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Veröffentlicht am 24.09.2019

Motte begegnet dem Leben und dem Tod

Blackbird
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Als die Generation X noch jung war und gar nicht ahnte, dass ihr die Generationen Y und Z im Nacken sitzen würden, stürzt sich Morten „Motte“ Schumacher ins Leben. Er weiß, was wirklich wichtig ist - Bonanza-Fahrräder ...

Als die Generation X noch jung war und gar nicht ahnte, dass ihr die Generationen Y und Z im Nacken sitzen würden, stürzt sich Morten „Motte“ Schumacher ins Leben. Er weiß, was wirklich wichtig ist - Bonanza-Fahrräder zum Beispiel -, lernt aber in der intensiven Phase als 16jähriger noch ein paar andere wichtige Dinge dazu: dass Mama und Papa sich trennen können etwa. Dass Mädchen rätselhaft sind, vor allem die, die man anbetet und die einem den ersten richtigen Liebeskummer verpassen. Dass das Leben womöglich doch nicht unendlich ist, wenn man sich das Krankenschicksal von Mottes bestem Freund Bogi ansieht.

Matthias Brandt versteht es gekonnt, mit dem Witz und Charme des pfiffigen Jungen die Coming-of-Age-Geschichte eines Durchschnittstypen zu erzählen, dem Dinge passieren, die auch völlig durchschnittlich wären - würden sie nicht das erste Mal passieren. Denn durch die Ich-Form des Erzählens hat man beim Lesen Anteil an den Das-erste-Mal-Erfahrungen Mottes, fast ein wenig, als würde man sie selbst noch einmal erleben. Das Hingebungsvolle Warten am Fähranleger, um die Angeschmachtete „zufällig“ anquatschen zu können oder das Zaudern des Hasenfußes von der Kante des Zehners herab sind eher stereotype als originelle Erlebnisse des Heranwachsens, werden aber bei Brandt so charmant und flott erzählt, dass es nicht auffällt. Es fällt auch kaum auf, dass Mottes analytisches Verständnis seiner Situation eigentlich zu reif und nicht altersgerecht ist, was vor allem am Slang liegt, den Motte spricht,

Bogis Krankheit ist ein nur punktuell aufblitzender Kontrast zum „normalen (Er)Leben“ Mottes. Denn Bogis Geschichte rückt bei der Lektüre ins Gegenüber, was eigentlich jemand verlöre, der nicht wie Motte 16 werden kann, weil er vorher dahingerafft wird. Die Leerstelle des „Was wäre wenn“ ist es ja, die am Tod junger Menschen besonders schmerzt, dass eine ganze Zukunft verloren geht, die es nicht mehr gibt. In „Blackbird“ ist es nicht nur eine Zukunft, die Bogi nicht mehr haben wird, sondern er hat schon keine Gegenwart mehr. Das wird erst zum Ende des Romans deutlicher, auch wenn Brandt die Szenen vorher schon bewusst gestaltet - das Fußballspiel der Freunde unter Bogis Krankenhausfenster etwa.

„Blackbird“ ist ein wunderbares Buch, das zu lesen Spaß macht, und absatzweise sogar als Jungbrunnen taugt, ohne durch zu Seichtes zu plätschern. Außerdem ist Motte ein dufter Typ.

Veröffentlicht am 24.09.2019

Zwei Brüder - zwei Romane

Brüder
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Jackie Thomaes Roman „Brüder“ ist auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019, und ich frage mich warum. Die Rezension der Süddeutschen Zeitung begrüßt sowohl den „beiläufigen“ Stil als auch die ...

Jackie Thomaes Roman „Brüder“ ist auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019, und ich frage mich warum. Die Rezension der Süddeutschen Zeitung begrüßt sowohl den „beiläufigen“ Stil als auch die Tatsache, dass ‚Hautfarbe‘ im Roman zwar Hauptthema sei, aber nur indirekt angesprochen werde.

Beides sind für mich die Gründe, weshalb mir der Roman nicht preiswürdig erscheint. Thomae erzählt die Lebensgeschichten der beiden titelgebenden „Brüder“, die freilich voneinander nichts wissen. Beide 1970 vom selben Vater „beiläufig“ gezeugt, wachsen sie in der DDR auf, verfolgen unterschiedliche Lebenswege und finden zu sich – oder eben nicht. Mick und Gabriel wachsen vaterlos auf, Gabriel sogar elternlos, und kämpfen sich durch ihr Leben wie ich durch die Seiten. Mick trudelt durch die Möglichkeiten, Chancen und das Berliner Nachtleben, um nach dem persönlichen und beruflichen Scheitern um 2000 einen Neuanfang machen zu können. Gabriel hingegen steigt als Architekt linear auf, strauchelt erst spät durch einen Fehltritt und richtet einen Scherbenhaufen an, den er als sein Leben betrachten muss.

Die Lebenswege der Brüder werden völlig getrennt voneinander erzählt. Sie sind verbunden nur durch denselben Vater, formal auch im Roman, denn Idris‘ Intermezzo bildet das Scharnier beider Romanteile.

Der beiläufige Ton von Micks Geschichte hat etwas Chronikales, Unbeteiligtes, das eine enorme Distanz zu Figuren und Geschehen erzeugt. Plötzlich wechselt der auktoriale Erzähler aber die Figur und guckt einem anderen Menschen in den Kopf – ein notwendiger Perspektivwechsel in eines anderen Menschen inneren Monolog, weil die Erzählform es sonst nicht erlaubt hätte, aus Handlungen und Äußerungen Micks ausreichend Stoffliches zu ziehen – und eine verwundbare Autorinentscheidung, die es sich damit zu leicht macht.

Als ich endlich mit Mick warm geworden war – da hatten wir ihn auch schon zwanzig und mehr Jahre begleitet –, stolpern wir über Idris‘ Intermezzo in Gabriels Geschichte. Hier wechselt die Erzählposition zu zwei Ich-Erzählern, nämlich Gabriel und seine Frau Fleur. Nicht nur deshalb wirkt der zweite Teil des Romans wie eine eigenständige Geschichte. Hier werden zwar Gedanken, Handlungen und Äußerungen der Figuren besser motiviert, aber das über die Buchseiten Hinausweisende fehlt mir hier auch.

Denn die indirekte Form, in der die Hautfarbe der beiden Brüder immer mal wieder, aber nie leitend in die Geschichte Eingang findet, erschwert es sehr, das behaupteten Hauptthema auch als solches zu erkennen. Ich für meinen Teil halte beide Geschichten für genauso erzählbar, wenn die Brüder keine andersgeartete Hautschattierung aufweisen würden. Die Lebensläufe der Brüder sind zudem so verschieden, dass sie sich nicht vergleichen lassen, nicht einmal als Gegenentwürfe. Wenn das aber so auf mich wirkt, fehlt das Tertium comparationis, etwa die Hautfarbe. Dann erscheint mir erzählerisch schon eher bedeutsam, wie zwei intelligente junge Männer mit ihrer DDR-Herkunft in die Welt ziehen.

Kurzum: Mit Bedeutung schwanger erschien mir der Roman während der Lektüre nicht, wohl aber zu lang und zu „beiläufig“. Das macht ihn noch lange nicht zu einem schlechten. Aber preiswürdig?

Veröffentlicht am 10.09.2019

Ich kann tun, was ich will, und ich kann es selbst tun

Ein anderer Takt
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Was wäre, wenn eines Tages alle Schwarzen eines US-Bundesstaates ihre Koffer packen, einander an die Hand nehmen und aus Nimmerwiedersehen über die Grenze in den Rest der USA gingen? Diese Idee ist großartig, ...

Was wäre, wenn eines Tages alle Schwarzen eines US-Bundesstaates ihre Koffer packen, einander an die Hand nehmen und aus Nimmerwiedersehen über die Grenze in den Rest der USA gingen? Diese Idee ist großartig, sie ermöglicht ein analytisches Gedankenspiel, das ich so noch nicht gesehen habe: Nimm doch einmal die Schwarzen geografisch aus einem rassistischen Südstaat heraus und guck, was übrig bleibt. Dass der Anblick des Restes nicht schön sein würde, kann man sich vorher denken, dass aber die Weißen mit ihren rassistischen, antimodernen und vordemokratischen Gedankenkernen so kümmerlich wirken, ist die literarische Leistung dieses Romans.

Die erstaunliche Geschichte des Befreiungsschlags der Schwarzen beginnt mit einem unbeugsamen schwarzen Afrikaner, einem just in die Sklaverei geratenen Häuptling, der sich nicht unter das Joch der Baumwollfarmer des fiktiven Südstaates zwischen Alabama, Mississippi und Tennessee beugen ließ. Drei Generationen später pulsiert das „Blut des Afrikaners“ (S.39) noch immer stark in Tucker Caliban, Nachkomme des Afrikaners, dessen Familie seit der Ankunft in Amerika für dieselbe weiße Familie Willson arbeitet. Caliban? Kein Zufall - der Wilde aus Shakespeares „Sturm“ steht für das ungezügelt natürliche, für den Drang nach Freiheit, aber auch für die freiwillige Unterordnung unter die zivilisierende Kultur. Tucker entscheidet sich als Erster zum Aufbruch, und alle anderen im Land machen es ihm nach.

Tucker betreibt den Aufbruch von allen auch am bedingungslosesten, er zerstört wie Hernán Cortés seine Schiffe und verunmöglicht die Rückkehr: Er verbrennt sein Haus, tötet das Vieh und salzt die Felder, auf dass sie unfruchtbar würden. Keiner, der nach dem Wegzug der Schwarzen hierher kommt, soll von den Früchten seiner Arbeit profitieren.

„Wir werden sehr gut ohne sie zurecht kommen“, höhnen die Weißen auf der Veranda, als sie die Schwarzen ziehen sehen. Das darf getrost bezweifelt werden. Umgekehrt ist umso deutlicher: Die Schwarzen brauchen die Weißen nicht, erst recht nicht, um zu besseren Menschen zu werden, wie der „gute Weiße“ Dewey Willson III. es versucht. Im Gegenteil: „Die Tuckers werden aufstehen und sagen: Ich kann tun, was ich will, ich brauche nicht auf jemanden zu warten, der mir die Freiheit gibt – ich kann sie mir selbst nehmen. […] Ich kann tun, was ich will, und ich kann es selbst tun.“ (S. 198) Die Ablehnung gegenüber spirituellen Zauberkünstlern selbsternannter Befreiungskirchen spricht aus diesen Zeilen wie auch die Nähe zum Marxismus, die der schwarzen Befreiungsbewegung immer innewohnte: „Es kann die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter sein“, dichtet Bertolt Brecht im „Einheitsfrontlied“.

Es sind die klaren Gedanken hinter der Romanhandlung, die ihn so wertvoll und sein Wiederlesen zum Gewinn machen. Literarisch erscheint es mir kein großer Wurf zu sein, zahlreiche Weiße zu Wort kommen zu lassen, die ihre Erfahrungen mit Tucker Caliban und ihre Anschauung und Bewertung des großen Tages des Auszugs wiedergeben. Insbesondere Willsons Tagebuch taugt in Tonfall und Erzählweise nicht als Tagebuchtext.

William Melvin Kelley ist ein bemerkenswerter Beitrag zur Lösung der Rassenfrage gelungen, dessen Stärke im Gedanken, nicht in der Erzählung liegt. Und das könne auch nur wenige Romane auf ihren Buchdeckel schreiben.

Veröffentlicht am 13.08.2019

Bleibt leider unter den Möglichkeiten des eigenen Arrangements

Das Buch der Spiegel
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Raffiniert: E.O. Chirovici weiß genau, dass man den weißen Hai nicht in den ersten Szenen zeigen darf, sondern ihn sich für einen wohl kalkulierten späteren Zeitpunkt aufheben muss. Bis dahin sieht man ...

Raffiniert: E.O. Chirovici weiß genau, dass man den weißen Hai nicht in den ersten Szenen zeigen darf, sondern ihn sich für einen wohl kalkulierten späteren Zeitpunkt aufheben muss. Bis dahin sieht man nur die Rückenflosse und lässt sich von der Musik in immer schnellerem Tempo jagen. In „Das Buch der Spiegel“ ist der weiße Hai das Buch von Richard Flynn, in dem er mit seinen Weggefährten abrechnen will, die Flynn vor 25 Jahren umgaben, als der bekannte Psychologieprofessor Joseph Wieder ermordet wurde. Wer ihn ermordete? Wird nicht gesagt, nur versprochen. Warum? Musste selber raten! Wer noch? Da kämen so ein paar in Betracht, das Haifischgrinsen ist vielen zuzutrauen. Was Flynn selbst investiert hat? Erfährste nur, wenn das Manuskript zu Ende liest.

Eben das würde der Literaturagent Peter Katz gern, doch Teil 2 des Manuskripts fehlt, und als Katz zu Flynn fährt, ist dieser just verstorben. Jede Menge Haifischflossen … Die Zahl der Verdächtigen ist groß, sinistere Vergangenheiten lauern hinter jeder Ecke. Das Opfer Joseph Wieder ist womöglich in militärische Psycho-Experimente verwickelt, es geht um Gedächtnis und die Manipulation von Erinnerung - alles geeignet, um jede Menge doppelter Böden in die Handlung einzuziehen. Katz ist ein guter Ermittler und spürt den Fakten im Romanmanuskript nach, aber dann …

Mich hat Chirovicis kriminalistischer Roman am Ende enttäuscht, weil mir ab der Hälfte, also kurz nachdem die Faktenlage zum Flynn’schen Romanfragment zusammengetragen worden war, das ganze Konstrukt ins Konventionelle abzurutschen schien. Das ist umso bedauerlicher, weil mit Jospeh Wieder und seiner Meisterschülerin Laura Baines zwei wirklich zwielichtige Figuren eingeführt worden sind, die zu durchschauen man sich so richtig vornimmt - von wegen Erinnerung manipulieren und im Hirn herumpfuschen und ähnlichen Möglichkeiten: Dem „Spiegel“ aus dem Romantitel zu seinem Recht verhelfen, die Handlung hin- und herzuwerfen und die Sache mal richtigrum, mal spiegelverkehrt usf. darzustellen. Mir erging es mit dem Roman wie Peter Katz: Es war so lange fesselnd, wie das Ende des Manuskripts (der weiße Hai) nicht sichtbar war. Aber je konkreter alles wurde, desto mehr schrumpfte der weiße Hai zur Makrele.

Nichtdestotrotz imponiert mir der Aufbau des Romans, in dem drei Ermittler zu Wort kommen und in dem die eigentliche Geschichte sich nur in feinen Schichten entblättert. Vielleicht bin ich auch selbst schuld, dass ich mir nach dem Entrée in das Arrangement des Romans einen viel zu großen Hai mit viel zu scharfen Zähnen vorgestellt habe und deshalb enttäuscht war. Viel eher aber nehme ich an, dass ich richtig liege, wenn ich annehme, dass Chirovici deutlich hinter seinen Möglichkeiten geblieben ist. Schade.

Veröffentlicht am 13.08.2019

Hochstapler und Spion

Ein blendender Spion
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Die Geschichte des Spions Magnus Pym ist womöglich der anspruchsvollste Roman John le Carrés, den ich bisher gelesen habe. Pym ist der Sohn des Mythomanen Richard „Rick“ Pym und hat selbst ein ambivalentes ...

Die Geschichte des Spions Magnus Pym ist womöglich der anspruchsvollste Roman John le Carrés, den ich bisher gelesen habe. Pym ist der Sohn des Mythomanen Richard „Rick“ Pym und hat selbst ein ambivalentes Verhältnis zur Aufrichtigkeit und zur Lüge erworben. Dass diese Herkunft dem Beruf des Spions besonders förderlich ist, gehört zu den vielen Pointen, die dieser distanziert-ironische Text bereit hält.

Kunstvoll verschlungen mäandert die Erzählung durch die Biographien von Pym und Rick, verweilt in vielen Krümmungen bei der Betrachtung sowohl des allgemein Menschlichen wie auch der menschenfeindlichen Details des Agentenberufs. Das Autobiographische des Romans entnehme ich den Texten über den „Blendenden Spion“, es ist freilich völlig unerheblich zum Verständnis des Textes.

Einen Agententhriller hat le Carrés wieder nicht abgeliefert, sondern einen abgewogenen, leider oft weitschweifigen literarischen Roman, durch den man sich bisweilen beißen muss. Im Kern geht es la Carré um die Beziehungen zwischen Vater und Sohn, zwischen Wahrheit und Lüge, Loyalität und Verrat sowie um die Frage, wie sich Heimat definiert.

Gut, aber für meine n Geschmack zu langsam.