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Veröffentlicht am 17.05.2019

Sie hat es immer gemocht, Hunger zu haben

All das zu verlieren
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Adèle ist eine moderne Frau – sie ist unabhängig, berufstätig, Mutter und Gattin. Modern ist sie aber auch darin, egoistisch zu sein, ihren Bedürfnissen zu folgen, ja: ihrer Gier nachzugeben. Statt sich ...

Adèle ist eine moderne Frau – sie ist unabhängig, berufstätig, Mutter und Gattin. Modern ist sie aber auch darin, egoistisch zu sein, ihren Bedürfnissen zu folgen, ja: ihrer Gier nachzugeben. Statt sich in einem Leben einzurichten, wie die Konventionen es vorsehen und wie sie es sich eigentlich gewünscht hat, folgt sie ihrem krankhaften Sextrieb, ihrer Sexsucht und hat Affären und sexuelle Beziehungen zu Männern, wobei sie nicht einmal besonders wählerisch ist. Sie braucht sowohl die körperliche Sättigung als auch die Anerkennung als begehrenswertes Objekt der Begierde. Dieses Lebenselixier schlürft sie im Übermaß – kein Wunder dass irgendwann das Doppelleben, das sie lebt, auffliegt und in einer Krise endet: Ihr Mann kommt dahinter, dass Adèle ihn nicht nur hintergeht, sondern viel schlimmer: den Sohn vernachlässigt.

Leila Slimani gewährt im ersten Teil des Romans eine Innensicht in Adèles von der Sucht gezeichnetes Leben. Diese Sucht begann schon in frühen Jahren, keineswegs erst als Auswuchs einer Wohlstandsverwahrlosung oder einer aus der Langweile der Ehe mit dem Arzt Richard geborene Flucht: „Sie hat es immer gemocht, Hunger zu haben.“ (S.72) Die Deformation von Adèles Charakter mag krankhaft sein, sie hat aber auch etwas Über-Individuelles, weil sich in der – nicht gerade sympathischen – Mythomanin auch die Ich-Bezogenheit einer ganzen Gesellschaft spiegelt. Der Wahn, den eigenen Spaß zu optimieren, Bindungen und Verpflichtungen zu vernachlässigen und die Bedeutung von Äußerlichkeiten zu übertreiben. Ihr Kind beispielsweise als ultimative, verpflichtende Fremdbestimmung ist einerseits Bezugspunkt einer überkommenen Lebensvorstellung als Mutter, anderseits emotionale Mitte Adèles, andererseits einfach nur „lästig“ (S.36).
Im zweiten Teil nimmt der Roman Richards Perspektive ein: Er hat die Familie aufs Land verfrachtet, Adèle zu Änderungen verpflichtet und sie in einem konformistischen leben regelrecht eingesperrt.

Nicht zufällig heißt Richard „Robinson“ mit Nachnamen – immerhin ein absolut ungewöhnlicher französischer Name und deshalb bedeutsam. Richard zwingt Adèle zu einer Robinsonade, einem einsamen Inseldasein auf dem Land ohne Kontakt zu Adèles vorherigem leben. Gleichzeitig war Adèle selbst vorher selbst schon nichts anderes als eine Insel – eine Existenz ohne feste Verbindungen nach außen, allein treibend im Meer des Unverbindlichen. Der deutsche Titel „All das zu verlieren“ regt zu recht die Frage an: Was gibt es denn in diesem Leben zu verlieren? Den ungezügelten Hedonismus? Die Selbstbestimmtheit der Frau? Die Dominanz der Frau in einer üblicherweise Männern zugeschriebenen sexuellen Hierarchie? Die bürgerliche Fassade? Die Familie?

Vielleicht ist Adèles Sucht auch nichts anderes als eine Krankheit, die aus den Zwängen und Normierungen entstanden ist, der eine Frau in dieser Welt von heuet ausgesetzt ist. Die konformistische Tradition erzeugt erst die Deformation Adèles – in die sie dann auf dem Lande regelrecht zurückgezwungen wird, in den „Garten des Ogers“ (so der französische Originaltitel: „Dans le jardin de l’ogre“). Vielleicht aber ist der Unhold ("l'ogre"), der Adèle in seinen Fängen hält, auch die Sucht.

Slimani erschafft eine verstörende, nicht sympathische, aber faszinierend dominante Frauenfigur, die durch einen in zwei Teile zerfallenden Roman prescht – erst in den Abgrund der Sucht, dann in das Zeitlupenleben Richards. Sex und Gewalt werden nicht geschönt, die Lektüre ist unmittelbar und hart. Der Roman wirkt nicht besonders literarisch, aber vollkommen authentisch. Ein starkes Buch, das nicht vorbei ist, wenn es ausgelesen wurde.

Veröffentlicht am 17.05.2019

Vorhang auf für Bangkok

Nana Plaza
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Vincent Calvino ist ein spannender Ermittler, der sich auf den Spuren der hard-boiled detectives durch ein grelles Bangkok ermittelt. Autor Christopher G. Moore versteht sein Handwerk gekonnt, indem ihm ...

Vincent Calvino ist ein spannender Ermittler, der sich auf den Spuren der hard-boiled detectives durch ein grelles Bangkok ermittelt. Autor Christopher G. Moore versteht sein Handwerk gekonnt, indem ihm zwei Dinge besonders gut gelingen:

Erstens erzählt er seinen Plot geschickt. Die eigentliche Story ist schnell duchschaut, doch wie sich die Details enthüllen und wie man gemeinsam mit Calvino und seiner bunten Truppe Schritt für Schritt beim Entwirren vorankommt, ist lesenswert, sehr gelungen und überdies spannend.

Zweitens ersteht aus der Kriminalgeschichte ein lautes, verwirrendes, lebendiges, fremdes Bangkok, das die zweite Hauptdarstellerin der Handlung wird. Bangkok ist mit seiner thailändischen Mentalität so plastisch, so widersprüchlich und so exotisch, dass ich hin- und hergerissen bin, ob ich es selbst sehen will oder lieber nicht. Dass sich in Bangkok gleichzeitig die Seele des kapitalistischen, sexistischen Mannes auf der Suche nach billigem, willigem Fleisch selbst verkauft und in einer teufelsförmigen Wolke in den Orkus dampft, ist die vielleicht schrecklichste Facette dieser Hauptdarstellerin.

Manchmal kritisiert Moore innertextlich die Handlungen anderer Kriminalgeschichten oder von Hollywood-Filmen als unglaubwürdig oder effekthascherisch - um dann denselben Fehler zu machen. Er kann auf einer Seite darstellen, dass ein Farang mit zwei Thai auffällt, weshalb er sich von den beiden trennen müsse, damit sie in der Menge untertauchen können - um dann diese Trennung auf den folgenden zig Seiten schlicht nicht herbeizuführen, weil sie ihm nicht in die cineastische Konzeption der Handlung passt.

Das fällt aber nicht so sehr ins Gewicht: ein guter Kriminalroman!

Veröffentlicht am 17.05.2019

Ein konservativer Spiegel mit verschleißendem Witz

Briefe in die chinesische Vergangenheit
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Rosendorfers "Briefe in die chinesische Vergangenheit" sind natürlich Rosendorfers Briefe an die (bayerische) Gegenwart. Indem er den tausend Jahre zuvor aufgebrochenen Kao-tai bemüht, einen Blick auf ...

Rosendorfers "Briefe in die chinesische Vergangenheit" sind natürlich Rosendorfers Briefe an die (bayerische) Gegenwart. Indem er den tausend Jahre zuvor aufgebrochenen Kao-tai bemüht, einen Blick auf unser Deutschland zu werfen, hält er ihm einen skurrilen Spiegel vor. Das ist oft sehr witzig, weil Rosendorfer Kao-tai genau beobachten lässt. Allerdings beschlägt der Spiegel rasch, wird zur Masche und verliert den ironischen Witz.

Das liegt auch und vor allem an dem, was Kao-tai kritisieren soll. Rosendorfer hat sich ja genau überlegt, was Kao-tai kritikabel finden soll, weil es "früher besser" war. Deshalb ist sein Text absolut gesellschaftskritisch zu lesen - und seine Haltung oft sehr konservativ, bisweilen sogar "tümelnd". Da spricht dann kein tausend Jahre alter Chinese, sondern ein 50 Jahre alter, wertekonservativer Bayer, gebürtig aus Bozen. Allein die Klassifizierung der Musik spricht da Bände.

Damir die Dosis des Lobs der vergangenen Zeit nicht zu groß wird, besser nicht am Stück lsen, sondern den oberflächlichen Witz in kleinen Portionen genießen.

Und dann den "Papalagi" lesen.

Veröffentlicht am 17.05.2019

Die Stärkung des Einzelnen gegenüber den Vielen

Pause für Wanzka
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Wenn ich heutzutage DDR-Literatur lese, dann habe ich oft das Gefühl, dass die Geschichte wie eine alte Matrizen-Kopie sind: blass, nicht farbecht, provisorisch und zu den Rändern hin altersbraun verfärbt. ...

Wenn ich heutzutage DDR-Literatur lese, dann habe ich oft das Gefühl, dass die Geschichte wie eine alte Matrizen-Kopie sind: blass, nicht farbecht, provisorisch und zu den Rändern hin altersbraun verfärbt. Das trifft in Teilen auch auf Wellms „Pause für Wanzka“ zu, aber dahinter steht eine humane, allgemeingültige Weisheit über die Notwendigkeit, das Individuum vor dem Kollektiv zu verteidigen. Und deshalb habe ich diesen Lehrerroman gerne gelesen.

Die Muffigkeit des DDR-Schulalltags entsteht auch durch die lähmende Ideologie, der sich Sprechen und Handeln des „Lehrerkollektivs“ unterwerfen, das wiederum seine Schüler unter die Kaderanforderungen der sozialistischen Einheitsgesellschaft zwingen will und soll. In diese muffige Provinzschule lässt sich der kurz vor der Pensionierung stehende Kreisschulrat Wanzka versetzen: Er will noch einmal richtig als Lehrer arbeiten, von Lehre zu Schüker, von Mensch zu Mensch. Schon dieser Wunsch erweist Wanzka als Individualisten aus, den sein Bürokratendasein in der Kreisschulbehörde zu einer Art inneren Immigration getrieben hat, aber auch dazu, wieder „konkret“ zu werden. „Konkret“ und „konsequent“ sind Modewörter der DDR-Gesellschaft jener Zeit. Wanzka eckt in der kleinen Schule in Mirenberg aber an, denn zu unkonventionell sind seine Methoden, zu nonkonform seine Ideen.

Der Roman holpert sich durch die unterschiedlichen Szenen von Wanzkas Verwandlung zunächst in den Vorbildlehrer und dann den leisen Lehrerrebellen. Als aber die Konfrontation zwischen dem System und Wanzkas Engagement für das Individuum akut wird, als er nämlich das von ihm entdeckte Mathematiktalent Norbert „Konsequent“ Kniep gegen die rechtwinklige Strenge des Stromlinienlehrers Seiler verteidigt, nimmt auch der Roman Fahrt auf. Die Wendung „gegen die Kollektiverziehung“ (S. 160) bringt Wanzka ins Abseits, wo er nur von seinem halbverrückten Kollegen Bientzek, dem Faktotum Pikors und der Junglehrerin Marlott Unterstützung erfährt.

In Marlott wächst das Verständnis für Wanzkas Anliegen, und in der finalen Konfrontation mit Seiler formuliert sie den Vorwurf: „Der Mensch müsse erst bezwungen werden, auf daß er für uns paßt, auf daß der für den Sozialismus paßt.“ (S. 313) Wellms Roman richtet sich gegen die Gleichmacherei des Kollektivs, das alles Außergewöhnlich wir Unkraut ausjätet, auch und vor allem Talente und Genies.

Ein Nachwort weist auf die Parallelen zwischen Wanzka und Wellm hin, der sich selbst al Kreisschulrat auf eine Lehrerstelle versetzen ließ, und erläutert auch den schwierigen Publikationsprozess des Romans in der DDR.

Die Reihe wiederentdeckter DDR-Romane im Verlag Faber & Faber beschert mit diesem Roman einen nicht immer konzis erzählten, aber lesenswerten Roman mit einem humanistischen Anliegen, dessen Gültigkeit noch immer besteht.

Veröffentlicht am 17.05.2019

mühsam und ertragsarm

Bryant Park
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Der Klappentext ist unfreiwilllig missraten: "Ulrich Peltzer schreibt ein Buch über New York, als plötzlich die Katastrophe vom 11. September 2001 in die Erzählung einbricht: Nachmittag in Manhattan. Im ...

Der Klappentext ist unfreiwilllig missraten: "Ulrich Peltzer schreibt ein Buch über New York, als plötzlich die Katastrophe vom 11. September 2001 in die Erzählung einbricht: Nachmittag in Manhattan. Im Bryant Park laufen die Vorbereitungen fürs Open-air-Kino. Ein Mann sitzt in der Public Library, seine Gedanken schweifen ab. In der 36. Straße stürzt ein Gerüst zusammen. In China kippt ein Sack Reis um."

Ach so - der Sack Reis ist natürlich von mir. Kam mir beim Lesen aber so vor. Warum dann zwei Punkte? Weil die paar Seiten aus dem New York des 11. September 2001 wirklich gelungen sind. Sie sind nur leider ein kurzer Moment des Atemholens.

Peltzer hat es ja so gewollt: Er konstruiert einen Text, dessen Ebenen sich verschränken, in- und übereinander schieben. Das ist kunstvoll, aber leider auch arg künstlich. Bei diesem formalen Konstruieren bleibt auf der Strecke, dass man auch etwas mitteilen sollte, wenn man sich mitteilt.

Womöglich ist mir auch entgangen, wie fein gesponnen Peltzers Erzählung sein mag. Die Rezensionen überschlagen sich ja in der Lobhudelei auf diese Erzählung. Weniger als Rezensent denn als Leser gesprochen, kann ich dem Text nicht viel abgewinnen.