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Veröffentlicht am 23.09.2020

Schonungslose Desillusionierung!

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
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Nachdem ich bereits die neapolitanische Saga mit Genuss verschlungen habe, war klar, dass ich „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ lesen „muss“.
Und ich wurde nicht enttäuscht! Schon die Vorfreude auf ...

Nachdem ich bereits die neapolitanische Saga mit Genuss verschlungen habe, war klar, dass ich „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ lesen „muss“.
Und ich wurde nicht enttäuscht! Schon die Vorfreude auf die erneute Reise nach Neapel, jetzt ins Neapel der 1990-er Jahre, war es wert, zu dem Buch zu greifen.

Erstaunlich, aber durchaus nachvollziehbar, was eine Bemerkung und eine Tante alles auslösen und bewirken können!

Giovanna wächst wohlbehütet in einer gesitteten und kultivierten Familie der Mittelschicht auf.
Mit 13 Jahren hört sie ihren Vater sagen, dass sie hässlich sei und ihrer Tante Vittoria immer ähnlicher werde.
Ihr Selbstbild gerät ins Wanken.

Schockiert und neugierig beschließt sie, die bis dato von der Familie verleugnete Tante kennenzulernen.
Das Mädchen ist gleichermaßen fasziniert und verstört von ihrer schillernden, leidenschaftlichen und schamlosen Tante und von dem ihr bis dahin völlig unbekannten und schlüpfrigen, vulgären, dreckigen und ungebildeten Neapel.

Ihre Kindheit endet, die heile Welt bricht zusammen und die Augen werden ihr geöffnet, denn nach und nach stößt sie auf Geheimnisse, Ungereimtheiten, Halbwahrheiten und Lügen.

Giovanna fängt an zu zweifeln, zu hinterfragen, zu spionieren und ... zu lügen, zu demütigen und zu manipulieren.
Sie wird erwachsen.

Dass ihr geliebter Vater, den sie bis dahin als zuverlässig und ehrlich erlebt hat, seine Herkunft aus niedrigem sozialem Milieu verleugnet (hat), hinterlässt sie sprachlos und dass ihre Mutter eine Affäre mit einem Freund der Familie hat, schockiert sie.
Zu entdecken, dass die Erwachsenen sowohl die Wahrheit, als auch ihre Mitmenschen manipulieren und belügen, verstört sie zutiefst.
Ihre bisher so heile und geordnete Welt droht einzustürzen.
Das tadellose Fundament bekommt Risse.
Die makellose Fassade beginnt zu bröckeln und ihr Urvertrauen in die Eltern wird erschüttert.

Es ist spannend und unterhaltsam, Giovanna auf ihrem Weg durch die Pubertät zu begleiten, ihr Innenleben kennenzulernen und ihre Reise ins Erwachsenenleben zu verfolgen.

Die Autorin beobachtet genau und seziert bis ins kleinste Detail. Was sie dabei entdeckt, beschreibt sie prägnant und unfassbar bildhaft.

Die Charaktere werden in all ihrer Vielschichtigkeit, Komplexität und Zerrissenheit gezeigt. Sie haben Ecken und Kanten und wirken dadurch authentisch und lebendig.
Die Atmosphäre der jeweiligen Szenen wird von Elena Ferrante derart spürbar vermittelt, dass ich nur den Hut ziehen kann.
Es ist faszinierend, wie Ferrante es schafft, tiefe und stimmige Einblicke in die Seele einer Pubertierenden zu gewähren.
Ist es Erinnerung?
Ist es Empathie?
Egal... es ist einfach grandios!

Elena Ferrante schreibt gewohnt feinfühlig, berührend, eindrucksvoll und realistisch, aber - ebenfalls gewohnt-, niemals kitschig, rührselig, platt oder klischeehaft.

Das Werk ist kurzweilig, hallt nach und stößt Gedanken an.
Ist unsere erwachsene Welt tatsächlich so schräg, unehrlich und verlogen?
Sehen uns unsere Kinder tatsächlich so, wie Giovanna das erlebt?
Das wäre entsetzlich und man müsste sich schämen.

Ich möchte den beeindruckenden Roman, gleichermaßen Familiengeschichte wie Milieustudie, der ums Erwachsenwerden, um Einsamkeit, um Neuorientierung und noch vieles mehr geht, ohne wenn und aber empfehlen.
Er hat mir äußerst vergnügliche Lesestunden beschert.

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Veröffentlicht am 23.09.2020

Vollbremsung im Leben

Hamster im hinteren Stromgebiet
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Ich habe bereits die vier Vorgänger seiner autobiographischen Romanfolge gelesen und deshalb war es keine Frage: „Hamster im hinteren Stromgebiet“ musste gelesen werden.
Und ich wurde nicht enttäuscht!

In ...

Ich habe bereits die vier Vorgänger seiner autobiographischen Romanfolge gelesen und deshalb war es keine Frage: „Hamster im hinteren Stromgebiet“ musste gelesen werden.
Und ich wurde nicht enttäuscht!

In diesem Roman erzählt der Schauspieler von der einschneidenden existenziellen Erfahrung, die er mit erst 51 Jahren aufgrund eines Schlaganfalls, den er augenzwinkernd, verharmlosend und verniedlichend „Schlagerl“ nennt, macht.
Er verarbeite diesen furchtbaren Schicksalsschlag, der ihn ohne Vorwarnung aus dem Leben reißt, indem er darüber schreibt

Zunächst warten wir zusammen mit Joachim Meyerhoff und seiner Familie auf den Krankenwagen. Die Wartezeit überbrücken wir, indem wir detailliert über seine Empfindungen und von manchen Erinnerungen und Geschichten lesen.
Dann endlich kommt der Krankenwagen.
Dann endlich kommen wir mit Joachim Meyerhoff in der Stroke-Unit in Wien an.

Mit gewohnt treffenden und humorvollen Formulierungen und gewohnt erfrischend, leicht und lebendig erzählt Meyerhoff nun von der schweren und bedrohlichen Zeit auf der Intensivstation und von seinem Kampf gegen die Ängste.

Die chronologisch geschilderten konkreten und äußeren Geschehnisse rund um Erkrankung und Klinik und Ernsthaftigkeit und Schwere werden dabei von seinem assoziativen Gedankenstrom unterbrochen, den er willentlich einleitet, um seine Ängste in Schach zu halten.

So erfahren wir z. B. von einer Reise mit seinem Bruder nach Norwegen, von einem Tripp durch den Senegal oder von einem Zoobesuch mit seinem jüngsten Sohn.

Es ist schlicht unfassbar und brillant, wie er ein solch einschneidendes und lebensbedrohliches Erlebnis auf eine derart leichte und humorvolle Weise, die den Ernst der Lage nie verkennt, zu erzählen vermag.
Das ist große Kunst.
Gleichzeitig ist es natürlich kein Geheimnis, dass Humor eine bedeutsame und hilfreiche Strategie zur Verarbeitung schwieriger Geschehnisse ist.
Diese Strategie beherrscht Joachim Meyerhoff par excellence.

Er ist ein begnadeter Erzähler, der mit seinem einzigartigen Schreibstil, mit seinem unnachahmlichen Erzählton, mit großartigen Metaphern und mit schonungsloser Ehrlichkeit aus einer persönlichen drastischen Situation das Beste macht und sich nicht unterkriegen lässt.

Ich empfehle diesen bewegenden, dramatischen, amüsanten und unterhaltsamen Roman aus ganzem Herzen!

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Veröffentlicht am 22.09.2020

Ein unglaublich schön gestaltetes, interessantes und unterhaltsames Buch!

Die zitternde Welt
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Wie originell ist dieses Cover!?!
Ein auf dem Kopf stehender Baum, der Früchte trägt ... vor einem feuerroten Himmel.

Meine Assoziationen dazu waren:
Etwas Altes vergeht.
Fruchtbarkeit.
Etwas Neues ...

Wie originell ist dieses Cover!?!
Ein auf dem Kopf stehender Baum, der Früchte trägt ... vor einem feuerroten Himmel.

Meine Assoziationen dazu waren:
Etwas Altes vergeht.
Fruchtbarkeit.
Etwas Neues entsteht.
Bedrohung und Gefahr.
Bereits das Cover machte mich extrem neugierig.

Die hochschwangere, wagemutige, wissbegierige und lebensfrohe Maria begibt sich 1896 auf den Weg von Österreich nach Anatolien, um dort ihren Freund Wilhelm, einen Eisenbahningenieur, zu finden, der sich dorthin begeben hat, um beim Aufbau der Bagdadbahn, die Konya mit Bagdad verbinden soll, zu helfen.

Sie schaffen sich gemeinsam ein zu Hause, bekommen drei Kinder, deren Muttersprache türkisch und nicht deutsch sein wird, und heiraten, nachdem sie recht lange in wilder Ehe gelebt haben.
Die Welt ist in Ordnung.
Das Leben fühlt sich leicht und lebenswert an.
Dass ihr viertes Kind, Traudl, nicht überlebt, müssen und können sie letztlich verkraften.

Die lebenshungrige, akkurate und zuverlässige Maria, die in ihrer Wahlheimat tief verwurzelt ist, gibt dem Alltag Struktur und ihrer Familie Halt.
Sie ist eine eigensinnige und fortschrittlich denkende Frau, die sich weder Konventionen noch dem Willen ihres Mannes unterwirft. Konflikte und Diskussionen sind vorprogrammiert, aber das Paar, die Familie meistert alle Schwierigkeiten gut.

Dann kommt der erste Weltkrieg!
Plötzlich werden Herkunft, Geburtsort und politische Grenzen bedeutsam.
Hans und Erich sollen schließlich, da im wehrpflichtigen Alter und im osmanischen Reich geboren, auch für selbiges kämpfen.
Die Welt gerät aus den Fugen.
Das Leben der Familie wird unruhig. Alles gerät ins Wanken.
Der Boden beginnt zu zittern.
Alles verdreht sich.
Alles steht Kopf.
Nachvollziehbarer Weise wollen die Eltern verhindern, dass ihre Kinder in den Kampf ziehen müssen.
Es gelingt Ihnen.
Der Preis: die Familie wird zerrissen. Die Wege der Familienangehörigen trennen sich und sie entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen.

Am Ende, nach einigen Schicksalsschlägen, stehen wir nicht mehr einer wagemutigen, wissbegierigen und lebensfrohen jungen Maria, sondern einer verbitterten, verhärmten und boshaften alten Frau gegenüber, deren Familie in alle Winde verstreut bzw. tot ist und die einsehen muss, dass trotz Beharrlichkeit nicht alle Pläne und Wünsche umgesetzt werden können.
Wo sind Kampfgeist, Lebenshunger und Lebensfreude geblieben?

Wie es dazu kam und was alles dazwischen passiert ist, erzählt Tanja Paar auf packende, anschauliche nachvollziehbare Art und Weise.
Durch den fesselnden Plot, die lebendigen Dialoge, amüsanten Diskussionen und interessanten geschichtlichen Hintergründe, gelingt es der Autorin scheinbar mühelos, aus diesem Roman einen Pageturner zu machen.

Sie beschreibt die Charaktere in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit. Sie haben Ecken und Kanten, wodurch sie authentisch erscheinen.

Durch Paars bildhafte Sprache kann man sich die Szenerie lebhaft vorstellen. Man hat den Eindruck, Maria auf ihrer Reise zu begleiten und am Alltag der Familie in der Türkei teilzuhaben.

Wenige eingestreute Briefe sorgen wie ein I-Tüpfelchen für noch mehr Abwechslung, weil sie den bisherigen Lauf der Dinge unterbrechen.

Und ein weiteres I-Tüpfelchen ist die Karte am Ende des Buches, auf der man den Weg Marias von Österreich nach Anatolien nachvollziehen kann.

Die Geschichte und das Schicksal dieser Familie wird unaufgeregt, eindrucksvoll und lebensnah erzählt. Trotz des ruhigen Tons der Lektüre liegt eine gewisse Spannung in ihr.

Es macht Spaß, in die orientalische Welt einzutauchen und das Leben der Protagonisten zu begleiten.
Darüber hinaus war es für mich sehr interessant, etwas über die Bagdadbahn zu erfahren, von der ich bis dato nichts wusste.

Ich empfehle diesen außerordentlich schön gestalteten, inhaltlich packenden, eindringlich erzählten und kurzweiligen Roman, der von eine Familie handelt, die Umwälzungen ertragen und Kriege aushalten muss, sehr gerne weiter!

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Veröffentlicht am 21.09.2020

Der Roman als Abbild seines Protagonisten.

Die Erfindung der Null
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„Die Erfindung der Null“ ist ein origineller Roman.
Die Idee, die dahintersteckt ist klasse.

Es geht um den promovierten Mathematiker Martin Gödeler, der eine Leidenschaft für Zahlen hegt und es geht ...

„Die Erfindung der Null“ ist ein origineller Roman.
Die Idee, die dahintersteckt ist klasse.

Es geht um den promovierten Mathematiker Martin Gödeler, der eine Leidenschaft für Zahlen hegt und es geht um seine drei Nachhilfeschüler, die noch eine ganz andere Seite an dem Rechengenie kennenlernen, als sie ihn unerwartet in seiner Wohnung besuchen.
Es ist die Wohnung eines Messie!

Und dann begegnet uns auch noch die unscheinbare und rätselhafte Susanne Melforsch, die nur einmal im Unterricht erscheint ... und später ermordet wird.
Für den Staatsanwalt liegt es nahe, dass Martin der Mörder ist.
Die beiden waren immerhin ein Liebespaar und zusammen im Urlaub.
Aber er kann dem Mathematiker nichts nachweisen.
Martin wird aus der Untersuchungshaft entlassen und… verschwindet spurlos.

Jetzt, wo ich es niederschreibe, merke ich erneut, dass der Plot sich richtig vielversprechend anhört.
Und gleichzeitig gelang es dem Buch nicht, mich in seinen Bann zu ziehen, mich zu fesseln oder mich 100%-ig zu überzeugen.

Das mag daran liegen, dass mir durchweg alle Protagonisten unsympathisch waren und mich emotional nichts berührt hat.

Eigentlich ist es erschütternd, die verwahrloste Wohnung eines Messie vor Augen zu haben.
In der Regel ist die Geschichte, die hinter so einem Menschen steckt ergreifend.
Eigentlich lösen dramatische Ehen oder die Vorstellung, dass ein Elternteil das Leben eines Kindes nicht mehr verfolgen kann, z. B. Gefühle des Bedauerns aus.
Und eigentlich sollten erotische Szenen den Leser schon irgendwie erreichen und nicht kalt lassen.
Eigentlich ist es hochdramatisch und bewegend, wenn man sein Leben als Nullnummer und sich selbst als Null bezeichnet/bezeichnen „muss“.

Nichts von alledem ist passiert. Keine Erschütterung.
Kein Bedauern.
Keine Ergriffenheit.
Keine emotionale Bewegung.
Ich las den Roman ziemlich unberührt, manchmal sogar gelangweilt.
Weil Martin auch gelangweilt oder im Grunde genommen ein langweiliger Mann ist?

Ich glaube ja, dass Michael Waldenhain das ganz genau so beabsichtigt hat.
Martin scheint ein durch und durch rationaler, wenig fassbarer, recht wortkarger und gefühlskalter Mann zu sein, der nur eine wahre Liebe kennt: die Liebe zu seinen Zahlen.

Ich unterstelle dem Autor, dass es große Kunst ist, Martins Charakter so plastisch und diese kühle und verstörende Atmosphäre derart intensiv zu vermitteln.

Und trotzdem, leider, wird es kein Lieblingsbuch und auch keines, das in mir den Wunsch aufkommen lässt, weitere Werke von diesem Autor zu lesen.

Interessant ist es alle Mal!
Da ist ein hochbegabter Überflieger, der sich in der nüchternen Zahlenwelt bestens auskennt, mit Gefühlen allerdings nichts am Hut hat.
Was ist es, das ihn zu seiner intelligenten Kommilitonin Gunde hingezogen hat, mit der er eine Tochter zeugte?
Was ist es, das ihn dermaßen an der herausragenden Mathematikdozentin Dr. Trouvé (nomen est Omen?) angezogen hat?
Was ist es, dass ihn mit der mysteriösen Stalkerin Susanne Melforsch verband?

Was dem Autor, das möchte ich noch unbedingt erwähnen, wunderbar gelungen ist, ist ein völlig unerwartetes und überraschendes Ende.

Das Buch, in dem es letztlich ums Scheitern einer menschlichen Existenz geht, ist kein einfach und schnell wegzulesender Roman.
Man muss ihn aufmerksam und geduldig lesen und sich auf den ungewöhnlichen und einzigartigen Schreibstil einlassen.
Und man muss bereit sein, sich durch zähen und schweren Morast hindurchzuwühlen, um ans Ende zu gelangen.
Der Autor nimmt einen dabei nämlich nicht an die Hand.
Er gibt dem Leser so gut wie keine Erklärungen und Erläuterungen. Was Interpretationen und Verständnis anbelangt ist er auf sich selbst gestellt.

Ein bisschen mehr Unterstützung hätte ich mir vom Autor gewünscht, weil es dann ein packender Roman hätte werden können.
Auf diese Weise wurde es ein zwar originelles und interessantes, aber wenig vergnügliches und anstrengendes Werk.

Ich lernte den Schriftsteller Martin Wildenhain durch diesen Roman als unbequemen Autor kennen, der seinen Lesern so einiges zumutet und sehr viel zugetraut.








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Veröffentlicht am 20.09.2020

Ein bewegender Roman, der die Augen öffnet und wunderbar unterhält.

Die Sommer
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Gleich vorneweg:
„Die Sommer“ ist für mich ein Highlight.
Es ist ein ergreifendes, den Horizont erweiterndes und unterhaltsames Werk.

Leyla hat eine deutsche Mutter und ihr Vater ist jesidischer Kurde.

Über ...

Gleich vorneweg:
„Die Sommer“ ist für mich ein Highlight.
Es ist ein ergreifendes, den Horizont erweiterndes und unterhaltsames Werk.

Leyla hat eine deutsche Mutter und ihr Vater ist jesidischer Kurde.

Über das Jahr hinweg lebt sie bei ihren Eltern in München, wo sie in einem Gymnasium die Schulbank drückt.

„Die Sommer“ ihrer Kindheit und Jugend verbringt sie bei ihren Verwandten väterlicherseits in einem abgeschiedenen jesidischen Dorf im syrisch-türkischen Grenzgebiet.

Leyla lebt ZWISCHEN bzw. IN zwei Welten und Kulturen.

Egal, wo Leyla gerade ist,
räumlich ist sie weit entfernt vom jeweils anderen vertrauten Ort, emotional ist sie jedoch immer sowohl hier als auch dort.
Es ist ein gefühlsmäßiger Spagat, dem Leyla ausgesetzt ist.

Das Nebeneinander von Sorglosigkeit und Sicherheit auf der einen Seite und Angst vor Vertreibung und tödlicher Gefahr auf der anderen Seite, ist verstörend und beunruhigend.

Einerseits lebt sie mit ihren unbeschwerten, unbefangenen und ahnungslosen deutschen Freunden zusammen und andererseits liest sie über das vom syrischen Präsidenten Assad vernichtete Aleppo, über die vom IS ermordeten Jesiden und erlebt in ihren Ferien hautnah mit, dass die Bewohner des Dorfes auf gepackten Koffern sitzen, weil sie immer wieder flüchten müssen, bzw. Angst haben, vertrieben zu werden.

Es ist äußerst interessant, in die Familiengeschichte einzutauchen, Leyla kennenzulernen und mehr über den Alltag in diesem gefährlichen Gebiet und über die politischen Gegebenheiten und Hintergründe zu erfahren.

Leylas Vater flüchtete vor Jahren unter dramatischen Umständen nach Deutschland und heiratete dort eine schwäbische Krankenschwester.
Zusammen mit der gemeinsamen Tochter Leyla verbringt das Paar die Sommer in Vaters Heimat.

Leyla gelingt es, aus diesen heißen und eintönigen Wochen und diesem einfachen Leben das Beste zu machen. Und nicht nur das! Sie empfindet das Dorf und die Verwandten zunehmend als zweite Heimat.

Zu lesen, wie Leyla es anstellt, sich in diesem ganz anderen Alltag wohl zu fühlen und wie ihre rast- und ruhelose Großmutter sie unter ihre Fittiche nimmt, um ihr vom Kochen bis zum Beten alles Wesentliche beizubringen, ist ein Genuss!

Leyla hilft im Haushalt und auf dem Hof und verbringt Zeit mit ihrer Cousine Zozan.

Die Autorin erschuf beeindruckende Charaktere und überrascht mit starken Dialogen.
Sie beschreibt die Handlungsorte und Personen so bildhaft, dass man meint, selbst unter dem nächtlichen Sternenhimmel zu sitzen oder die flirrende Tageshitze zu spüren, vor der man hinter den Mauern der Häuser Schutz sucht.

Mit den Jahren entsteht und wächst in Leyla eine innere Ambivalenz.
Die gefühlte und erlebte Diskrepanz zwischen der archaischen und traditionellen syrischen Welt und der modernen und strukturierten deutschen Welt löst nachvollziehbar innere Spannungen und Gefühle von Zerrissenheit aus.
Und dabei geht es nicht nur darum, dass die syrische Großmutter sie bald unter die Haube bringen will, sie selbst aber lesen, einen Beruf erlernen oder studieren will.

Fragen nach Heimat, Zugehörigkeit und Identität drängen sich ihr auf. Fragen, mit denen sie sich allein gelassen fühlt.

Die 1993 geborene Ronya Othmann hat mit „Die Sommer“ einen ergreifenden und hochaktuellen Debutroman geschrieben, der dem interessierten Leser die Augen öffnet.

In abwechselnd wütendem, wuchtigem, melancholischem und zartem Ton erzählt sie gekonnt und souverän eine gleichermaßen erschütternde und wunderschöne jesidisch-kurdisch-deutsche Familiengeschichte vor dem Hintergrund von politischen Unruhen, Krieg, Zerrissenheit und Zerstörung.
Sie schreibt feinfühlig über Herkunft und Heimat, driftet dabei aber nie ins Kitschige oder Rührselige ab.

Im Gegenteil: Sie schreibt klar und schnörkellos, bringt auf den Punkt, was sie sagen will.
Sie beschreibt und erzählt. Sie wird niemals belehrend oder wertend.

Ich empfehle diesen intensiven und eindrucksvollen Roman sehr gerne weiter. Er erlaubt einen Blick über den Horizont und lässt den Leser in eine fremde Welt eintauchen.
Man erhält tiefe Einblicke und gewinnt neue Einsichten.

„Die Sommer“ ist eine Geschichte, die nachdenklich stimmt, nachhallt und bestens unterhält.

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