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Veröffentlicht am 18.01.2019

Der unbekannte Vater einer ganzen Generation

Im Frühling sterben
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Rothmann erzählt die Geschichte zweier junger Männer – Fiete und Walter –, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges noch in die Waffen-SS gezwungen und an die Front in Ungarn geschickt werden. ...

Rothmann erzählt die Geschichte zweier junger Männer – Fiete und Walter –, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges noch in die Waffen-SS gezwungen und an die Front in Ungarn geschickt werden. Rothmann versteht es, in diesem kurzen Roman die Coming-of-Age-Geschichte Walters zu erzählen und dabei gleichzeitig tiefe Freundschaft, große Liebe und Nachdenken über den Tod im Angesicht des Granatenhagels zu den Themen von Walters Generation zu machen. Walter will überleben und Fete einfach nur raus. Der eine ist pragmatisch und kommt aus dem Krieg, um nicht gerade das Leben eines Siegers zu führen, der andere zu freigeistig, um sich zu beugen.

Mir hat vor allem gefallen, wie es „Im Frühling sterben“ schafft, eine Geschichte zu erzählen, die gleichzeitig so gewöhnlich wirkt, wie sie außergewöhnlich ist, so dass sie auch als Geschichte einer ganzen Altersgruppe gehört, nämlich jener Flakhelfergeneration, von der die Bundesrepublik nach dem Krieg so geprägt wurde. Es erscheint folgerichtig, dass die in der Rahmenhandlung Walters Sohn zum Erzähler wird und die ahnungslose Fragehaltung der Nachgeborenen einnimmt, die ratlos vor der Kriegserfahrung der Väter stehen.

Überdies ist der Roman ganz unaufgeregt und nachdenklich geschrieben und hätte auch das Etikett Liebesgeschichte verdient.

Eine echte Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Kyoko denkt nach

Kein schönerer Ort
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Umizuka ist ein Ort, der immer schöner werden soll. dafür sind den Einwohnern zahlreiche Regeln auferlegt worden - vom nachbarschaftlichen Mülleinsammeln, Grünanlagenpflegen bis hin zu gemeinschaftlichen ...

Umizuka ist ein Ort, der immer schöner werden soll. dafür sind den Einwohnern zahlreiche Regeln auferlegt worden - vom nachbarschaftlichen Mülleinsammeln, Grünanlagenpflegen bis hin zu gemeinschaftlichen Feiern und einer gruppenstiftenden Hymne. Dass diese Regeln in alle Bereiche des Lebens vordringen, erlebt schon die elfjährige Kyoko in der Schule, wo die Schüler nach den „Zehn Regeln der Klasse 5b“ (S. 48) leben sollen. Nummer 3. etwa lautet „Beim Schulessen wollen wir nichts zurückgehen lassen“, Nr. 8 „Wir wollen zusammenstehen“, Nr. 10 „Wir alle sind eins“. Da die Lektüre dem Bericht des Mädchens Kyoko folgt, enthüllt sich nur Zeile für Zeile, wie tief Umizukas Regeln in alle Winkel des Privaten vordringen. Denn Kyoko versteht nicht alles, was um sie geschieht, aber sie denkt viel nach und reibt sich stark mit den strengen, scheinbar antisozialen Regeln ihrer Mutter, die sich vor den Nachbarn versteckt und immer weniger mit Kyoko versteht. Die erkennt schließlich: „Wie soll man auch verstehen können, was andere dachten, wenn man oft genug nicht einmal verstand, was im eigenen Kopf vorging.“ (S. 104)

Es geht aber noch sehr viel mehr vor in diesem Ort Umizuka, den offenbar vor einigen Jahren eine schlimme Katastrophe heimgesucht hat, deretwegen alle Bewohner erst fort- und später wieder hergezogen sind. Dieser Umzug hat offenbar mit der Einführung strenger Regeln zu tun und mit einigen Merkwürdigkeiten, die Kyoko nicht in Frage stellt, die aber beim Lesen so gar nicht alltäglich wirken: Sieben Schüler sterben innerhalb eines Schuljahrs, doch Kyoko argwöhnt nichts, während am Ende jedes Absatzes Alarmglocken schrillen.

Es ist eine Stärke des Buchs, das es nicht versucht, den naiven Tonfall einer Elfjährigen zu imitieren, denn Kyoko erzählt mit fast zwanzig Jahren Abstand in der Sprache der Erwachsenen. Aber sie referiert ihren damaligen Wissensstand glaubwürdig und umso überzeugender. Es ist eine weitere Stärke dieses Romans, wie er den Blick des Lesers auf die Mutter Seite für Seite wandelt. Der innere Totalitarismus wird durch den äußeren abgelöst und öffnet den Blick auf eine Gesellschaft, die sich dem nichtalltäglichen Alltag nach einer Katastrophe unterwirft. Da der Roman im Angesicht der Fukushima-Katastrophe geschrieben wurde, denkt man unwillkürlich an radioaktive Verseuchung - aber hierzu gibt es allenfalls Andeutungen. Wohl aber wird deutlich, wie wichtig der Verlust des Hinterfragens, die Eindämmung des individuellen Willens und die Einschränkung einer wissensbasierten Fähigkeit zur Kritik für eine etwaige Regierung ist, die einfach weitermacht. Umizuka war nicht schön und ist nun erst recht nicht schöner, egal was die Hymnen künden!

Ein strahlkräftiger Roman mit langer Halbwertzeit.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Der dreifache Roth - ein Widerspruch in sich

Operation Shylock
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„Operation Shylock“ ist ein ‚Bekenntnis‘, kein Roman, betont Philip Roth schon im Untertitel. der Textberuhe auf genauesten Aufzeichnungen seiner Tätigkeit für den israelischen Geheimdienst Anfang 1988 ...

„Operation Shylock“ ist ein ‚Bekenntnis‘, kein Roman, betont Philip Roth schon im Untertitel. der Textberuhe auf genauesten Aufzeichnungen seiner Tätigkeit für den israelischen Geheimdienst Anfang 1988 in Athen. Und in der Tat geben sich ganze Abschnitte den Anschein, Aufzeichnungen, Zusammenfassungen, Ideensplitter zu sein. Der Clou aber ist, dass Philip Roth nach Isreal reist, um dort einen Doppelgänger zustellen, der als ‚Philip Roth‘ dem Prozess gegen den SS-Wachmann John „Ivan den Schrecklichen“ Demjanjuk beiwohnt und gleichzeitig wie ein wiedergeborener Anti-Herzl die Rückkehr der Juden nach Europa (Diasporismus) propagiert. Roth trifft Roth, erzählt von Roth - das ist keine leichte Kost, auch wenn sie sich gefällig lesen lässt.

Warum das Ganze? „Wegen Israel.“ (S. 88) Roth lässt sich und seine Figuren nicht nur über die Identität des Staates Israel (und die Identität der Palästinenser) monologisieren, sondern auch - und dies wie in allen seinen Romanen - über die jüdische Identität. Seine eigene und die eines jeden Juden, der in sich die Zerrissenheit einer jüdischen und womöglich einer nationalen Identität trägt, beispielsweise als US-Amerikaner. Innere Zerrissenheit ergibt sich in der inneren Suche nach sich selbst - und bei Roth kommen zwei Roth heraus, die miteinander diskutieren. Schon die dem Text vorangestellten Mottos leiten auf die Zwiegespaltenheit des Selbst hin: „Der ganze Inhalt meines Daseins schreit im Widerspruch gegen sich selbst“ (Kierkegaard) und „Also blieb Jakob allein. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach“ (Genesis 32,25).

Die Fragen: Bin ich ich? Leide ich an „Ichtis“? Ist Roth Roth? Ist Demjanjuk wirklich „Ivan der Schreckliche“ aus dem Lager Treblinka? sind komplex und bleiben offen. Die Wahheit lasse sich oft nur in der Lüge erkennen, werde sichtbar sozusagen in der gespiegelten Antithese. Insofern ist das Nicht-Gesagte oft dem Gesagten beigesellt - und deshalb der gleichwohl lockere Text oft schwer und satt. Auch wenn Roth, „Roth“ oder sein palästinensischer Freund Zee über den Staat Israel sprechen, schwingen Kritik und Imperativ gleichzeitig und dennoch gegeneinander. Was ist „jüdischer Geist“ und wo ist er zuhause (S. 137), ist kaum zu beantworten - oder immer anders. Vor der Welt als Shakespeares „Shylock“ seit 400 Jahren zur polemischen Figur gezeichnet, sucht ein Jude stets sein eigenes Bild (als spezielle Form der Sinnsuche eines jeden Menschen) und wundert sich, sofern er glaubt: „Wo war Gott zwischen 1939 und 1945? ich bin sicher, daß er bei der Schöpfung dabei war.“ (S. 239)

Zwiegespaltenheit als Merkmal des Menschen schreibt Roth auch den Tätern zu: „Die Deutschen haben der ganzen Welt endgültig bewiesen, daß die Aufrechterhaltung zweier radikal divergenter Persönlichkeiten, einer sehr netten und einer nicht gar so netten, nicht länger das Vorrecht von Psychopathen ist.“ (S. 68) Roths ganzer Text steckt voller Wahnsinnigkeiten, Klarsichtigkeiten, Bedeutsam- und Nichtigkeiten, seinen Zentralthemen Frauen, Judentum und Ich und ist deshalb ein Füllhorn kluger, nachdenklicher, auch absurder Gedanken, die so genial sind, wie sie bisweilen langatmig geraten.

Eine Schlusspointe ist, dass Roth die titelgebende Geheimdienstoperation „Shylock“ schlicht weglässt und im letzten Satz noch einen doppelten Boden einzieht: „Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oderSchauplätzen oder Personen, seien sie lebendig oder tot, ist reiner Zufall. Dieses Bekenntnis ist falsch.“(S. 457)

Und der dritte Roth? Ist der Verfasser der „Operation Shylock“, von dem nicht klar ist, wie viel Roth in den beiden Roth-Figuren steckt.

Eine großartige Lektüre!

Veröffentlicht am 18.01.2019

Das Mädchen im Nebel

Der Nebelmann
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Carrisis „Nebelmann“ trägt einen der verwirrendsten Klappentexte auf dem Rücken: Er verrät nämlich ohne Not einen Clou des Romans, der sich erst sehr, sehr spät enthüllt, und legt überdies damit einen ...

Carrisis „Nebelmann“ trägt einen der verwirrendsten Klappentexte auf dem Rücken: Er verrät nämlich ohne Not einen Clou des Romans, der sich erst sehr, sehr spät enthüllt, und legt überdies damit einen Schwerpunkt, den der Roman nicht hat. Vielleicht ist deshalb auch der deutsche Titel so gewählt worden: „Der Nebelmann“ heißt im Original „La ragazza nella nebbia“, also „das Mädchen im Nebel“ - und so sollte das Buch auch besser heißen.

Vogel ist ein interessanter Ermittler: einer, der mit den Medien spiel. Kein echter Schnüffler oder Codeknacker, sondern ein manipulativer Ermittler, der mehr mit dem Bauch klärt und seinem Gespür für die Schwächen der Menschen als mit überlegenem Intellekt. Er ist unsympathisch und überheblich, hat offenbar gerade ein paar eklatante Fehler hinter sich und deshalb weiß man als Leser nicht so genau, wie man es mit ihm halten soll. Anna Lou ist verschwunden, und als Hauptverdächtiger des Geschehens scheint der Lehrer Martini ausgemacht zu sein. Von diesem stammt der denkwürdige Hinweis: „Es sind die Bösen, die eine Geschichte ausmachen.“ Auch Vogel erinnert daran, dass man nur die Namen der schlimmen Täter im Kopf behält, nicht aber die der Opfer.

Es gehört zu den geschickten selbstreflexiven Hinweisen des Autors, denn auch sein Roman lässt das Opfer bald in den Hintergrund treten und lebt von den Handlungen der Bösen - worin Vogel mit eingeschlossen ist. Die Die Konstruktion des Romans nimmt drei auktoriale Perspektiven ein: zum Teil Wochen nach dem Geschehen, als Vogel blutbesudelt im Dorf wieder auftaucht, und dann die Erzählstränge mit je Vogel und Martini im Zentrum. Das ist nicht besonders komplex, wie auch der Stil Carrisis schnörkellos und knapp ist, obschon ihm eine dichte Atmosphäre gelingt. Der Roman nennt sich Thriller, ist aber kein Spannungskracher.

Deshalb ist angesichts aller oben genannten Einschränkungen am überraschendsten eigentlich, wie gern ich den Roman gelesen habe – wirklich ansprechend.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Ein Sommer, wie er früher einmal war

Ostende
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Weidermann gelingt es, die kurzlebige Stimmung der Exilliteraten Joseph Roth, Stefan Zweig, Irmgard Keun und der anderen, die aus Nazideutschland geflohen, aber eigentlich noch nicht im dauerhaften Exil ...

Weidermann gelingt es, die kurzlebige Stimmung der Exilliteraten Joseph Roth, Stefan Zweig, Irmgard Keun und der anderen, die aus Nazideutschland geflohen, aber eigentlich noch nicht im dauerhaften Exil nagekommen sind. Dieser Sommer 1936 im belgischen ostende ist gleichzeitig so sehr in der Zeit verfangen, wie er aus ihr herausfällt. Mit Leichtigkeit lesen wir die Seiten, schauen wir den Menschen in die Herzen und Köpfe, obschon die gewaltigen Veränderungen des Krieges schon dräuen. Weidermanns größte Leistung für mich: dass ich auf einmal etwas von Irmgard Keun lesen möchte, die mir auch Schultagen so sehr verhasst war.