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Veröffentlicht am 16.08.2017

Noch einen gebratenen Elch gefällig?

Der Mann, der mit Schlangen sprach
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Um es vorwegzunehmen: Andrus Kivirähks Roman „Der Mann, der mit Schlangen sprach“ hat mich nicht überzeugen können. Gar nicht. Außer einer originellen Idee, einer Reihe von skurrilen (und leider auch buchstäblich ...

Um es vorwegzunehmen: Andrus Kivirähks Roman „Der Mann, der mit Schlangen sprach“ hat mich nicht überzeugen können. Gar nicht. Außer einer originellen Idee, einer Reihe von skurrilen (und leider auch buchstäblich aufgereihten) Einfällen und bemerkenswerten Ideen sowie einer wirklich schicken Aufmachung durch die Hobbit-Presse des Klett-Cotta-Verlages kann ich dem Buch nichts abgewinnen.
Worum geht es?
Leemet stammt von den Waldleuten ab und lernt als Letzter die Schlangensprache, mittels der er die Tiere des Waldes kommandieren und mit den Schlangen kommunizieren kann. Das harte Leben der Waldleute aber ist bedroht durch das moderne Leben im Dorf, immer mehr wandern ab, um lieber Brot zu essen und Wollkleidung zu tragen, bis schließlich Leemet mit wenigen anderen allein ist im Wald. Diese Exposition einer mittelalterlichen Welt voller kleiner Facetten urtümlicher Magie nimmt die erste, handlungsarme Hälfte des Romans ein. In der zweiten Hälfte findet Leemet eine Frau, verliert sie wieder, findet eine neue, verliert auch diese, verliert seine Freunde, seine Verwandten, seinen Großvater, den Wald und gewinnt am Ende das hehre Amt des Wächters über den Nordlandwurm. Dieses mächtige Ungetüm beschützt die Waldleute, solange sie es mit kollektiver Schlangenzunge rufen konnten. Die Geschichte wird von Leemet selbst in der Ich-Perspektive in einem nicht endenden inneren Monolog referiert, der seine Denkweise und seine Sicht auf die sich wandelnde Welt darlegt. Leemet spricht mit sehr verhaltener Sentimentalität über den Niedergang seiner Kultur und über den Tod seiner Nächsten, wie er überhaupt wenig Emotionen mitbringt, erst recht nicht Mitleid mit den vielen Menschen und Tieren, die in diesem Roman zu Tode gebracht werden. Es ist dieser distanzierte, emotionslose Tonfall. die Distanz zwischen dem grausamen Geschehen und der lapidaren, ja bisweilen sarkastischen Kommentierung, die mich rätseln lässt, warum andere Leser hier Lesegenuss erleben.
Ich muss mich also fragen, ob ich den Roman missverstanden habe? Handelt es sich um eine große Allegorie, in der Krieg, Kolonisierung, Religion und Verklärung der Vergangenheit durch Verzerrung an den Pranger gestellt werden? Sind die skurrilen Einfälle eigentlich satirische Geniestreiche, die mit schwarzem Humor das Allzumenschliche aufs Korn nehmen? Und Satire soll ja bekanntlich weh tun. Geht es hier vielleicht auch um die Frage, was es bedeutet, Letzter zu sein, allein zu sein?
Möglich, dass ich alles missverstanden habe - aber nach meinem Dafürhalten könnte der Roman nur als intelligente Satire durchgehen, wenn er seine Welt konsistent und seine Charaktere glaubwürdig gestalten würde. Durch die Schlangensprache zerplatzende Rehe, sexuelle Beziehungen zwischen Mensch und Bär, billigste Klischees ignoranter Christen, einseitige Typen wie der Waldweise Ülgas oder der rabiate Tambet legen aber nahe, dass Kivirähk so viel Raffinesse nicht zuzutrauen ist.
Wie der Großvater auf das Kennenlernen seines Enkels Leemet reagiert, wirkt komplett unglaubwürdig (S. 256 ff.). Wie über das Brotessen als Wurzel allen Übels der Degeneration gesprochen wird, ist dümmlich und in keiner Weise geeignet, den Prozess der Zivilisation satirisch darzustellen (S. 131 ff.). Die Mengen an Fleisch, die etwa Leemets Mutter täglich auf den Tisch wirft, sind nur durch blutigste Massaker an den Tieren des Waldes denkbar - und lassen den Leser sich gleichzeitig wundern, wie das unnötige Abmessern von so vielen Bambis eigentlich mit dem Lob des mit der Natur im Einklang stehenden Lebens vereinbar sein soll (z.B. S. 149). Überhaupt zeigt sich hier wie auch an sehr vielen anderen Stellen, wie wenig Ahnung Kivirähk von der Größe eines Elchs, von der Wirklichkeit des Pflügens oder von dem konkreten Vorgang des In-die-Kehle-Beißens hat. Es geht nicht darum, dass Details korrekt sein sollen, sondern darum, dass eine Geschichte nur funktioniert, wenn sie im Rahmen der von ihr selbst festgelegten Gesetzmäßigkeiten glaubwürdig ist. Sätze wie der folgende lassen überdies offen zu Tage treten, wie absurd Tonfall und Meinungsäußerung oft sind, ohne dass sie gleichzeitig als satirische Überhöhung durchgehen können: „Ein Pflug ist ein irres Gerät, damit kann man Pflügen, das ist echt klasse“. (S. 228) Selbst die begeistertsten Dörfler können sich nicht derartig über das schweißtreibende Pflügen äußern; es handelt sich schließlich nicht um einen Sportwagen.
 
Die Gespräche der Figuren untereinander wirken oft hölzern und knapp neben der Spur (S. 363):
„Trotzdem musst  du ihn nicht so stark drücken“, sagte Andreas und nahm den Helm an sich. „Ist doch wirklich schön, Männer, da kann man nicht meckern. Weltniveau! Ach, diese Ritter haben echt tolle Sachen.“
„Allerdings stimmten alle im Chor zu. „das ist was anderes als unsere alten Mützen.“
„Wie könnt ihr überhaupt einen so feinen Helm mit einer alten Mütze vergleichen!“, rief Andreas. „Der glänzt doch und ist aus Metall. (…) Ich setze ihn mir auf und alle Frauen machen sofort die Beine breit.“
Solche Dialoge haben kein Weltniveau, sondern stammen eher aus dem Improvisationstheater einer Pennälerbude. Hier fehlen Witz und ein glaubwürdiger Tonfall.

Womöglich ist auch die Übersetzung durch Cornelius Haselblatt schuld, die für das Rumpeln der Sätze verantwortlich sein mag. Punktuell liegt sie einfach daneben. Kostprobe? „Auch der Vogel, dem das Brüten misslingt, weil die Bäume ständig einstürzen, ist nicht schuld an seinem Schicksal.“ (S. 385) Bäume stürzen nicht ein, sie stürzen um.

Es kommt dem immer mehr mit dem Boden verwachsenden, ja zum Humus zerfließenden Narren Meeme in einem seiner denkwürdigen Auftritte zu, den meines Erachtens letztgültigen Satz zu äußern, nämlich "alles ist sinnlos". (S. 454)

Veröffentlicht am 16.08.2017

Sie waren beisammen, sie waren glücklich

Die Familie Hardelot
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"Die Familie Hardelot" ist die gefühlvolle Zeichnung des Lebens von Pierre und Agnès vor dem brennenden Hintergrund der Katastrophe des 20. jahrhunderts und auf dem bleischweren Fundament der Familientraditionen ...

"Die Familie Hardelot" ist die gefühlvolle Zeichnung des Lebens von Pierre und Agnès vor dem brennenden Hintergrund der Katastrophe des 20. jahrhunderts und auf dem bleischweren Fundament der Familientraditionen des 19. Jahrhunderts. Beide Liebenden ertragen die Widrigkeiten ihrer Generation und das Erbe der Familien, indem sie einander treu sind: "Sie waren beisammen, sie waren glücklich", lautet der programmatische erste Satz des Romans.

"Die Güter dieser Welt" (Les biens de ce monde) lautet der französische Originaltitel in der wörtlichen Übersetzung, und gemeint ist: Wert haben nur die Menschen, ihre Gefühle und ihr Charakter sind die wahren Güter dieser Welt.

Der Roman ist eine Übung für Némirovskys Meisterwerk "Suite francaise". Man liest auch die Hardelots mit dem bitteren Beigeschmack des Wissens, dass die Jüdin Irène Némirovsky das Ende des Krieges nicht erlebt hat, weil sie1942 von den Deutschen in Auschwitz ermordet wurde.

"Das Gedächtnis der Völker ist etwas Schreckliches. (...) Sie erinnern sich, dass sie gelitten haben, aber sie wissen nicht, warum ..." (S. 205)

Ein großs Buch - 4,5 Sterne, denn 5 sind der "Suite francaise" vorbehalten.

Veröffentlicht am 16.08.2017

Schwergängige Geschichte zwischen Heimat und Exil, Wirklichkeit und Traum

Die satanischen Verse
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Rushdies Stil überrascht: Seine Geschichte sprüht vor fantastischen Einfällen, bunten Elementen, skurrilen Details. Die Handlung beginnt buchstäblich, indem die Protagonisten Gibril und Saladin vom Himmel ...

Rushdies Stil überrascht: Seine Geschichte sprüht vor fantastischen Einfällen, bunten Elementen, skurrilen Details. Die Handlung beginnt buchstäblich, indem die Protagonisten Gibril und Saladin vom Himmel fallen, und setzt sich fort in einem engelsgleichen Weg duch London und einem taufelsartigen durch die Hölle der Irrenanstalt, um schließlich wieder in Indien zu enden

Dazwischen erleben wir den Propheten Mohammed/Mahound in Zwichenkapiteln als etwas anders interpretierten Religionsstifter und können aus heutiger Sicht nicht nachvollziehen, warum das 1988/89 ein solcher Aufreger gewesen ist.

Der Roman ist klar gegliedert und kennzeichnet stets, ob die Handlung in Vergangenheit oder Gegenwart, Wirklichkeit oder Traum stattfindet, dennoch gerät man wegen der überbordenden Erzähllaune Rushdies immer wieder aus der Spur.

Ein nicht einfach zu lesendes, aber auch angesichts seiner Wirkung lesenswertes Buch.

Veröffentlicht am 16.08.2017

Trashig, grell und unverbraucht - willkommen in der Hauptstadt

Mitternachtsnotar
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Der „Mitternachtsnotar“ von Bettina Kerwien jagt zwei sympathische Ermittler durch das Milieu der anrüchigen Berliner Immobilienhaie: Die Kleinhauskolonie „Am Rabennest“ soll gentrifiziert werden, und ...

Der „Mitternachtsnotar“ von Bettina Kerwien jagt zwei sympathische Ermittler durch das Milieu der anrüchigen Berliner Immobilienhaie: Die Kleinhauskolonie „Am Rabennest“ soll gentrifiziert werden, und eine unheilige Kamarilla aus Lokalpolitikern, Immobilienhaien, Baugewerbetreibenden und dem „Mitternachtsnotar“ legen sich mit den alteingesessenen Mietern an. Dieser Haufen ist so sympathisch wie gut organisiert und schreckt nicht vor aktivem Widerstand zurück. Als es Tote gibt, steckt der Privatermittler Martin „Sanders“ Sanders seine Nase in das Gewühl, trifft die Escortdame Liberty Vale wieder, und beide geraten in den Sog der Handlung. Diese spielt zwischen Tegel und Moabit und steigert sich bis hinauf auf die Kuppel des Berliner Doms zu einem dramatischen Finale.
Ist das ein Regionalkrimi? Man ist geneigt, laut „Nein!“ zu rufen, denn häufig verbindet sich mit diesem Label provinzielle Betulichkeit. Dieser Makel haftet der Geschichte von Kerwien in keiner Weise an: Die Sprache strotzt vor unverbrauchten Bildern, einem frechen, hauptstadtgerechten Tonfall und respektlosen Pointen. Der Stil erinnert an Raymond Chandler oder Philip Kerr und macht aus Sanders eine Art Philip Marlowe bei Karstadt an der Turmstraße - das macht Spaß. In jedem Fünf-Worte-Satz kann sich eine schnoddrige Pointe verstecken, viele Absätze enden mit einer Sentenz wie aus einem Schwarz-Weiß-Thriller. Das erhöht den Lesegenuss, geht aber auf Kosten des Leseflusses.
Dass die Textbilder auf dem schmalen Grat zwischen Wortwitz und Klischee, schön oder kitschig wandeln, passt zu Story, die in ihrem Klang und mit ihren beiden Sympathieträgern das Trashige auslebt.
Der „Mitternachtsnotar“ ist bereits die zweite Kriminalgeschichte, in der Libby Vale und Sanders es mit dem Verbrechen zu tun haben. Man wünscht den beiden noch viele weitere Abenteuer und der Autorin weiterhin so viel Gespür für den Tonfall des „Berlin noir“.

Veröffentlicht am 16.08.2017

Ein versunkenes Kleinod - für deutsche Leser endlich entdeckt

Das weiße Leintuch
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Der Exilroman "Das weiße Leintuch" von Antanas Skema ist eine literarische Wiederentdeckung für die Welt und eine Neuentdeckung für den deutschen Leser. Skema wurde noch im Zarenreich als Teil der litauischen ...

Der Exilroman "Das weiße Leintuch" von Antanas Skema ist eine literarische Wiederentdeckung für die Welt und eine Neuentdeckung für den deutschen Leser. Skema wurde noch im Zarenreich als Teil der litauischen Minderheit in Polen geboren, wurde seine Kindheit über von Ort zu Ort geschleppt, ehe er in der jungen baltischen Republik Litauen studieren konnte. Das künstlerische und kreative Zentrum des Landes - Kaunas und seien Theater - prägte ihn, seine Liebe für das Wort, das sprachliche Ornament, die leuchtenden Bilder, die emotionalen Schatten seiner Texte schärfte er im Medizin. und Jurastudium.
"Das weiße Leintuch" spiegelt Skemas Leben: die Repressalien durch die sowjetischen Besatzer, die Willkür der deutschen Truppen, die Jahre im elenden Exil im Lager für Displaced Persons und schließlich im Bodensatz New Yorks zwischen anderen Einwanderern. Der ebenfalls Antanas heißende Protagonist ist Dichter und Fahrstuhlführer und fährt mit dem Leser durch die Stockwerke der fantastischen Wahrnehmung des verhinderten Exildichters, durch seine Erinnerungsbilder und den erlebten Wahnsinn nebst Momenten im Irrenhaus und im Irrsinn der Wirklichkeit.
Der Roman ist nicht leicht zu lesen, denn die Überblendung von Erzählzeit und Vergangenheit, Wahrheit und Erinnerungen sind neblig wie das Erinnern, aber stets von poetischer Schönheit.
Eine Entdeckung!