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Veröffentlicht am 13.02.2019

Kein Knaller, nur ein Böllerchen

Wallace
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Am Anfang dieses Roman stand vermutlich eine Idee: Wie ungerecht es nämlich ist, dass Darwin und Wallace zwar gleichzeitig auf die Evolutionstheorie kamen, aber nur der eine sich als Ikone der Wissenschaft ...

Am Anfang dieses Roman stand vermutlich eine Idee: Wie ungerecht es nämlich ist, dass Darwin und Wallace zwar gleichzeitig auf die Evolutionstheorie kamen, aber nur der eine sich als Ikone der Wissenschaft in das Gedächtnis der Menschheit brannte, obwohl der andere die Idee sogar als Erster aufs Papiergebracht hat: in einem Brief von Wallace an Darwin. Aus dieser Idee entwickelt Oelze zwei Erzählstränge: Zum einen folgen wir dem Leben Wallaces in ausgewählten Streiflichtern, zum anderen dem Museumsnachtwächter Albrecht Bromberg in einem Wendepunkt seines eingefahrenen Lebens.
Es ist alles da für einen runden Roman: eine erstklassige Ausstattung durch den Verlag Schöffling & Co., ein faszinierendes Gelehrtenleben, exotische Schauplätze, ein epochaler Konflikt und ein stimmiger Antiheld mit extravaganter Entourage (ein Stammtisch namens „Elias-Birnstiel-Gesellschaft“).
Und dennoch halte ich den Roman für misslungen. Warum?
Das liegt am Stil und dem schlecht angefassten Personal sowie einer hanebüchenen Wendung.
Zunächst ist es die Sprache, die ungemein störend ist. Oelze befleißigt sich eines eigenartigen, umständlichen Stils, bei dem die Zeilen mit Adjektiven geflutet werden, dass jeder Stilkunde die Blätter aus der Bindung rutschen. „Gelbschnabelige Tukane“ (S. 56) bevölkern statt Gelbschnabeltukanen den Urwald, von denen manche auch noch „breitschnabelig“ (S. 57) sind, der „malaiische Maat in seinen ockergeben Puffhosen schlug so laut und energisch mit dem messingenen Klöppel gegen das glänzende Gehäuse der Glocke“ (S. 8), „sommersprossige Bananen“ (S. 225) erfinden ein neues Adjektiv und „vielförmig gemusterte Jaguare“ (S. 57) lassen den Leser sich wundern, wie wohl einförmig gemusterte Jaguare aussehen würden. Gepaart wird diese Lust am Attributieren mit einer verirrten Wortwahl, die sich offenbar aus der falschen, aber unmittelbar benachbarten Schublade bedient: „Weltgewandtheit“ statt Weiterfahrenheit (S. 59), „Auskommen“ statt Lebensgrundlage (S. 66) und dergleichen mehr.
Am unerklärlichsten bleibt die Entscheidung des Autors, seinem Titelhelden das ganze Buch über seinen Namen zu verweigern. Von den ersten Szenen bis zum Schluss wird Wallace in seinem Erzählstrang konsequent als „der junge Bärtige“ bezeichnet, der später dann zum „Bärtigen“ reift. Unerklärlich ist diese gekünstelte Distanz zur Person auch deshalb, weil sie den Schwerpunkt nicht etwa auf den Forscher, Weltreisenden, Denker oder Geographen legt, sondern auf das äußere Merkmal des Bartträgers. Hierin war Wallace seinem Evolutionszwilling immerhin voraus: Wallace hatte schon einen bemerkenswerten Bart, als Darwin noch auf den Backenbart beschränkt war (im Alter von 45 Jahren). Aber so bemerkenswert ist das dann auch wieder nicht.
Überhaupt dieser Titelheld: Alfred Russel Wallace ist gewiss keine einfach zu fassende Persönlichkeit gewesen. Sein Lebenslauf ist eher krumm - zum Naturforscher wurde er erst „auf dem zweiten Bildungsweg“, einen ersten durchschlagenden Erfolg verhinderte der schicksalhafte Verlust von fünf Jahren Forschungsleistung in Brasilien bei einem Seeunglück, und am Ende protestiert Wallace nicht einmal, als Darwin das ihm zugesendete Manuskript über die Entstehung der Arten nicht nur nicht veröffentlicht, sondern einen eigenen Aufsatz mit denselben Ideen veröffentlichte. Warum nicht? Ist es die Schüchternheit Wallaces, von der uns Oelze in seinem Roman berichtet? Ist es die Unsicherheit, ob die Theorie überhaupt ankommt und in der Öffentlichkeit bestehen kann? Oder ist es vielleicht auch die Tatsache, dass Wallace schon gewusst hat, dass Darwin mit einer solchen oder ähnlichen Idee seit Jahren schwanger ging, weshalb er sich gar nicht ausgestochen gefühlt hat? Wissen wir nicht - die Darwin- und die Wallace-Biographen wissen es auch nicht, geben aber unisono Darwin den Vorzug. Zurück zur Figur Wallaces: Ist er eigentlich ein Naturforscher? Einer, der für die Verbreiterung des menschlichen Wissens kämpft? Der für das Wissenschaftlerleben brennt? Er ist es nicht. Er ist ein Sammler, und zwar ein richtig guter, nicht nur was Käfer betrifft. Er bedient - auch aus finanziellen Gründen - das Bedürfnis von Sammlern in England und sammelt auf seinen Reisen nach Brasilien und Indonesien mit den Absichten des Verkaufs. Die so gelehrt daherredenden Herren sind seine Sache sowieso nicht (S. 87) - und als er nach dem Brasiliendesaster erneut aufbrechen möchte, lässt er sich nicht etwa von einem eigenen Erkenntnisinteresse, einer eigenen Forschungsidee leiten, sondern lässt sich Malaysia vom Präsidenten der Geographischen Gesellschaft empfehlen (S. 135). Wallace ist kein Visionär, er ist ein Sammler und Beobachter mit guten Ideen. Zum Beispiel zum Ursprung der Arten und zur Biogeographie („Wallace-Linie“), aber auch zu gesellschaftlichen Problemen und spiritistischen Modellen. So schwer das Leben des historischen, wirklichen Albert Wallace zu fassen ist, so schwer ist es auch Oelze gefallen, seinen literarischen Titelhelden zu fassen. Der „junge Bärtige“ bleibt unverständlich und funktioniert als Romanfigur nur so lala, auch weil er so, wie er angelegt ist nicht zum Helden taugt.
Was darüber hinaus unbegreiflich bleibt - weil sie das eigentlich Interessante an Wallace ist, wenn man ihn Darwin gegenüber stellt -, ist die mangelhaft ausgeführte Forscherinnensicht: Erst zum Ende hin dürfen wir Wallace einen klugen Gedanken zu Ende denken lesen. Zuvor auf S. 66 f. wird diese wichtige Szene verschenkt: Wallace fragt sich nach dem Ursprung der Vielfalt und mithin nach dem Ursprung der Arten – einem Kern von Wallaces Schaffen! Und was macht Oelze aus der Szene? Sie mündet in einem Urwaldklamauk, bei dem der "junge Bärtige" nackt den Schmetterling jagt. Dieselben Gedanken versenkt Oelze dann auf S. 86 erneut in der Nackedeigroteske. Vielleicht ist das verzögernde Absicht? Damit entscheidende Erkenntnisse erst später, im malaiischen Dschungel geliefert werden können? Selbst dann aber empfinde ich die clowneske Unterbrechung als schlechte Autorentscheidung.
Was ist mit der zweiten Hauptfigur Albrecht Bromberg? Er funktioniert ziemlich gut - ein talentierter Mensch ohne persönlichen Ehrgeiz landet er nach einigem Herumstudieren als Nachtwächter im Naturkundemuseum. Hier richtet er sich in einem Leben ein, das er dank eingetaktetem Ablauf nicht mehr hinterfragen muss. Solchen Menschen kann man immer wieder begegnen - und dass sie sich dann doch irgendwann für eine Sache begeistern, kommt immer wieder vor. Soweit, so plausibel. Wie genau Brombergs Interesse geweckt wird, finde ich diskutabel (der „Stolperer“), aber egal. Brombergs morgendlicher Stammtisch - die „Elias-Birnstiel-Gesellschaft“ - ist der Höhepunkt des Buchs. Die skurrilen Figuren hier (es hätte auch ein Frau dabei sein können …) knattern ihre intellektuellen Wortspiele nur so herunter und reißen einige großen Themen an - Geniebegriff, Theodizee, Voltaire versus Leibniz etc. -, womit auch ein paar Flanken abgedeckt sind, die man braucht, wenn man die Ungerechtigkeit von Darwin/Wallace, die ich als Ursprung des Romans bezeichne, thematisieren möchte. Das ist nicht zu tiefgeschürft und unterhaltsam. Auch der Antiquar Schulzen würzt das Personal des Romans mit seinem skurrilen Auftreten. Alles wäre nochmal gut gegangen, wenn Oelze nicht mit Rosa die Frau in Brombergs Leben hätte treten lassen, die den Charakter des Romans mit einer Schnapsidee umkehrt: Sie schlägt vor, den verschwundenen Begleitbrief Wallaces, in dem er Darwin um Veröffentlichung des zugesendeten Aufsatzes bittet, zu fälschen. Zwar wäre damit immer noch nicht Wallace der Erfinder der Evolutionstheorie - da sind in Fachkreisen sowieso Darwin und Wallace gleichberechtigt -, aber Darwin stünde als mieser Kollege da, der dem anderen den Ruhm gestohlen hätte, als erster publiziert zu haben. An dieser Stelle (S. 231) bricht die Urmotivation des Romans heraus, Wallace zu retten, hier werden Oelze und Bromberg/Rosa eins, denn Oelze lässt in einem letzten, lahmen Kapitel Wallace tatsächlich einen solchen Brief geschrieben haben.
Im Übrigen wird dieser Brief nicht zitiert, sondern nur beschrieben, dass er existiert. Wie überhaupt Oelze nicht ein Schriftstück mit eigenem Wortlaut reden lässt, Nicht einmal das kurze Telegramm des verhinderten Brautvaters, das eine so niederschmetternde, auf Seiten ausgebreitete Wirkung auf den abgewiesenen Wallace hat, wird wörtlich wiedergegeben (S. 131 f.). Fad.
Dafür spickt Oelze den Roman mit mehr oder minder passenden Exkursen - zum Überleben der Zikaden dank Primzahlenintervall (S. 116 ff.), zur Landkartenverzerrung (S. 191 ff.), zu wählerischen Bienenvölkern (S. 205 ff.), zum Wunderbaren (S. 217 ff.) u.s.w. Fast immer „nice to know“, aber fremd in der Geschichte.
Als Fazit bleibt mir nur, die Befürchtung Brombergs zu bemühen, dass manche als „Knaller“ gedachte Idee „als armselige, kleine Böllerchen“ verrecken (S. 227). Ein schöner Roman mit viel Potenzial ist hier misslungen.

Veröffentlicht am 13.02.2019

Die Mauer im Kopf muss weg

Die Mauer
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Joseph „Yeti“ Kavanagh muss seinen Wehrdienst auf der Mauer ableisten: Zwei Jahre wird er in der Kälte oben auf der Mauer stehen, die Großbritannien rundum an allen Küsten umgibt, um das Land vor „den ...

Joseph „Yeti“ Kavanagh muss seinen Wehrdienst auf der Mauer ableisten: Zwei Jahre wird er in der Kälte oben auf der Mauer stehen, die Großbritannien rundum an allen Küsten umgibt, um das Land vor „den Anderen“ zu schützen, die von außerhalb eindringen wollen. Großbritannien (das erstmals auf S. 176 benannt wird) ist zu einer Festung geworden, weil – wie man nach und nach erfährt – die Meeresspiegel angestiegen sind, das Klima sich abgekühlt hat und der Wohlstand auf der Welt noch ungleicher verteilt ist. Der Roman begleitet Kavanagh von der ersten Stunde seines Mauerdienstes in die Kälte, die Nacht und die Gesellschaft seiner neuen Familie. „Obwohl die Mauer absolut senkrecht ist, bekommst du, wenn du direkt darunterstehst, das Gefühl, als würde sie überhängen. Als könnte sie auf dich herabfallen. Als lehnte sie sich gegen dich.“ (S. 11) Mehr als die Hälfte des Romans spielt auf der Mauer, innerhalb der Mauer. Dann muss Kavanagh in die Welt, übers Meer und erlebt mit seiner Gefährtin Hifa die Welt draußen.

Ist das ein „aktueller“ Roman, bei dem es um Klimawandel und Brexit geht? Irgendwie auch, aber dem Autoren John Lanchester ist es nicht um einen politischen oder plakativen Schlüsselroman getan. Lanchester begibt sich in Kavanaghs Inneres und teilt mit dem Leser die Gedanken und Gefühle des jungen Mannes, der ein typischer Vertreter seiner Generation der nach dem Wandel geborenen ist: intelligent, aber antriebsschwach, ziellos und voller Vorwürfe gegenüber der Elterngeneration, die den Heutigen das ganze erst eingebrockt haben: „Die Alten haben das Gefühl, die Welt vor die Wand [sic!] gefahren und es dann zugelassen zu haben, dass wir in die hineingeboren wurden. Und was soll ich dir sagen? Genauso ist es.“ (S. 72)

Der Einstieg in den Roman ist nichts als „betonhimmelwasserwind“. In Gedichten, Empfindungen, Satzkunst widmet sich jede Zeile dem Horizont des Protagonisten – und der ist begrenzt. Begrenzt durch die Mauer und alles, was sie umschließt. Hier ist der Roman grandios und trägt nur Stein für Stein die Barriere ab, die den Blick auf die geänderten Umstände in Großbritannien ab. Was hinter der Mauer ist, erfahren wir nicht: Kavanagh kann es nicht sehen, also sehen wir es auch nicht.

Kavanaghs Seele ist aufgewühlt und hin und hergeworfen durch alle bekannten Probleme der Selbstfindung am Ende der Jugend und darüber hinaus beschwert durch eine Gegenwarts- und Politikverdrossenheit sowie eine Verachtung und heimliche Bewunderung für die herrschende Klasse. Bleiern liegt über ihm eine Entschlusslosigkeit, die sich aus der Perspektivlosigkeit seines Lebens ergibt, denn die Perspektive lautet „betonhimmelwasserwind“.

Als Kavanagh die Mauer hinter sich gelassen hat, ist er immerhin den beton los. Indem die Mauer gesprengt wird, entledigt sich Kavanghs de Mauer, und es bleiben Himmel, Wasser, Wind. Und diese Aufzählung klingt nicht zufällig deutlich positiver. Kavanagh ist nun endlich "entgrenzt": „Wenn ich ein Anderer war und sie Andere waren, dann war vielleicht keiner von uns ein Anderer, sondern wir waren stattdessen einfach nur ein neues Wir.“ (S. 257)

Lanchesters „Die Mauer“ ist ein eigentlich zeitloser Roman über das sich Einmauern, die selbstgewählte Beschränktheit, die Mauer im Kopf.

Veröffentlicht am 29.01.2019

Winteranzug in Echtfelloptik mit „High Neck“ und „Schweiflatz“

Papa Wundertsich - Wahrscheinlich gucke ich falsch
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„Papa Wundertsich“ – das sind dreißig witzige, gut beobachtete, ereignisreiche und treffsichere Episoden aus dem Leben eines Pferdepapas. Also eines Vaters mit einer reitbegeisterten Tochter. Das ist überraschend ...

„Papa Wundertsich“ – das sind dreißig witzige, gut beobachtete, ereignisreiche und treffsichere Episoden aus dem Leben eines Pferdepapas. Also eines Vaters mit einer reitbegeisterten Tochter. Das ist überraschend lustig – auch für solche, die keine Pferdenärrinnen zum Kind haben, weil Autorin Anja Nehls ihren Glossen einen ironischen Außenblick nicht nur auf die Welt der Reiter, sondern vor allem auf den Alltag in der Familie und Eltern-Töchter-beziehungen wirft.

Papa Wundertsich ist ein liebevoller Vater, etwas passiv und naiv, aber stets bereit, seine Tochter zu unterstützen und glücklich zu machen – und sei es nur mit dem Portemonnaie.

Auch ohne intime Kenntnis des Pferdes als solchem oder Zotteline im Speziellen erheitern die zuerst in der Zeitschrift „Reiten und Zucht in Berlin und Brandenburg-Anhalt“ erschienen Geschichten, etwa wenn sich Papa Wundertsich Sorgen über die Wintertauglichkeit des Großviehs Sorgen macht und die Lösung gegen das Pferdefrieren vorstellt: ein Winteranzug „in Echtfelloptik“ mit „Winterdesign Sibirischer Tiger“ in verschiedenen Ausführungen und Extras wie „High Neck“, „Kreuzbegurtung“ und „Schweiflatz“. Hier nimmt Nehls augenzwinkernd die Reiterbegleitwirtschaft aufs Korn, die auf vielen anderen Seiten auch fröhliche Urständ in Form von modischen Accessoires feiert, die Heranwachsende chic finden.

Begleitet werden die launigen Glossen von entzückenden Tuschezeichnungen von Christine Berghausen, die jedem Kapitel lebendige Szenenbilder beisteuert. Dass diese detailreichen Zeichnungen ganz offensichtlich nicht mit dem Computer erstellt, sondern noch von der Künstlerin eigener Hand hergestellt wurden, macht ihren besonderen Charme aus.

„Papa Wundersich“ bedient ein „special interest“ – aber nicht nur!

Veröffentlicht am 29.01.2019

Houellebecq lässt auf Japanisch grüßen

Die zehn Lieben des Nishino
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„Nishino ist der perfekte Liebhaber, der die geheimen Wünsche jeder Frau errät“, stimmt der Klappentext auf das Porträt dieses modernen japanischen Don Juans ein, der dennoch ohne erfüllte Liebe leben ...

„Nishino ist der perfekte Liebhaber, der die geheimen Wünsche jeder Frau errät“, stimmt der Klappentext auf das Porträt dieses modernen japanischen Don Juans ein, der dennoch ohne erfüllte Liebe leben muss. Warum? Hiromi Kawakami lässt zehn Liebhaberinnen Nishinos zu Wort kommen. Sie alle berichten über ihre Tage, Monate oder Jahre mit Yukihiko Nishino. Mich hat frappiert, wie geschickt Kawakami durch dieses Erzählmodell ihren Protagonisten umkreist, ihn von zehn Seiten betrachtet, durchleuchtet, interpretiert und dabei dem Kern dennoch nur nahe kommt. Die Wahrheit ist eine Idee, der man zustreben kann, man kann aber die Position der Wahrheit nie einnehmen. Man kann auch einen anderen Menschen niemals völlig verstehen, solange man nicht er selbst wird.

Zehn Episoden aus dem Lieben Nishinos enthüllen Stück für Stück ein traurige Geschichte, nämlich die eine Mannes, der aus Angst davor, dass die Liebe nicht ewig währt oder Veränderungen erfahren könnte, sich lieber gar nicht auf die Liebe einlässt. Nishino erfüllt seine Prophezeiung damit selbst, da er auch nach der zehnten Liebesgeschichte nicht in der Lage gewesen ist, sich der Liebe völlig hinzugeben. Liebe heißt loslassen, aber Nishino muss sie entweder verkrampft festhalten oder sie ängstlich zurückweisen. „Nishino verströmte stets eine gewisse Kälte.“ (S. 101) Seine Gier nach Liebe scheint auch daher zu rühren, dass er nicht lieben kann - oder nicht dem Bild dessen entsprechen kann, was er für die Idee der Liebe hält. Er vermittelt seine mangelnde Bereitschaft sich aufzugeben, obgleich er andererseits einfühlsam erscheint, hingebungsvoll und stets sehr höflich. „Wovor hatte er sich gefürchtet? Und warum hatte ich mich davor gefürchtet, ihn zu lieben?“ (S. 133)

Die Berichte der zehn Frauen folgen einander nicht chronologisch, die letzte Frau ist die vorletzte Geschichte. Gerade in ihr wird deutlich, wie wenig sich Nishino in seinem Leben entwickelt hat, wie sehr er im Probierstadium der ersten Liebe stecken geblieben ist, ahnungslos, was bei ihm schief gegangen ist. Mitunter schwebt der Vergleich mit Houellebecqs Geschichten vorbei.

Warum wirkt Nishino so widersprüchlich? Mir scheint, dass Kawakami in ihrem Bändchen eigentlich von mehr als einem Mann erzählt, nämlich eigentlich von vielen japanischen Männern, oder womöglich vom postmodernen japanischen „Jungen“ schlechthin, der sich nichtmehr festlegen will, dem das Verhältnis zu zwischen menschlichen Gefühlen abhanden gekommen ist und der mit dem Korsett der strengen japanischen Gesellschaft hadert. Letztlich entspricht diese traurige Analyse der melancholischen Erzählweise Kawakamis, die knapp und präzise ist, behutsam und zart - aber auch distanziert, kühl und zurückhaltend. Viele Szenen wirken zudem „japanisch“, indem sie uns fremde Gebräuche, Handlungsweisen, Bewertungsschemata und - hier besonders auffällig - kulinarische Fremdheiten vermitteln.

„Die zehn Lieben des Nishino“ ist ein brillant erzähltes Kaleidoskop über die Liebe, den falschen Zeitpunkt und die schwierige Suche nach dem Liebesglück.

(4,5 von 5 Punkten)

Veröffentlicht am 18.01.2019

Nur etwas für Actionliebhaber – ansonsten herrscht trübe Grünödnis

Die Klinge des Schicksals
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Danèstara von Tiamin ist die „Klinge des Schicksals“, die nächtens und im Schlaf an irgendeinen Ort des Kontinentes Nankan teleportiert wird, um dort für die Mächte des Guten einzugreifen. Dieses Mal geht ...

Danèstara von Tiamin ist die „Klinge des Schicksals“, die nächtens und im Schlaf an irgendeinen Ort des Kontinentes Nankan teleportiert wird, um dort für die Mächte des Guten einzugreifen. Dieses Mal geht es um nichts weniger, als die Rettung der Welt, denn Nankan wird von der Grünödnis bedroht, jenem menschenfeindlichen Urwald, der wildwuchernd bereits den Kontinent Yarkin verschlungen hat, an dem Nankan als Subkontinent hängt, zersplittert in viele sehr unterschiedliche Reiche mit sehr unterschiedlichen Merkmalen. Danèstara steht dem schwangeren Mädchen Kalenia bei, einem Zirkel von Dämonenbeschwörern auf die Spur zu kommen, die für das Vordringen der tödlichen Natur verantwortlich zeichnen. Ein Wettlauf der Klingen, Intrigen und des Blutes beginnt.

Soweit die Geschichte. Ab hier wird es ernst, und wer das Buch noch lesen möchte, sollte nicht weiterlesen.

Heitz schreibt ein aufschlussreiches Nachwort, in dem er zwei Motive für diesen Roman offenbart: Erstens präsentiert er seinen Grundgedanken für „Die Klinge des Schicksals“: „Was wäre, wenn wir eine ältere Heldin hätten […]?“ Zum Zweiten liefert er mit Yarkin/Nankan „[w]ieder eine neue Welt […], weil es […] sehr viel Spaß macht, neue Welten zu entwerfen.“

Damit sind schon die zwei Grundübel des Romans benannt.

Erstens ist Danèstra nicht alt. Sie hat nur weiße Haare, ansonsten agiert sie wie eine Frau in den besten Jahren. Sie könnte alles zwischen 30 und 50 sein. Nicht umsonst steht auf Seite 556 (von 571): „Zum ersten Mal wirkte sie erschreckend alstund zerbrechlich.“ Genau! Hätte Heitz eine ältere Heldin haben wollen, hätte Danèstra auch älter sein sollen. Weiße Haare und Runzeln als Merkmale des Alters machen noch keinen alten Helden (der wirklich mal reizvoll wäre, aber sich eher im englischen Landhauskrimi antreffen lässt). Zum "Helden" unten mehr.

Zweitens ist es einerseits eine tolle Sache, Welten zu entwerfen, es ist aber andererseits noch toller, wenn diese Welten auch stimmig funktionieren. Nankan aber ist eine Mixtur von lauter mehr oder weniger guten Ideen, die anfangs vielleicht gut klangen, aber nicht über 500 Seiten tragen. Beispielsweise die Natur als „das Böse“ (TM). Das ist ein witziger Gedanke, den aber auch Heitz nicht zu Ende denken mag, denn schließlich ist es doch nicht die Grünödnis (was für ein verqueres Oxymoron), die auf der Gegenseite steht, sondern die von bösen Menschen bedrohte „gute Natur“. Oder die Binnensee Meerwasser/Süßwasser, die ein maroder Damm trennt. Das Szenario ist ein pfiffiger Gedanke, zumal sich eine echte Bedrohung für den Subkontinent ergibt, wenn der Damm bricht. Aber dass die Crokodyle des Süßwassers sich später in der salzigen See ganz im Osten tummeln, ist eine entlarvende Inkonsistenz. Auch die Merkmale der einzelnen Reiche – Elektriker, Bodenschürfer, Stierwahlkönige, Dammwächter und superreiche Verschwender sind Gedanken, die keine tragfähige Basis für einen im Gesamten funktionierenden Kontinent erschaffen. Die zum Teil unaussprechlichen Namen und sinnlosen Akzente tun ihr Übriges, mich mit den Ideen fremdeln zu lassen („Danèstara“, „Nankan“ hat über dem zweiten A einen langen Strich, den meine Textverarbeitung nicht einmal unter den Sonderzeichen kennt).

Nankan ist wie ein Kramladen, in dem es ein paar echte Entdeckungen, aber vor allem sehr viel Ramsch gibt.

Und nun zur Handlung, da wird es dann noch schlimmer.

Heitz hat in diesem Fantasy-Roman keine Helden erschaffen, sondern jede Menge naiver Meuchelmörder, angefangen bei unserer Supergreisin Danèstra, die ihre Interpretation des Schicksals stets sehr schnell zu fassen scheint, um sie anschließend nicht mehr zu hinterfragen. Eigentlich handelt sie stets nach dem ersten Augenschein, ohne über Alternativen nachzudenken. Erst auf Seite 396 fängt sie einmal an, ihre leisen Zweifel auch zu formulieren („Es stimmt überhaupt nichts überein. Was übersehe ich?“), aber zu diesem Zeitpunkt sind schon jede Menge Menschen einfach abgemessert worden. Dass es sich um Scheusale handelt, mildert es nicht, da viele, viele Unbeteiligte ebenfalls über die „Klinge des Schicksals“ springen mussten. Noch ärger treibt es der Schütze Iridian, der für ein Schiffsticket eine ganze Familie abknallt (S. 404). Ist vielleicht deshalb nicht so schlimm, weil es sich um Reiche handelt? Jedenfalls droht Heitz im Nachwort an, dass Danèstras Truppe wiederkommen könnte, dann aber bitte nicht mit solchen Mördern.

Graue Helden sind eine feine Sache, aber Helden zeichnet in allen guten Büchern des Genres aus, dass sie niemals so werden wie ihre Gegner, niemals. Im Angesicht der Gefahr bleibt ein Held immer seinen Prinzipien treu, und diese sind niemals beliebig. Einzelne für „das größere Ganze“, ein „höheres Ziel“ oder „ad maiorem dei gloriam“ zu opfern, ist ein vornehmes Vorrecht der Bösewichte. Denn wahre Helden sind immer dem Individuum verpflichtet, auch die „Klinge des Schicksals“, zumindest am Beginn ihrer Queste, als es noch um Kalenias Wohl ging. Danèstra gilt als Kämpferin für „Das Gute“ (TM), und ich frage mich: warum? Ihre dümmlich-naive Handlungsweise legt das nicht nahe, sondern ist kriminell fahrlässig. Eine Einteilung in „Das Gute“ (TM) und „Das Böse“ (TM), die auch noch innerweltlich vorgenommen wird, zeugt nicht gerade von der Bemühung um Grauschattierungen, korrespondiert aber auf unangenehme Weise mit der Naivität der Handelnden.

Im Übrigen: Wenn Kalenia sagt, sie sei das Instrument zur Rettung der Welt – wieso ist dann das Gegenteil richtig, wenn sich dies Aussage als Lüge entpuppt? Wieso also hält man Kalenia dann für das Instrument der Zerstörung der Welt und nicht – wie es am Ende geschieht – schlicht für eine übergeschnappte Lügnerin? Hanebüchen.

Passt aber zu der blindwütigen Jagd, zu der Danèstra mit ihrer Truppe aufbricht. Dieser über das Knie gebrochene Aufbruch samt Auftrag ist wahrscheinlich auch der Grund, warum man so schwer in den Roman hineinkommt. Die ersten 100 bis 150 Seiten sind nicht spannend – wie auch viele Rezensionen bemerken. Überdies führt die Meucheljagd über den Kontinent auch dazu, dass im Vorbeirauschen Teile der Handlung wie Fremdkörper wirken (etwa der Sonderauftrag der beiden Ingeniae im Köhlerdorf oder die folgenlose Tötung des Königs Horneus). Was das Figurenkonzept betrifft, formuliert es Ilreen dem Schützen Vytain gegenüber ausgesprochen treffend (S. 509): „Aber bei der ganzen Rennerei blieb keine Zeit, dich näher kennenzulernen.“ Genau! Uns Lesern auch nicht! Alle Figuren sind platt, eindimensional und austauschbar.

Ein Tiefpunkt der Handlung ist der Moment, in dem der Bösewicht seinen Plan zu einem unpassenden Zeitpunkt enthüllt, zu dem eigentlich keine Zeit für lange Erklärungen ist, nach denen überdies niemand gefragt hat (S. 439).

Das Ende in einem Völkerbund der Kriegsparteien ist überraschend seicht. Man fragt sich auch, wie es dazu kommen kann, nachdem die hinter dem Wald stehenden Treyden zuerst alle Menschen getötet haben, die in ihrem Wald herumgingen, und selbst während der diplomatischen Phase zum Schluss noch Erpressung, Mord und Totschlag geschehen. Das sind Handlungsmomente bar der Logik, in denen man dem Autor einfach nicht folgen kann.

Das betrifft insbesondere die Idee des „Grünen Herzens“, also des Edelsteins, um den es am Ende den Waldgeistern geht: Es ist ausweislich der im Buch erzählten Geschichte entstanden, nachdem der Wald bereits wucherte. Es ist zudem der Rest eines Magiers, keines Waldbewohners. Wie kann es dann zum zentralen energetischen Kern des Waldreiches geworden sein?

So wie der holprige Einstieg des Erzählers bisweilen wie eine schlechte Übersetzung einer fremdsprachlichen Urfassung des Textes wirkt, wirken viele Ideen und Wendungen wie plötzliche Einfälle, die nachträglich eingefügt wurden und auch nachträglich mit der Handlung verknüpft werden.

Ist denn gar nichts gut an dem Roman?

Doch, natürlich. Er liest sich nach anfänglichen Schotterstrecken schnell und flüssig und ist einer seichten Serie im Fernsehen allemal vorzuziehen. Die Fülle an Einfällen des Autors liefert auch immer wieder tolle Momente – so ist es kaum möglich, den armen Tropf Quent nicht zu mögen. Auch die Elektrotechnik aus Izozath ist eine stimmige Idee. Und mit dem seltsamen UN-Hochgericht in der Causa Kalenia versöhnt einen fast vollständig der Satz „Rache kennt keine Gerechtigkeit.“ (S. 464)

Das war mein erster Heitz. Und es wird mein letzter bleiben. Wer es aber mit den Details nicht so genau nimmt und rasante Action einem kniffligen Plot vorzieht, der kommt hier auf seine Kosten.