze Familie gegen sich. Ein Buch, das ich nur empfehlen kann und ich bin froh, es im Tauschregal entdeckt zu haben, nachdem ich in der Ketten-Buchhandlung eine Stunde lang vergeblich nach einem guten Buch gesucht habe.

Für einen 5. Stern hat es bei mir nicht ganz gereicht, aber beinahe.

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Veröffentlicht am 24.04.2024

Ein außergewöhnlicher Lesegenuß und unbedingte Empfehlung für alle Zeitreisenden

Das andere Tal
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Bewertung zu "Das andere Tal" von Scott Alexander Howard


In meinen Augen ein literarisch ganz oben anzusiedelndes Werk in exzellentem Schreibstil !


Der Roman Das andere Tal des kanadischen Schriftstellers ...

Bewertung zu "Das andere Tal" von Scott Alexander Howard


In meinen Augen ein literarisch ganz oben anzusiedelndes Werk in exzellentem Schreibstil !


Der Roman Das andere Tal des kanadischen Schriftstellers Scott Alexander Howard spielt in einem kleinen abgeschotteten Tal.

Neben diesem Tal gibt es noch exakte Kopien des Tales, die im Osten und Westen angrenzen, zeitversetzt 20 Jahre vor und zurück. Und auch an diese Täler grenzen, wiederum auf der anderen Seite, exakte Kopie des Tales, um jeweils weitere 20 Jahre zeitversetzt in Zukunft und Vergangenheit, in endloser Reihe.

Ein Besuch der anderen Tälern wird nur in Ausnahmefällen genehmigt. Zu groß ist die Gefahr, daß die Kausalkette der Ereignisse gestört wird, mit verheerenden Folgen für eines der Täler, bis hin zur Auslöschung.

Im ersten Teil des Romans lernen wir im „gegenwärtigen“ Tal Odile unsere 16 jährige Hauptfigur und ihre Freunde kennen. Ein schüchternes Mädchen, das nur schwer Anschluß findet. Die Jugendlichen stehen am Ende ihrer Schulzeit und müssen sich für eine Ausbildung entscheiden.

Odile bewirbt sich beim Conseil, der Regierung des Tales, die auch über die Reiseerlaubnis entscheidet.

Um unerlaubte Reisen in Vergangenheit oder Zukunft zu verhindern sind alle Täler von einem gesicherten und bewachten Zaun umgeben.

Odile erfährt die ersten Liebesgefühle und beginnt zarte Bande zum gleichaltrigen Edme zu knüpfen.

Zufällig beobachtet Odile Besucher aus der Zukunft, erkennbar an den schwarzen Masken und Kutten die sie tragen müssen. Anhand des Habitus der Besucher erkennt sie, daß es sich um Edmes Eltern handeln muß und, daß der einzig denkbare Grund für ihren Besuch nur der nahende Tod Edmes sein kann. Als Odiles Lehrerin am Conseile von dieser Sichtung erfährt, wird Odile bei Strafe verboten, Edme zu warnen. Als Edme tödlich verunglückt bricht Odile ihre Ausbildung als Conseillière ab.

Der erste Teil ist mehr ein Coming-of-Age-Roman und eine Gesellschaftsbeschreibung, als ein Zeitreise-Abenteuer. Aber sehr interessant sind all die Detailfragen, die sich bei der Thematik der Zeitreisen in die benachbarten Täler ergeben. Es ist wirklich spannend zu lesen, wie diese abgeschlossene Welt aufgebaut ist und funktionieren kann.

Das Coming-of-Age von Odile wird bemerkenswert einfühlsam beschrieben.

Im zweiten Teil begegnen wir nun der 20 Jahre älteren, also der 36-jährigen Odile. Genaugenommen befinden wir uns nun also im Tal, das östlich an das im ersten Teil beschriebene grenzt.

Edmes Tod und Odiles Schuldgefühle, da sie ihn nicht gewarnt hatte, haben unsere Hauptfigur derart aus der Bahn geworfen, daß sie sich aufgegeben und einen Posten bei der Gendarmerie angenommen hat, die die Grenze bewacht. Eine Stellung die eigentlich für die Gescheiterten der Gesellschaft vorgesehen ist.

Ihr Leben dort ist entbehrungsreich, stumpf und von demütigenden Anfeindungen geprägt und so scheint Odile, nach Edmes Tod, über Jahrzehnte, einen Akt der permanenten Selbstbestrafung vorzunehmen.

Wie sehr sich Odile in die Gegebenheiten ihres tristen Daseins gefügt hat und wie sehr sie abgestumpft ist, wird sichtbar, als sie den Mord ihres Vorgesetzten an Lucie bedenkenlos hinnimmt, einer flüchtenden Frau, die sie noch von ihrer Schulzeit kannte, und sogar noch zu ihrem Vorteil nutzen will.

Würde der Roman hier enden, so würden wir dieses Buch tief deprimiert zur Seite legen.

Doch ein fulminantes, packendes und unglaublich spannendes Ende dieses Debüt-Romanes gibt uns unsere Hoffnung zurück und es stellt sich nur noch eine Frage: Wann kommt der zweite Roman von Scott Alexander Howard.

Natürlich kann man vom Autor nicht erwarten, daß er diese Geschichte in logischer Hinsicht nach allen Seiten wasserdicht macht. Also Fragen nach dem Woher des Benzins für den Autobus oder der Ersatzteile für die Gerätschaften des Alltags, werden nicht beantwortet.

Aber ein äußerst interessantes Gedankenexperiment ist es allemal, veranschaulicht es doch auf einfache Weise die Theorie, daß Zeit eine Illusion ist. Alles findet gleichzeitig statt, nur eben auf einer Unzahl verschiedener Frequenzen. Vergleichbar mit einem Radio, wo man immer nur einen Sender hören kann, obwohl Tausende Stationen gleichzeitig senden.

Der Stil – Ein Lesegenuß auf höchstem Niveau

Was mich an diesem Buch sofort begeistert hat, ist der exzellente Schreibstil des Autors. Jedes Wort ist genau da, wo es hingehört. Wie bei einem gut komponierten klassischen Musikstück stimmen Tempi, Betonungen, Satzlängen und Satzmelodie. So wird, unabhängig vom erzählten Stoff, das Lesen selbst zum Genuß. Wenn man es genau betrachtet, findet oft mehr Detailbeschreibung, als Handlung statt. Dennoch empfand ich das Lesen als unglaublich spannend und wollte das Buch kaum aus der Hand legen. Die Metaphern sind kleine Meisterwerke, passend und immer genau auf den Punkt. Als Leser fühlt man sich getragen und der Autor versteht es, Dialoge so geschickt in indirekter Rede auszuführen, daß diese den Lesefluß in keinster Weise beeinträchtigen.

„Das andere Tal“ ist eine absolute Empfehlung und ich bin überzeugt davon, daß dies nicht der letzte Roman von Scott Alexander Howard sein wird, in dessen Genuß wir kommen.

Das Einzige, was ich als Leser an diesem Roman vermißt habe, war ein rotes Lesebändchen, passend zum schönen rot-orangen Ganzleineneinband des bekannt handlichen Diogenes-Buches.

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Veröffentlicht am 24.04.2024

Flotter Ritt durch New York der Zwanziger Jahre verwoben mit Ringen beim kreativen Schaffen im Spannungsfeld zwischen Kunst und Alltag

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen
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Kaleidoskopartige Eindrücke vom Ringen um und Leben mit der Kunst

In ihrem Roman Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen läßt sich die rumänisch-schweizerische Schriftstellerin Dana Grigorcea von Fragen ...

Kaleidoskopartige Eindrücke vom Ringen um und Leben mit der Kunst

In ihrem Roman Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen läßt sich die rumänisch-schweizerische Schriftstellerin Dana Grigorcea von Fragen zum Thema Kunst leiten und versucht den künstlerischen Schaffensprozeß zu ergründen.

Der 222 Seiten umfassende Roman spielt zeitlich und örtlich an zwei verschiedenen Settings, die in reizvoller Weise miteinander verbunden werden.

Im Hier und Jetzt erleben wir die Schriftstellerin Dora, die im Rahmen eines Literaten-Stipendiums in einem Hotel in Italien versucht, die Amerikareise des Bildhauers Constantin Avis im New York der 20er Jahre literarisch festzuhalten. Als Vorbild für die Romanfigur dient ihr hierfür der rumänische Bildhauer Constantin Brâncuși.

Das zweite Setting ist der Aufenthalt von Constantin Avis in New York etwa 100 Jahre vor unserer Zeit. Eines seiner Hauptwerke „Vogel“ hat er mitgebracht, da er hoffte, diesen im Rahmen einer Einzelausstellung präsentieren zu können. Doch kurz vor seiner Ankunft ist sein Mäzen und Galerist verstorben.

Beide Schauplätze wechseln sich in den einzelnen Kapiteln fast regelmäßig ab.

In temporeichen irisierenden Sequenzen dürfen wir daran teilhaben, wie Constantin das New York der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erlebt. Dann kehren wir wieder in die Gegenwart zurück und beobachten Dora beim Schreiben des nächsten Kapitels und im kreativen Schaffen im Spannungsfeld zwischen den Anforderungen des Alltags und den Ansprüchen ihre Kunst betreffend.

Mit Dora in Italien ist Loris, ihr 8 -jähriger Sohn und sein Kindermädchen Macedonia. Später kommt Regis hinzu, mit dem Dora eine toxische Beziehung zu führen scheint.

Dora hält sich in ihrer eigenen Scheinwelt auf und erschreibt sich in Constantin und Lidy die Traumbeziehung, die sie eigentlich leben möchte, während alle anderen Protagonisten der Gegenwart die Realität nicht verdrängen.

Das Buch schließt ab mit einem Epilog in dem der Prozess beschrieben wird, den Constantin mit der Zollbehörde führt, in dem es im Kern um die Frage geht Was ist Kunst ? Dieser beruht auf dem entsprechenden historischen Ereignis in dem die Frage geklärt wurde, ob es sich beim Werk „Vogel“ des Bildhauers Constantin Brâncuși um Kunst handelt oder nicht. Es ist amüsant zu lesen, doch mit 13 Seiten empfand ich dieses Kapitel, im Vergleich zu anderen nur wenige Seiten umfassenden, überbetont, denn die Frage Was ist Kunst ist für den Künstler und den kreativen Schaffensprozess unerheblich und nur in Fragen der Besteuerung von Relevanz.

Ich bin dankbar dafür, daß mir die Autorin den Künstler Constantin Brâncuși und sein, vermutlich ein wenig vergessenes Werk, nahegebracht hat.

Der Schreibstil ist ein kaleidoskop- bis stroboskopartiger und nicht nur für den Durchschnittsleser gewöhnungsbedürftig und ein wenig anstrengend.

Die Autorin versteht es, sich in die Charaktere ihrer Figuren hineinzuversetzen. Ich vermute, daß sie in diesen Roman auch viele Aspekte ihres eigenen Lebens hat einfließen lassen.

Dieser manche Aspekte der Kunst betrachtende Roman ist kein Buch durch das sich Lesende bequem tragen lassen können, man muß schon selbst kräftig strampeln, um mitzukommen. Zwischendurch abzudriften, ohne etwas zu verpassen, kann man sich bei diesem Buch nicht leisten und das spricht in meinen Augen eindeutig für dieses literarische Werk.

Ich kann mich aber dennoch nicht des Eindrucks erwehren, daß dem Werk etwas Provisorisches anhaftet, etwas Unfertiges. Wie eine Art Skelett, das man erst noch in eine gesättigte Lösung halten muß, damit sich an ihm viele interessante Kristalle ausbilden und die Form vollenden können.

Ich hätte mir gewünscht, daß bei Fragen der Kunst mehr in die Tiefe gegangen wird, so wird vieles nur angesprochen und bleibt dann an der Oberfläche. Auch andere angerissene Fragen bleiben unbeantwortet, manch Schilderung ohne Erklärung oder nur mit sehr verstecktem Bezug.

Doch wer sagt, daß ein Roman immer eine abgerundete Sache sein muß ? Natürlich wäre das uns als Lesende lieber, doch das Leben an und für sich ist ja auch weit davon entfernt, eine abgerundete Sache zu sein.

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen von Dana Grigorcea ist 2024 bei Penguin Random-House in München mit der ISBN 978-3-328-60154-8 als Hardcover erschienen und kostet 24,- Euro.

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Veröffentlicht am 24.04.2024

Feinsinnige und poetische Familienanalyse

Treibgut
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Im Roman Treibgut von Adrienne Brodeur lernen wir zunächst die Mitglieder einer, auf den ersten Blick, beneidenswerten Familie kennen.

Da ist Adam Gardner (69), brillanter Walforscher kurz vor seiner ...

Im Roman Treibgut von Adrienne Brodeur lernen wir zunächst die Mitglieder einer, auf den ersten Blick, beneidenswerten Familie kennen.

Da ist Adam Gardner (69), brillanter Walforscher kurz vor seiner Pensionierung, sowie sein Sohn Ken (42,) der erfolgreiche Immobilienentwickler auf dem Sprung in den Senat und seine Tochter Abby (38), die schwangere Malerin kurz vor ihrem künstlerischen Durchbruch. Diese, sowie Ken’s Frau Jenny (mit ihren bezaubernden 12-jährigen Zwillingstöchtern Tessa und Franny) werden, in sich abwechselnden, Kapiteln beschrieben, die mit dem jeweiligen Namen betitelt sind.

In vier Monaten ist der 70. Geburtstag des egozentrischen Patriarchen und so strebt alles auf diesen Tag zu.

Broudaine beschreibt ihre Protagonistin so treffend, daß man das Gefühl hat, bereits jeden von ihnen schon Jahre zu kennen.

Exquisite Landschafts- und Naturbeschreibungen bereichern diese kluge Familienanalyse, der es nicht an Humor fehlt. Klug und immer genau auf den Punkt.

Schon zu Anfang läßt uns die Autorin hinter die Fassade blicken:

Adam versucht mit Psychopharmaka seine bi-polare Störung zu steuern, Ken ist traumatisiert vom Tod seiner Mutter als er vier Jahre alt war und seine einzige Motivation ist, es den anderen zu zeigen, da er als Kind gemoppt wurde und nie die Anerkennung seines Übervaters bekam. Abby ist verhuscht und ohne Selbstvertrauen. Der Grund dafür wird sich noch zeigen. Zudem kriselt es in Ken’s Ehe mit Jenny.

Schnell treten weitere Protagonisten hinzu: Steph (38), Polizistin aus einfachen Verhältnissen, die erst jüngst, als sie zum ersten Mal Mutter wurde, erfahren hat, daß sie die Frucht eines Fehltritts von Adam ist, der aber davon keine Ahnung hat. Sie ist lesbisch und mit Toni verheiratet.

Das bedingungslose Akzeptieren dessen, was Eltern und Familie einem Kind zumuten, ist ein Überlebensmechanismus, der sich im Laufe der Evolution zur Arterhaltung herausgebildet hat. Die Natur sagt, Hauptsache überleben, schließlich kann sich auch ein stark traumatisierter Mensch im Erwachsenenalter noch reproduzieren und zur Erhaltung der Spezies beitragen.

Wie stark unsere Kindheitstraumata unser Handeln als Erwachsene beeinflussen, ist das Kernthema dieses großartigen Romans.

In einer Art Schälvorgang legt die Autorin Schicht um Schicht frei, bis die (Kindheits-) Traumata zum Vorschein kommen. Doch findet dies nicht in einer theoretisch-verkopften Analyse statt, sondern die Autorin versteht es meisterhaft alles locker fließend zu beschreiben und offenzulegen, indem sie uns einfach am Leben, Fühlen und Denken der Protagonisten teilhaben läßt. Dazwischen werden, wie von einem unsichtbar im Hintergrund arbeitenden Metronom, immer wieder Wahrheiten gesetzt, die genau ins Schwarze treffen.

Der Roman spielt auf Cape Cod einer Landzunge, die in den Atlantischen Ozean ragt, mit seiner reichen maritimen Geschichte, traditionellen Fischerdörfern, einer lebendigen Kunstszene und einer sommerlichen Flut von Touristen und Walbeobachtern. Die Bewohner sind geprägt vom Meer und seinen Gezeiten. Ein ständiges Fließen und Verändern, das sich auch auf die Menschen auswirkt.

Den ganzen Roman hindurch bezaubert uns die Autorin auch mit einfühlsamen Stimmungs- und Naturbeschreibungen, die sie organisch und ganz nebenbei einfließen läßt und so werden wir wie auf einer Woge durch die Handlung getragen und haben als Lesende das Gefühl, uns tatsächlich dort aufzuhalten.

Die Beschreibung der Figuren kommt so natürlich und lebensecht daher, daß diese uns nach kürzester Zeit vertraut sind.

Adrienne Brodeur bringt das Kunststück fertig, uns sowohl die Tablettensucht des manischen Adam, als auch die Traumata und tiefsitzenden Verletzungen von Ken und Abby so zu beschreiben, wie sie von diesen zu Beginn des Romans empfunden werden: Als Selbstverständlichkeit, als eine Unwichtigkeit mit der man sich nicht sonderlich zu beschäftigen braucht. Traumata scheinen immer mit Verdrängung einherzugehen.

So findet im Verlauf des Buches gleichzeitig auch beim Leser der Erkenntnisprozess der traumatisierten Protagonisten statt, daß es sich bei dem, was in ihrer Kindheit stattfand, um alles andere als Lappalien handelt und daß die Traumata so schwerwiegend sind, daß sie das gesamte Leben und Handeln als Erwachsene zu bestimmen und überschatten scheinen. Diese Autorin schaut genau hin, und nicht wieder weg, sobald es zu unangenehm wird.

Wie beim Essen nehme ich mir auch beim Lesen gerne Zeit, um den Genuß zu strecken. Doch dieses Buch habe ich verschlungen.

Der Stil ist fließend, so natürlich und unaufdringlich und selbstverständlich wie das Ein- und Ausatmen des Meeres mit Ebbe und Flut. Die an genau passender Stelle eingestreuten Bemerkungen sind klug und witzig, was einem als Leser leider selten begegnet.

Die Dialoge sind so lebensecht und figurenspezifisch, daß die direkte Rede (in meinen Augen die Königsdisziplin beim Schreiben) von den Lesenden an keiner Stelle als störend empfunden wird.

Die Autorin beschenkt uns den ganzen Roman hindurch mit klugen und poetischen Metaphern.

Hier eine kleine Leseprobe für die poetische Sprache, die uns durch den Roman trägt und die klugen Erkenntnisse, die uns als Lesende zu Teil werden:

„Er hielt sich die (Fechterschnecken-) Schale ans Ohr, horchte ihrer Stimme, diesem Nachhall von Zeit und Wahrheit, und sah den Jungen – sein jüngeres, lange verschwundenes Ich – das Gleiche tun. Und so, die Schale an ihrer beider Ohren, versank Adam in der sanften Glückseligkeit des Schlafs, lauschte dem uralten Zwiegespräch zwischen Mathematik und Magie, zwischen Leben und Tod.“

So ganz nebenbei und sehr klug behandelt die Autorin auch Fragen der bildenden Kunst und des künstlerischen Ringens und Schaffens. Eine unbedingte Bereicherung.

Wenn wir ein Buch kaufen, dann ist das dem Buchen einer Reise ähnlich. Vorher können wir uns entscheiden, ob wir es tun oder nicht. Doch dann müssen wir großenteils akzeptieren, wo wir hingeführt werden und was uns gezeigt wird. Im Leben gibt es kein Recht auf Vollkommenheit und so ist es durchaus möglich, daß wir einen wunderbaren, unvergesslichen Urlaub erleben und dennoch das für den Abschluß der Reise groß angekündigte Feuerwerk recht mau ausfällt.

So hat die Autorin in meinen Augen bei der Beschreibung des großen Ereignisses des 70. Geburtstages von Adam, auf den ja im Buch alles zusteuert, eine große Chance vertan, indem sie die tragische Komik, die sich durch das Aufeinanderprallen der verschiedenen Charaktere und Erwartungshaltungen ergibt, zu wenig zelebriert. Schade, wo sie doch den ganzen Roman über gezeigt hat, über welch klugen und feinsinnigen Humor sie verfügt.

Schreibende müssen nicht jede aufgeworfene Frage eines Romans beantworten, man darf durchaus das ein oder andere offen lassen. Doch wenn sich ein Buch dadurch auszeichnen läßt, daß sich die Wahrheitsliebe und Aufklärung als einer der roten Fäden durch das Werk zieht, dann kann man als Autorin nicht einfach am Ende die Beantwortung der Kernfrage nur andeuten, sie muß explizit und unmissverständlich ausgesprochen werden. Man kann sich dann auch nicht einfach hinter US-amerikanischer Prüderie verstecken, um Leser nicht zu verprellen, denen es unangenehm wäre, wenn sie nicht die Möglichkeit bekämen, eine unangenehme Wahrheit zu verdrängen. Daß man als Leser will, daß eine so bedeutende Frage vom Autor nicht unbeantwortet bleibt, hat nichts mit voyeuristischer Neugier zu tun, sondern ist dem Umstand geschuldet, daß die Lesenden ein Recht auf diese Wahrheit haben, um das Geschehene beurteilen und einordnen zu können.

Mir erscheint es ein wenig so, als wäre der Autorin gegen Schluß zu, etwas die Puste ausgegangen.

Wie leider so oft, beschreiben der Klappentext und die Kurzbeschreibung auf der Rückseite des Umschlages den Charakter des Buches nicht ganz zutreffend. Das Buch ist wesentlich reichhaltiger, als man nach dieser Beschreibung erwartet.

Nicht nur der exzellente Inhalt, sondern auch die Gestaltung des Buches mit den türkisfarbenen Vorsatzblättern und dem stimmig zum Inhalt gestalteten Schutzumschlag mit einer Strandszene mit Himmel und Meer in verschiedenen Türkisschattierungen, sowie die professionelle sehr gute typographische Gestaltung, lassen mich den Roman mit Freude in meinem Regal mit den Lieblingsbüchern unterbringen.

Das Buch erhält von mir 4,5 von 5 Sternen. Gerne hätte ich die 5 Sterne vergeben, doch muß ich einen halben Stern für die nur angedeutete Beantwortung der Kernfrage und das Verschenken der Steilvorlage bei der Geburtstagsparty in Abzug bringen.

Eine der Botschaften dieses Buches ist für mich, daß sich eine Familie nicht primär über das gemeinsame Blut definiert, sondern über die Liebe, die die Menschen einander geben und, daß ein liebevoller Mensch in bescheidenen Verhältnissen ein besseres Familienoberhaupt ist, als ein egozentrisches Genie.

Diese sensible, unbeschwerte und dennoch tiefschürfende Beschreibung einer Familie mit ihrer strukturellen Problematik, wie sie ähnlich in vielen Familien vorkommt, ist ein überaus kluges und wahrhaftiges, poetisches Kleinod. In meinen Augen daher eine unbedingte Leseempfehlung.

Die Autorin Adrienne Brodeur ist eine US-amerikanische Schriftstellerin und Redakteurin, bekannt für ihre Memoiren und ihre Arbeit als Literaturagentin. Sie ist Autorin des Bestsellers "Wild Game: My Mother, Her Lover, and Me" (2019), in dem sie ihre eigene Erfahrung aufarbeitet, als ihre Mutter eine Affäre mit ihrem Stiefvater begann und sie in ihre Geheimnisse einbezog. Brodeur ist auch Mitgründerin und ehemalige Executive Director der Aspen Words, einer gemeinnützigen Organisation, die sich der Förderung von Literatur und Schreibkunst verschrieben hat.

Der Roman Treibgut von Adrienne Brodeur umfasst 464 Seiten und ist 2024 zum Preis von 24,- Euro bei Kindler erschienen. Das Original in englischer Sprache erschien 2024 unter dem Titel Little Monsters bei Random House 2024 als Taschenbuch und bei Hutchinson Heinemann als Hardcover.

Weitere Bücher von Adrienne Bordeur in deutscher Übersetzung:

Wild Game – Meine Mutter, ihr Liebhaber und ich (2020)

Das Männer-Camp (2007)

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