keine leichte Geschichte, sehr gut erzählt
Die Geheimnisse der WeltAls ich „Die Geheimnisse der Welt“ von Lisa O’Donnell vom Tisch der Mängelexemplare nahm, ahnte ich noch nicht, was für ein Kleinod dieses Buch ist. Mich hatten das Cover angesprochen - ein Fußball spielender ...
Als ich „Die Geheimnisse der Welt“ von Lisa O’Donnell vom Tisch der Mängelexemplare nahm, ahnte ich noch nicht, was für ein Kleinod dieses Buch ist. Mich hatten das Cover angesprochen - ein Fußball spielender Junge durchs Schlüsselloch im Scherenschnitt - und der Klappentext - auf der kleinen schottischen Insel „kennt jeder jeden“, doch „es gibt auch Geheimnisse“, die der Junge ehrausfinden wird, zum Beispiel über seine Mutter. Ich hatte eine leichte Coming-of-Age-Geschichte erwartet. O’Donnell erzählt auch eine, aber keine leichte …
In der Familie des elfjährigen Michael gibt es einen katastrophalen Wendepunkt: Seine Mutter kommt eins Tages zerschunden, blutig und am Boden zerstört nach Hause. Dem Leser ist klar, dass sie vergewaltigt wurde, dem jungen Erzähler hingegen nicht. Alles, was kommt, wird durch die Augen des Jungen betrachtet, von ihm reflektiert und dem Leser erzählt. Michael versteht nur allmählich, was passiert ist und immer noch geschieht, wie nämlich die häusliche Gemeinschaft der Familie und das Miteinander mit den Nachbarn und der ganzen winzigen Gemeinde von Rothesay Stück für Stück zerbröckelt. In Michaels Schilderung erkennt der Leser das ganze Ausmaß der zersetzenden Kraft, die von Notlügen, Verheimlichung und falscher Scham ausgeht. Am Ende des zweiten Drittels sind die Spannungen in den sozialen Bindungen kaum noch auszuhalten, zumal der Leser fast alles überschaut, obwohl er eigentlich nicht mehr wissen kann, als Michael erzählt. Das ist sehr gut gelungen und entwickelt eine literarische Schärfe, wie man es sich wünscht, wenn Autoren Wesen und Anliegen einer Geschichte herausarbeiten, indem sie sie richtig erzählen.
Auf dem Buchrücken schwärmt die ‚Sunday Times‘ zutreffend von „Michaels Erzählstimme […] - aufmerksam, nachdenklich, witzig und vollkommen glaubwürdig.“ Es ist allerdings ausgerechnet dieser literarische Spiegel, diese Erzählstimme, die mein Lesevergnügen je länger, je mehr ein wenig störte: ich hatte das Gefühl, verstanden zu haben, warum und wie der Elfjährige und die Geschichte funktionieren - ich wollte das nicht immer und immer wieder lesen. Auch schimmerte ein moralischer Impetus bisweilen etwas banal und platt durch die Zeilen. Aber das sind Einschränkungen, die eine Leseempfehlung für dieses Schmuckstück kaum einschränken: eine Lektüre, die sich lohnt!