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Veröffentlicht am 18.01.2019

keine leichte Geschichte, sehr gut erzählt

Die Geheimnisse der Welt
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Als ich „Die Geheimnisse der Welt“ von Lisa O’Donnell vom Tisch der Mängelexemplare nahm, ahnte ich noch nicht, was für ein Kleinod dieses Buch ist. Mich hatten das Cover angesprochen - ein Fußball spielender ...

Als ich „Die Geheimnisse der Welt“ von Lisa O’Donnell vom Tisch der Mängelexemplare nahm, ahnte ich noch nicht, was für ein Kleinod dieses Buch ist. Mich hatten das Cover angesprochen - ein Fußball spielender Junge durchs Schlüsselloch im Scherenschnitt - und der Klappentext - auf der kleinen schottischen Insel „kennt jeder jeden“, doch „es gibt auch Geheimnisse“, die der Junge ehrausfinden wird, zum Beispiel über seine Mutter. Ich hatte eine leichte Coming-of-Age-Geschichte erwartet. O’Donnell erzählt auch eine, aber keine leichte …

In der Familie des elfjährigen Michael gibt es einen katastrophalen Wendepunkt: Seine Mutter kommt eins Tages zerschunden, blutig und am Boden zerstört nach Hause. Dem Leser ist klar, dass sie vergewaltigt wurde, dem jungen Erzähler hingegen nicht. Alles, was kommt, wird durch die Augen des Jungen betrachtet, von ihm reflektiert und dem Leser erzählt. Michael versteht nur allmählich, was passiert ist und immer noch geschieht, wie nämlich die häusliche Gemeinschaft der Familie und das Miteinander mit den Nachbarn und der ganzen winzigen Gemeinde von Rothesay Stück für Stück zerbröckelt. In Michaels Schilderung erkennt der Leser das ganze Ausmaß der zersetzenden Kraft, die von Notlügen, Verheimlichung und falscher Scham ausgeht. Am Ende des zweiten Drittels sind die Spannungen in den sozialen Bindungen kaum noch auszuhalten, zumal der Leser fast alles überschaut, obwohl er eigentlich nicht mehr wissen kann, als Michael erzählt. Das ist sehr gut gelungen und entwickelt eine literarische Schärfe, wie man es sich wünscht, wenn Autoren Wesen und Anliegen einer Geschichte herausarbeiten, indem sie sie richtig erzählen.

Auf dem Buchrücken schwärmt die ‚Sunday Times‘ zutreffend von „Michaels Erzählstimme […] - aufmerksam, nachdenklich, witzig und vollkommen glaubwürdig.“ Es ist allerdings ausgerechnet dieser literarische Spiegel, diese Erzählstimme, die mein Lesevergnügen je länger, je mehr ein wenig störte: ich hatte das Gefühl, verstanden zu haben, warum und wie der Elfjährige und die Geschichte funktionieren - ich wollte das nicht immer und immer wieder lesen. Auch schimmerte ein moralischer Impetus bisweilen etwas banal und platt durch die Zeilen. Aber das sind Einschränkungen, die eine Leseempfehlung für dieses Schmuckstück kaum einschränken: eine Lektüre, die sich lohnt!

Veröffentlicht am 18.01.2019

Vom Krieg schreiben, vom Krieg zu zweit

Alabama Song
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Gilles Leroy schreibt einen Roman, eine Romanbiographie, keine Biographie. Zum Glück? Weil man Zelda Fitzgeralds, der Frau des Schriftstellers F. Scott Fitzgerald, dieses Leben nicht gewünscht hätte?

Zelda ...

Gilles Leroy schreibt einen Roman, eine Romanbiographie, keine Biographie. Zum Glück? Weil man Zelda Fitzgeralds, der Frau des Schriftstellers F. Scott Fitzgerald, dieses Leben nicht gewünscht hätte?

Zelda und Scott Fitzgerald haben einander nicht gut getan. Geheiratet, weil sie berühmt werden wollten, weniger aus Liebe, zusammengeblieben aus Gewohnheit und weil es sich so gehörte, herabgerissen vom Alkohol und dem Leben im Exzess, vereint im „Krieg zu zweit“ (S. 149). Sie starben beide, noch ehe sie 50 wurden, er dem Vergessen entgegentaumelnd als versoffener Versager, sie eingesperrt in ein brennendes Irrenhaus.

Daraus entwickelt Leroy die Lebensbeichte Zeldas, ihren Schrei nach Leben - einem anderen nämlich, als sie es geführt hat. „Welch ein Glück, ein Mann zu sein! Wie traurig, eine Frau zu sein“ (S. 214), vor allem wenn diese Frau so selbstbestimmt ihr Leben als Abenteuer gestalten will und dabei an die Grenzen stößt, die von der Gesellschaft, der Konvention, ihrem Gatten und - hier wird es tragisch - den eigenen Beschränktheiten gesetzt werden. Die Liebe ihre Lebens nennt Zelda den Monat mit dem französischen Flieger Jozan; hier nämlich durfte sie Frau sein, ohne Ehefrau sein zu müssen; Künstlerin, ohne gekünstelt zu sein, exaltiert, ohne eine Publikumserwartung auf den nächsten Skandal erfüllen zu müssen.

Zeldas Wahnsinn ist - in Leroys Roman - ihre Antwort auf das Scheitern ihrer Träume und den Widerstand von außen: Sie zieht sich zurück in eine andere Wirklichkeit und nimmt dorthin mit, was immer sie benötigt. Die Dialoge mit den wechselnden Psychiatern sind brillante Schaufensterblicke in Zeldas Version ihrer Vergangenheit, auch der Vergangenheit ihrer Zukunft.

Man wünscht Zelda, dass ihr Leben besser war als Leroys Interpretation; und man hofft, dass Scott Fitzgerald ein nicht ganz so verkommenes Scheusal gewesen ist, wie Zeldas Anklage ihn dastehen lässt.

Ein gutes Buch, das sich Seite für Seite entblättert.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Satire auf ein gutes Steak, blutig oder well done - aber keinesfalls medium!

Der rote Stier
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Nero Wolfe ist schon ein ziemlicher Stoffel - eingebildet, ungeduldig und bis zur Unverschämtheit schroff zu seinen Mitmenschen. Ein Angestellter muss schon hart im nehmen sein - oder ähnlich veranlagt ...

Nero Wolfe ist schon ein ziemlicher Stoffel - eingebildet, ungeduldig und bis zur Unverschämtheit schroff zu seinen Mitmenschen. Ein Angestellter muss schon hart im nehmen sein - oder ähnlich veranlagt -, um sich das jahrelang gefallen zu lassen. Archie Goodwin, der Ich-Erzähler, ist beides. So gesehen sind Wolfe und Goodwin Antihelden - weil sie nichts Heldenhaftes haben und bisweilen sogar ziemlich unsympathisch sind.

Warum macht es trotzdem so viel Spaß, Stouts Krimi zu lesen? Weil Wolfe extrem intelligent ist und hinter die Fassade zu schauen vermag. Er reißt den Halbgescheiten und Bornierten um sich herum die Maske vom Gesicht - das ist unverschämt und übergriffig, aber auch oft notwendig. Rex Stout hat dem „Der rote Stier“ eine Kriminalsatire auf die amerikanische Wettbewerbsgesellschaft und die Kleintierzüchtermentalität der Provinz geschrieben. Nur dass es hier um große Tiere geht - um Guernseyrinder, um genau zu sein. Ironie darf beißen, Satire muss wehtun, sonst wirkt sie nicht.

Wer deren Namen liest, kann die Züchter und Tierschauen nicht mehr ernst nehmen: Thistleleaf Lucifer, Willowdale Zodiac, Hawleys Orinocco, Hickory Buckingham Pell oder Hickory Caesar Grindon. Eben jener Caesar ist die Hauptfigur des Romans: Er ist Opfer und Töter zugleich. Als Zuchtstier mit dem höchsten je erzielten Preis soll er für Werbezwecke eines Fastfood-Restaurantbesitzers gerillt werden - ein Sakrileg! Caesar aber hat selbst Dreck am Stecken (oder Blut an den Hörners): er soll Clyde Osgood aufgespießt haben.

Nero Wolfe ermittelt, um die Unschuld eines Steaks zu ermitteln - auch hier zeigt sich die satirische Grundkonstruktion des Krimis, der nur scheinbar viele Winkelwege geht, denn eigentlich ist die Auflösung so simpel wie „zwingend“, wenn der alles durchschauende Wolfe endlich mit seiner Sicht herausrückt. Bis es soweit ist, blicken wir durch Goodwins Augen und begleitet von seinem sarkastischen Kommentar auf eine spezielle menschliche Kaste und ihre großen und kleinen Fehler. Ob Goodwin eine Knastbrudergewerkschaft gründet, Rinderzüchter Schnappatmung bekommen, weil ein prämierter Bulle gegrillt werden soll, ob ein Gauner aus New York von Wolfe auseinandergenommen wird oder Wolfe angesichts eines Mannes, der auf sein Mittagessen sprachlos bis auf ein Wort wird (“grotesk!“ S. 238) - immer amüsiert der ironische Unterton, selbst wenn es grob wird. Die gegenübergestellten Gegensätze dienen der ironischen, unterhaltsamen Theatralik: Der fette Wolfe ist schließlich selbst ein Teil der überkandidelten Züchtergemeinde, onduliert und manikürt aber die zartesten Orchideen, die mindestens so alberne Namen tragen wie die Provinzstiere.

„Der rote Stier“ ist wahnsinnig gut gelungen, macht Lust auf sommerliches Grillen und kommt überdies in einem schicken Gewand aus Leinen auf samtweichem Papier daher - ein Treffer!

Veröffentlicht am 18.01.2019

"A man named Lucy"

Der Diener, die Dame, das Dorf und die Diebe
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Ein Aufbruchsmärchen, eine Ausbruchsfabel - Ein "Man named Lucy" wird Unteroberhaushofmeister in einer düsteren Burg, die an das unheimliche Setting von Draculas Burg erinnert, einschließlich der gespannten ...

Ein Aufbruchsmärchen, eine Ausbruchsfabel - Ein "Man named Lucy" wird Unteroberhaushofmeister in einer düsteren Burg, die an das unheimliche Setting von Draculas Burg erinnert, einschließlich der gespannten Beziehungen zum Dorf. Die Verwicklungen, die Lucy erlebt, sind komisch, unheimlich, phantasievoll und skurril, die Liebesgeschichte wirkt keinesfalls aufgepfropft, sondern nimmt den Protagonisten für mich ein. Allerdings
nerven nur die inszenierten Dialoge ein wenig, in denen sich die Personen ständig missverstehen und in einer Weise an einander vorbeireden, die übers Knie gebrochen wirkt.

Alles in allem nicht so toll, wie der "Roadmovie" der Sisters-Brothers, aber - auch in der schönen Ausgabe - eine gelungene Abenteuerlektüre!

Veröffentlicht am 18.01.2019

Tarkowski lässt grüßen

Internat
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Mir hat an diesem Roman gefallen, dass er einen Protagonisten ins Zentrum stellt, der hin- und hergerissen ist zwischen dem, was man tun sollte, was man tun kann und was man tun muss. Ständig hinterfragt ...

Mir hat an diesem Roman gefallen, dass er einen Protagonisten ins Zentrum stellt, der hin- und hergerissen ist zwischen dem, was man tun sollte, was man tun kann und was man tun muss. Ständig hinterfragt Pascha, was er tut - zweifelt an sich und kämpft sich dennoch vorwärts. Warum? Weil er so viel falsch gemacht hat im leben? Weil er seinen Neffen liebt, den er durch den Bürgerkrieg abholen will? Weil er etwas richtig machen will? Weil es ihm niemand zugetraut hat? Letztendlich ist es egal - denn Pascha tut es, während gleichzeitig der Autor Serhej Zhadan über das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Moral und des Alleinseins nachdenken lässt.

Die Handlung spielt in einer postapokalyptischen Landschaft à la Tarkowski, mit der zwar die östliche Ukraine gemeint ist (einmal wird ein Fluss dort beim Namen genannt, ansonsten bleiben alle Orte namenlos), die aber eigentlich überall sein könnte. Tauscht man "Ukrainisch" und "Russisch" gegen Adjektive beliebiger Krieg führender Parteien aus, fehlt dem Roman lediglich die Aktualität, nicht aber die Intensität. Denn Krieg in der Nachbarschaft (und nicht nur dort) ist immer grausam.

Der Stil ist nicht immer schmackhaft und eingängig; dennoch bleibt das Buch hängen und arbeitet hinter der Stirn noch lange weiter. Und das ist gut so für einen Antikriegsroman.