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Veröffentlicht am 17.09.2018

Die Vergangenheit in der Gegenwart - und warum es wehtut

Die Gestalt der Ruinen
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Juan Gabriel Vásquez gehört zur jungen Generation erfolgreicher südamerikanischer Schriftsteller. Er stammt aus Kolumbien und legt mit „Die Gestalt der Ruinen“ erneut einen Roman vor, der sich mit der ...

Juan Gabriel Vásquez gehört zur jungen Generation erfolgreicher südamerikanischer Schriftsteller. Er stammt aus Kolumbien und legt mit „Die Gestalt der Ruinen“ erneut einen Roman vor, der sich mit der gewalttätigen Vergangenheit seines Landes und der Beschädigung ganzer Generationen befasst. Im Zentrum stehen politische Morde - an General Rafael Uribe Uribe 1914 und Jorge Eliécer Gaitán 1948 - und die anschließenden revolutionären Revolten, der Bomben- und Drogenkrieg bis hin zum verlorenen Jahrzehnt des Drogenbarons Pablo Escobar und seines Medellin-Kartells. Alle Gewalt Kolumbiens hatte mit der Ungleichheit der Vermögensverhältnisse im Land zu tun - und mit jenen, die sie brechen oder daraus ausbrechen wollten. Aber: „Hier kommt niemand unversehrt davon.“ (S. 294) Die Vergangenheit entlässt keinen ohne ihre Prägung in die Zukunft. Manchmal hinterlässt die Vergangenheit nur Ruinen.

Vásquez schreibt eine Abrechnung mit der gewalttätigen und zum Teil unaufgearbeiteten Vergangenheit seines Heimatlandes, er legt den Finger auf die Wunden der Zeit - oder lässt sie durch seine Figuren legen, ohne selbst endgültige Stellung zu beziehen. „Der Roman wird zu einem mächtigen Instrument der historischen Spekulation“ (S.134), und der Roman darf es, muss es sogar sein. Vásquez nimmt sich fast ein ganzes Jahrhundert kolumbianischer Geschichte vor, ein komplexes Thema, das er auch komplex erzählt: In der Rahmenhandlung ist es sein literarisches Alter Ego, der Schriftsteller ‚Vásquez‘, der auf Vermittlung des gut vernetzten Arztes Benavides von Carlos Carballo aufgefordert wird, die Geschichte der politischen Morde in Kolumbien neu zu schreiben. Ja: als Erster richtig und wahr zu schreiben. Ohne in die diegetische Interpretation einzusteigen, inwiefern der Autor-Vásquez mit ‚Vásquez‘ überlappen, wie viel Autobiographisches in ihm steckt, wie viel Authentisierungsstrategie des scheinbar autofiktionalen Anteils, wird zumindest deutlich, wie personal Vásquez die Erzählhaltung gestaltet, weil ihm die Geschichte offenbar so nahe geht; er nimmt sie buchstäblich persönlich.

Carballo, Benavides und ‚Vásquez‘ haben alle familiäre und persönliche Beziehungen zum Mord an Gaitán. Auf dessen Ermordung folgte in Stadt und Land die blutige Bogoteza und ein Jahrzehnt des Bürgerkrieges - jedoch niemals die Aufklärung der Hintergründe jener angeblichen Tat eines verwirrten Einzelgängers. Nicht zufällig webt Vásquez auch zwei andere Einzeltäter in die Erzählung ein, deren politischer Attentate die Welt verändert haben: Lee Harvey Oswald und Gavrilo Princip, die Mörder Kennedys und Franz Ferdinands. Wenn die Tat eines Einzelnen oder weniger Personen zum Angelpunkt der Geschichte wird, dann öffnet sich stets die Frage: War er allein? Wer stand hinter dem Täter? Wer profitiert von dem Verbrechen? Wer sind sie?

Diese Fragen stehen am Beginn nicht nur der historiografischen Erklärung, sondern auch von Verschwörungstheorien, insbesondere dann, wenn die Antworten scheinbar nicht die ganz Wahrheit enthüllen. Carlos Carballo hat sein ganzes Leben der Wahrheitsfindung verschrieben - oder womöglich an Verschwörungstheorien vergeudet, weil er mi den Antworten der offiziellen Geschichtsschreibung nicht einverstanden war. Weil zu viele Fragen offen blieben. Weil ihm vor allem keiner beantworten konnte, warum diese Einzeltat so viel Einfluss auf seine eigene Herkunft und Person hatte. Er stößt auf einen Bruder im Geiste, den Rechtsanwalt Marco Tulio Anzola, der sich ähnlich manisch an der Ermordung des Generals Uribe Uribe abgearbeitet hat. Anzola, eine reale Person, zweifelte an der Tätertheorie, zwei arme Handwerker hätten spontan zur Axt gegriffen, um Uribe in eigenem Auftrag zu erschlagen - und scheiterte spektakulär. Von ihm blieb nur das politische Pamphlet „Wer sind sie?“, das wie eine Bibel der Verschwörungstheorien die Zeiten überdauert. Die zersetzenden Fragen an die Ungereimtheiten der einfachen Erklärung zersetzen das Vertrauen in die Wirklichkeit und lassen die Verschwörungstheorien blühen. Carvallo ist so voll davon, dass er ‚Vásquez‘ damit (fast) ansteckt, denn „eine Verschwörung ans Licht zu bringen. Das ist eine Aufgabe, der man sich widmen kann, Vásquez, eine Lüge von der Größe einer ganzen Welt zu enttarnen.“ (S. 278) Das Problem mit Verschwörungstheorien ist, dass sei die Form einer Ersatzreligion annehmen können, in der nur noch Wahrheiten gelten, die zur Theorie passen. ‚Vásquez‘ lässt das für sich nicht zu und schreibt den großem Enthüllungsroman nicht, um den Carballo fleht, aber es entsteht „Die Gestalt der Ruinen“, in der weder ‚Vásquez’ noch Vasquez eindeutig Stellung beziehen, wohl aber das Erbe ihrer Heimat annehmen, mit „ihren Irrtümern, ihrer Unschuld und ihren Verbrechen.“ (S. 519)

Bis zu diesem letzten Satz hat Vásquez eine komplexe Geschichte komplex erzählt. In er Rahmenhandlung mit ‚Vásquez‘ und Benavides steckt die Binnenerzählung Carballos und insbesondere die Binnenerzählung von Anzolas Schicksal, die großen Raum einnimmt und zudem noch Anzolas eigenen Text „Wer sind sie?“ enthält. Die zeitlichen Ebenen verschränken sich häufig, oft gekonnt, manchmal verwirrend, wie um zu zeigen, dass die gesamte Vergangenheit zu jeder Zeit gegenwärtig ist. Auch wechselt dadurch ständig die Erzählperspektive und bleibt nicht ausf jeder Ebene in sich konsistent. Das ist anstrengend zu lesen und nicht immer nachzuvollziehen. Vásquez variiert das Erzähltempo mit den Zeiten und zieht etwa die Ermordung General Uribes unnötig in die Länge. Mit dem Eintritt in Anzolas Binnenerzählung längt sich überhaupt der ganze Roman, weil man beim Lesen nicht darauf vorbereitet wurde, dass Uribes Attentat dieses Gewicht und diesen breiten Raum erhalten würde. Das Attentat an Gaitán erscheint zum Ende hin fast nur wie ein Tor, durch das man zu Uribes Mord scheiten musste, fast. Einzelne Figuren, die anfangs wichtig erschienen, bleiben hingegen völlig auf der Strecke. Das bleibt unverständlich und erscheint mir eine Fehlkonstruktion des Romans - oder eine Entscheidung zugunsten der Arbeitsökonomie, um nämlich den Roman nicht über noch mehr Seiten zu dehnen.

Der Roman ist dennoch unbedingt lesenswert, auch wenn er Längen und Schwächen hat, weil er nämlich auf einem erzählerischen Niveau Macken hat, das andere Romane niemals erreichen. Vásquez‘ zentrales Thema - was nämlich die historische Wahrheit ist - beschäftigte ihn schon in „Die Reputation“ und in „Die Informanten“, und es ist immer noch nicht verbraucht. Im Gegenteil! Auch die Geschichtswissenschaft arbeitet sich an der historischen Wahrheit seit Thukydides ab, da alle historische Deutung … Fiktion ist. Dass Verschwörungstheorien, die „das Establishment“, „das System“ oder den „Deep State“ hinter monströser Geschichtsfälschung vermuten, ihren unbestreitbaren Charme haben, zeigt die Faszination, die von Carballos und Anzolas Beispielen ausgeht. Dass die offizielle Wahrheit Fehlstellen hat, die beunruhigen, ist ebenso unbestreitbar. Dazwischen bewegt sich der Mensch, bewegt sich Vásquez mit den Mitteln des Romans und regt zum Nachdenken und Mitdenken an. Wie tief das gehen kann, zeigt sich, wenn man den Titel des Romans betrachtet: „Die Gestalt der Ruinen“.

Die als Ruinen bezeichneten Gegenstände im Roman sind Knochen. Überreste der beiden Attentatsopfer Uribe und Gaitán. Sie stehen für den Rest Lebendigens im Tode, wie auch in allen Ruinen der Rest der Unversehrtheit steckt, „die Vergangenheit ist in der Gegenwart enthalten“ (S. 176) - oder mit William Faulkners Worten: „The past is never dead. It'‘s not even past.“ Ruinen sind aber die Zeugen dafür, dass die Zeit an nichts vorübergeht, ohne ihre Spuren zu hinterlassen, bis nur noch Ruinen bleiben. Im Gegenwärtigen steckt also die Ruine von morgen. An Carballo und Anzola kann man gut ablesen, wie sie von den Ereignissen ihrer Gegenwart aufgesaugt und ruiniert werden. Sie sind ruinöse Gestalten, die aus der Gewalt ihres Lebens entstanden sind.

Vor allem aber fordern uns Ruinen stets auf, uns ihrer ursprünglichen Form zu erinnern: Wie passt Uribes Kalotte in seinen Schädel? Wie der Wirbel Gaitáns in seinen Körper? Jeder Ruine wohnt die Aufforderung inne: Stell dir vor, wie ich früher ausgesehen habe! Das kennt jeder, der einmal eine Burgruine oder Reste römischer Thermen besucht hat: Welche Gestalt mochten sie gehabt haben? Sich mit Ruinen zu beschäftigen, überbrückt die Zeiten und stellt eine Verbindung von ursprünglicher Gestalt zum gegenwärtigen Zustand her, birgt also auch stets den Prozess vergehender Zeit: Wie wurde die Ruine eigentlich durch die Zeit umgestaltet? Warum verlor sie ihre ursprüngliche Form? Und endlich: Was wäre, wenn dieses oder jenes nicht auf die heutige Ruine eingewirkt hätte?

Wie sähe Carballo ohne die Attentate aus? Wie Kolumbien? Vásquez eröffnet mit dem Nachdenken über den Titel womöglich einen Schlüssel für den Roman, in dem es auch um emotionalen Schaden geht, den das historische Erbe der Heimat über einen bringt, und um die Frage nach einer Alternative, zumindest für die Zukunft.

Und darum ist „Die Gestalt der Ruinen“ lesenswert.

Veröffentlicht am 21.08.2018

Vier Tage nicht Atem holen

Vier Tage in Kabul
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Anna Tells Roman „Vier Tage in Kabul“ ist ein gelungener Thriller, der mit einem spannenden Setting – dem bürgerkriegszerstörten Afghanistan – und einer wirklich tollen Heldin auftrumpft: Amanda Lund ist ...

Anna Tells Roman „Vier Tage in Kabul“ ist ein gelungener Thriller, der mit einem spannenden Setting – dem bürgerkriegszerstörten Afghanistan – und einer wirklich tollen Heldin auftrumpft: Amanda Lund ist taff, versiert und erfahren. Sie lässt sich in der Welt der Spezialeinsatzkräfte und Unterhändler die Butter nicht vom Brot nehmen, was in einer patriarchalischen Stammeskultur, wie sie in Afghanistan noch vorherrscht, besonders herausfordernd ist.

Die Story – schwedisches Diplomatenpaar wird in Kabul entführt, ein schwedischer Diplomat wird in Stockholm ermordet – ist plausibel konstruiert und wird mit überzeugender Detailkenntnis der Polizeiarbeit und des afghanischen Lokalkolorits rasant abgedreht. Die zeitliche Enge der Handlung, komprimiert auf vier Tage, hängt mit der Überlebenswahrscheinlichkeit von Entführungsopfern zusammen. Dass hier jede Minute zählt, springt einem aus jeder Zeile entgegen – spannend.

Die handelnden Figuren werden nur sparsam mit privaten Problemen belastet, was sich wohltuend auf die Erzählperspektive auswirkt, die sich nicht zu sehr verzettelt. Gleichwohl bleiben die schwedische Botschafter etwa oder andere handelnde Personen eindimensionale Typen. Das ist nicht störend, denn sie bedienen nur eine Funktion in der Erzählung, und das machen sie gut.

Zwei erhebliche Logikfehler schmälern meinen Eindruck nur mäßig, weil der Thriller trotzdem funktioniert und super unterhält (Stichworte: Zeitverschiebung und dritter Mann).

Ein gelungener Thriller mit großartiger Ermittlerin!

Veröffentlicht am 17.08.2018

Der Narr - vom Autor verraten

Guten Morgen, Genosse Elefant
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Juri Zipit ist ein wunderbarer Held der Geschichte: Nach einigen schrecklichen Unfällen ist er körperlich versehrt, geistig zurückgeblieben und gleichzeitig doch ein in die Herzen der Menschen blickender ...

Juri Zipit ist ein wunderbarer Held der Geschichte: Nach einigen schrecklichen Unfällen ist er körperlich versehrt, geistig zurückgeblieben und gleichzeitig doch ein in die Herzen der Menschen blickender Kerl. Der Sohn des Moskauer Zoodirektors hat es nicht leicht im Leben, aber einen tollen Vater, der ihn neben zahlreichen zoologischen Essentials auch gelehrt hat, die Dinge stets von der positiven Seite zu sehen, und wenn nur zu sagen bleibt: „Es hätte schlimmer kommen können.“

In der stalinistischen Sowjetunion ist ein Zeitpunkt, zu dem man das kaum noch sagen kann, dann erreicht, wenn nachts der Geheimdienst anklopft und zum Mitkommen auffordert. Doch als dies Juri und seinem Vater passiert, geht es nicht in den Gulag, sondern auf einen Umweg zunächst auf die Datscha des kommunistischen Führers selbst: Väterchen Josef ist krank und traut seinen Ärzten nicht, weshalb der Zoodirektor und Tierarzt Zipit den „Genossen Elefant“ behandeln soll.

Damit ist der Zeitpunkt benannt, zu dem der Roman spielt: es ist Februar/März 1953, und Stalin wird nach einer beispiellosen Jagd auf Ärzte und jüdische Intellektuelle bald das Zeitliche segnen. Und zwar auf jener Datscha bei Kunzewo, in der er seinen innersten Kreis zu nächtlichen Saufgelagen versammelte, deren Exzesse ebenso bekannt sind wie die blutigen Exzesse ihrer Teilnehmer, allen voran Lawrentij Berija, der sich mit dem Blut der Stalinistischen Säuberungen und der Schauprozesse der 1930er Jahre befleckt hatte.

Nachdem man den treuherzig-klarsichtigen Juri und sein Talent kennen gelernt hat, die Leute zu unfreiwilligen Geständnissen zu bewegen und sie den kindlichen Betrachtungen des vermeintlichen Krüppels vorzulegen, steigt die Vorfreude auf die Begegnung mit den Chargen der sowjetischen Nomenklatur.

Wie wird der Junge mit dem reinen Herzen die Schurken entlarven? Welchen Spiegel hält er ihnen vor? Mit welchen klugen Vergleichen wird Juri die Weltanschauungen der Politverbrecher entlarven?

Gar nicht, denn sie entlarven sich selbst.

Nach der wirklich großartigen Willkommensszene in der Datscha, in der Doktor Zipits Auftrag als Nicht-Auftrag dargelegt wird, nach diesem Höhepunkt des Romans rutscht die Handlung ab in eine groteske Klamotte, die alle Gerüchte über die Saufnächte Stalins wahr werden lässt, in der alle Vorurteile und Kolportagen über den verkalkten Tyrannen Stalin und die gewalttätige Bande seiner degenerierten Verbrecher für bare Münze genommen werden.

Statt den ironischen Tonfall beizubehalten und die Stärken des Helden als Katalysator zu nutzen, um die Wirklichkeit zu filtern und in literarische Wahrheit zu verwandeln, erleben wir einen tumultuarischen Klamauk nach dem anderen – bisweilen um seiner selbst willen. Das ist nicht witzig, nicht klug und der Wahrheitsfindung nicht förderlich. In Russland wurde der ähnlich erzählende Spielfilm „The Death of Stalin“, der am gleichen Zeitpunkt ansetzt, verboten. Einerseits weil Russland keine freie Meinungsäußerung gestattet und deshalb nicht als Demokratie zu bezeichnen ist, Andererseits weil eine Zurschaustellung von kolportierten Klischees über machtgeile Scheusale in dieser Form wirkt, als würde der Sieger des Kalten Krieges seinen Triumph über den Systemfeind noch einmal feiern, indem er dem untergegangenen Sowjetreich noch einmal aufs Grab pinkelt.

Hätte ein Russe diesen Roman geschrieben, hätte ich weniger den Eindruck haben müssen, dass der Klassenfeind sich noch einmal an den „Kommis“ rächen wollte.

Viel schwerer aber wiegt das literarische Manko, dass Christopher Wilson in seinem so stark anfangenden Schelmenroman den Schelm vergisst, den Narren verrät.

Der Narr in der Geschichte hat die einzigartige Fähigkeit, hinter die Kulissen zu blicken. Nur er darf über den König lachen und so den vermeintlichen Über-Menschen als Menschen entlarven. Der Narr stellt die Fehler und Schwächen bloß und verwandelt die Fassade der scheinbaren Wirklichkeit in literarische Wahrheit. Till Eulenspiegel ist niemals Teil der Dioramen, in denen er die Eitelkeiten der Welt entlarvt.

Juri hingehen ist Teil des Bildes und gleichzeitig völlig überflüssig, da sich der geheime Macht- und Saufzirkel Stalins in Klamaukszenen selbst als Haufen idiotischer Suffköppe vorführt. Man braucht gar nicht zu ahnen, dass Berija ein gewissenloses Scheusal gewesen ist – er wird so vorgestellt und agiert so ohne jeden doppelten Boden und ohne jedes sich aufstellende Nackenhaar, der Horror dieser historischen Figur verschwindet hinter der grellen Bühnenfarbe, in der Wilson sie anstreicht.

Ich bin schwer enttäuscht von diesem schwachen Gebrauch der Narrenfigur und ihrer Möglichkeiten.

Vollends nicht verstanden habe ich die Umbenennung des Personals. Berija wird zu Bruchah, Chruschtschow zu Kruschka, Josef Wissarionjowitsch Stalin zu Josef Petrowitsch usf. Warum dieser durchsichtige Schleier über das sonst so plakativ-brachiale Geschehen? Mir unklar.

„Guten Morgen, Genosse Elefant“ fängt so stark an, wie er später nachlässt, ist witzig und originell geschrieben und vielleicht deshalb umso enttäuschender.

Veröffentlicht am 19.07.2018

Freiheit ist Kampf und Versöhnung

Kampfsterne
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„Daran krankt unsere Gesellschaft! An lauter kaputten Beziehungen!“ (Rita, S. 170). Die bundesdeutsche Familie der 80er Jahre ist ein gärender Mikrokosmos, in dem jeder Einzelne ein einsames Teilchen ist ...

„Daran krankt unsere Gesellschaft! An lauter kaputten Beziehungen!“ (Rita, S. 170). Die bundesdeutsche Familie der 80er Jahre ist ein gärender Mikrokosmos, in dem jeder Einzelne ein einsames Teilchen ist – gerade in Reihenhaussiedlungen, dem Blockwarteparadies. Alexa Hennig von Lange erzählt vielstimmig eine Geschichte, die auch die Geschichte ihrer Generation ist. Die Geschichte der Kriegskindergeneration, der 68er-Bewegten und wiederum deren Kindern, zu denen auch Hennig von Lange gehört (geb. 1973). Dass die Hauptfigur die achtjährige Alexa – „Lexchen“ – so aussieht und heißt wie die Autorin und eine große Schwester hat, die „Cotsch“ gerufen wird (man kennt sie schon aus der 2008 begonnenen Lelle-Serie), sind Hinweise auf die autobiographische Verortung der Geschichte, gleichsam als Authentisierungsstrategie: „Hier schreibt eine, die weiß, wie es war, weil sie es selbst erlebt hat – so oder so ähnlich.“ In einem Interview im Magazin ‚Allegra‘ von 2016 sagt Hennig von Lange: „Wir waren alle Töchter der 68er-Generation, wir alle hatten Mütter, die erst einmal nur davon träumten, leidenschaftlich zu lieben, zu leben und zu arbeiten– aber eben auch Mütter sein wollten, die für ihre Kinder da waren. In Freiheit.“ Ehefrauen und Ehemänner, Kinder und Mütter und Väter, Nachbarn untereinander. Kindsein, Erwachsenwerden, Sichausprobieren, Frausein, Liebe und Familie – das sind Hennig von Langes Themen seit „Relax“ und kehren in der Reihenhaussiedlung der „Kampfsterne“ wieder.

Schon der Einstieg in den Roman ist wie der Opener zu Star Wars: Die „Kampfschiffe“ kreisen durch das Bild und laden ihre Waffen oder fahren ihre Schilde hoch. Allen Personen sind starke Emotionen zu eigen: Die verbitterte Rita ist voller Hass und Neid. Die unterdrückte Ulla ist voller Angst, will es aber allen „schön“ machen und verkennt, dass man für Freiheit und Wohlbefinden kämpfen muss. Ullas und Rainers ältere Tochter Cotsch ist voller Zorn und auf dem Selbstfindungsweg, verliert sich aber im Kampf. Dann ist da noch Lexchen, die kleine Schwester: Für sie ist alles „wunder-wunderschön“ wie in Roald Dahls „Sophiechen und der Riese“. Dieses unbeschwerte Mädchen muss es irgendwann mit den Riesen aufnehmen, mit den Kampfsternen in dieser schrecklich-schönen Siedlung mit den schönen Fassaden und den starken Emotionen dahinter. Sie ist das Auge des Sturms, in dem Ruhe herrscht vor der zerstörerischen Kraft des Wirbelsturms namens Leben.
Der Roman ist gelungen: Frausein ist die Problemstellung für vier Personen (Cotsch, Ella, Ulla und Rita) und wird mit unterschiedlichen Strategien angegangen. Da die Perspektive der handelnden Personen ständig wechselt – „ich“ ist immer ein anderer –, erfährt man beim vielstimmigen Lesen stets, was die Figuren sich bei ihrer Handlungsweise gedacht haben. Das ist sowohl geschickt als auch simpel – engt die Interpretationsbreite ein, weitet aber den handlungstreibenden Hintergrund. Allerdings wird aus der Abfolge vieler innerer Monologe nicht ein innerer Dialog, aber vielleicht ist auch das Absicht. Manchmal aber gelingt ein direkter Dialog der Gedanken, etwa wenn Rita und Ulla sich gegenüberstehen (S. 113 ff.).

Die inneren Monologe werden zum Ende hin grundsätzlicher, und man spürt, dass es Hennig von Lange hier ernst wird mit ihren Gedanken, dass Freiheit und Beziehungen immer auch Kampf. Dass es hier durchaus eine Schwarz-Weiß-Einteilung gibt, „gute“ und „böse“ Menschen, ist okay, denn die „Kampfsterne“ leben von ihrer Überzeichnung. Wenn Cotsch sich wie auf dem „Scheiterhaufen der gesammelten Versäumnisse“ (S. 124) ihrer Mutter fühlt, sich Lexchen oder Rita mit Jesus gleichsetzen (der überhaupt häufig um die bildungsbürgerliche Ecke linst), dann darf Johannes auch „die Guten/Bösen“ (S. 185) benennen. Sogar die kitschige Ausblendung aus dem Roman passt zur den starken Farben, in denen Hennig von Lange malt.

Die „Kampfsterne“ sind nicht nur etwas für Kinder der 1970er Jahre, sondern ein gelungener Blick in einer Generation, die verstehen und verstanden werden will, und macht Lesefreude.

Veröffentlicht am 20.06.2018

Buch Isaiah, Kaitel 1 - I.Q. cool

Stille Feinde
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Isaiah Quintabe ist smart - er hätte sogar etwas aus seinem Leben machen können, studieren, Geld verdienen, normal sein, wenn sein großer Bruder nicht von einem Auto überfahren worden wäre. Dieser Mord ...

Isaiah Quintabe ist smart - er hätte sogar etwas aus seinem Leben machen können, studieren, Geld verdienen, normal sein, wenn sein großer Bruder nicht von einem Auto überfahren worden wäre. Dieser Mord warf Isaiah aber aus der Bahn. Clever ist er aber geblieben und setzt seinen IQ als Privatdetektiv ein, der nach Robin-Hood-Manier in seinem Viertel Gutes tut. Als dann die Ex-Freundin seines Bruders in anruft und ihn um Hilfe bittet, ihre Schwester Janine aus der Klemme zu holen, kann er nicht anders, als sich und seinen Kumpel Dodson in den mörderischen Strudel von Las Vegas zu werfen, in den dieser Auftrag mündet: unversöhnliche Geldverleiher mit Handlangern, vor denen sich Frankensteins Monster beim Einschlafen fürchtet; Gangster mit mehr Patronen als Grips, aber genauso hohl; gewissenlose Aufsteiger mit weniger Skrupel als Spinnen gegenüber ihrer Beute im Netz.

In zwei parallelen Erzählsträngen begibt sich Isaiah unerschrocken auf die Suche: Er fahndet nach Janine in Vegas, was mit viel Action gewürzt ist und nicht mit Verfolgungsjagden geizt, und er rollt den Mord an seinem Bruder wieder auf, um Rache zu üben. Das ist super gemacht, denn neben der Spannung in beiden Geschehen fragt man ich bei der Lektüre, wann und wie Joe Ide beides zusammenführen wird. Das geschieht spät, aber gekonnt.

Überhaupt muss man die Konstruktion dieses Thrillers loben: Ausgestreute Hinweise, große Fragezeichen, scheinbare Sackgassen und vermeintlich Vergessenes werden auf den letzten 100 Seiten in den Handlungsverlauf eingespeist, bisweilen sich selbst ergebend, zum Teil mit Aha-Effekt. Das macht dann doppelt Freude, wenn am Ende einer actionreichen Handlung die verstreuten Hinweise im Buch einen überraschenden Sinn ergeben.

Keine Kritik?

Doch, aber nur verhalten: Ide schreibt einen cineastischen Stil, „Stille Feinde“ kommt mit der Rasanz eines Actionfilms daher, der mit Gewalt und Wortgewaltigkeit nicht spart. Da wirken die ausgesprochen häufigen Bemerkungen unpassend, dieses oder jenes sei viel schwieriger, langwieriger oder sowieso ganz anders „als in Filmen“. Ide hat schließlich einen Thriller geschrieben und keine Lockpicking-Dokumentation. Der Held Isaiah selbst eckt mit seiner Robin-Hood-Attitüde und seinem Mauerblümchen-Komplex bisweilen beim Lesen an.

Alles in allem spannende Unterhaltung, ich habe mir I.Q., den Vorgängerthriller zu den „Stillen Feinden“ gerade bestellt!