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Veröffentlicht am 07.03.2024

Pflichtlektüre für alle Simmel-Kritiker

»Mich wundert, dass ich so fröhlich bin« Johannes Mario Simmel – die Biografie
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REZENSION – Es ist der Autorin Claudia Graf-Grossmann als Verdienst anzurechnen, anlässlich des 100. Geburtstags des österreichischen Schriftstellers Johannes Mario Simmel (1924-2009) endlich eine eigentlich ...

REZENSION – Es ist der Autorin Claudia Graf-Grossmann als Verdienst anzurechnen, anlässlich des 100. Geburtstags des österreichischen Schriftstellers Johannes Mario Simmel (1924-2009) endlich eine eigentlich längst überfällige Biografie über den zu Lebzeiten von Kritikern so geschmähten, beim Publikum umso beliebteren Bestseller-Autor veröffentlicht zu haben. In ihrem Band „Johannes Mario Simmel. Mich wundert, dass ich so fröhlich bin“, der im vertrauten Layout aller Simmel-Romane im März beim Droemer Verlag erschien, lässt die Biografin neben den Resultaten ihrer Archiv-Recherche auch Verwandte, Freunde, Weggefährten und Geschäftspartner zu Wort kommen. Diese Biografie ist nicht nur eine willkommene Neuerscheinung für die vielen Simmel-Fans, sondern muss gerade den zahlreichen Kritikern des Schriftstellers als Pflichtlektüre empfohlen werden.
Denn im Ergebnis wird deutlich, dass Simmel, einer der populärsten deutschsprachigen Schriftsteller, keineswegs ein Autor seichter Trivialliteratur war, sondern – geprägt durch Weltkrieg, Nazi-Regime und sein persönliches Schicksal als Halbjude, der sogar als Jugendlicher aus Eigenschutz seinen jüdischen Vater verleugnen musste – ein ernsthafter Chronist seiner Zeit, der sich um die Zukunft sorgte und mit seinen Werken vor Gefahren für Staat und Gesellschaft warnte. Oft war Simmel mit seinen Ansichten der Zeit voraus, stellt die Autorin fest: „Drei Jahre bevor der Club of Rome gegründet und eine erste Konferenz über die Zukunftsfragen der Menschheit organisiert wird, spricht Simmel diese Themen bereits an [Bevölkerungsentwicklung und drohender Atomkrieg sind Themen seines Romans „Lieb Vaterland magst ruhig sein“] und beweist einmal mehr seinen fast prophetischen Sinn für drängende Zeitfragen.“ So nimmt der Schriftsteller oft Themen vorweg, die erst Jahre oder Jahrzehnte später zum Mainstream werden, erkennt die Biografin. Simmel will warnen und aufklären, formuliert oft dramatisch zugespitzt und bewusst bedrohlich. „Er weiß, dass er mit Grautönen und Relativierungen weniger Beachtung findet als mit radikalem Schwarz-Weiß-Denken.“ Dennoch hat der Autor als langjährig erfahrener Illustrierten-Reporter Themen und Handlungsorte immer sorgfältig recherchiert: Bis zu 250 000 D-Mark investierte Simmel in die Recherche zu einem Roman und spannte dazu auch sein international aufgebautes Netzwerk aus Freunden und Bekannten ein.
Gerade seine Art, gesellschaftspolitische Themen wie „Krieg, Umweltzerstörung, Verletzung der Menschenrechte, Ausländerfeindlichkeit oder Exzesse des Kapitalismus“ mit „philosophischen Überlegungen und Gedankengängen“ in romantische oder leidenschaftliche Liebesgeschichten zu „verpacken“, wie es die Autorin formuliert, was Kritikern oft Anlass zum Verriss seiner Bücher gab, machte Simmels Romane für die Nachkriegsgesellschaft leicht lesbar: „Die Liebesgeschichte mildert nicht nur das häufig sperrige Thema seiner Romane, lockert die Handlung auf und sorgt für die nötige Prise Menschlichkeit. Sie gibt auch Hoffnung, denn für Mario bedeutet Liebe stets Zukunft und Glauben an eine bessere Welt.“
Darin gleicht Simmel seinem Vorbild Hans Fallada, der ebenfalls soziale Missstände seiner Zeit in Romanen aufgriff, damals gemieden und heute als Chronist jener Zeit geschätzt wird. Erst spät, man ist versucht zu sagen „viel zu spät“, erfährt Bestseller-Autor Simmel nach Erscheinen seines Romans „Mit den Clowns kamen die Tränen“ (1987) und vor allem seines letzten Werks „Liebe ist die letzte Brücke“ (1999) endlich verdientes Lob seitens der Kritiker. Sogar Marcel Reich-Ranicki kommt nicht umhin, Simmels „fabelhaften Blick für Themen, Probleme und Motive“ zu würdigen.
Claudia Graf-Grossmann hat es mit ihrer nach Themen gegliederten Biografie geschafft, Johannes Mario Simmel aus der vermeintlichen „Schmuddelecke“ der Trivialliteratur herauszuholen und seine wahre Persönlichkeit als ernsthaften, kritischen Chronisten zu offenbaren. „Wenn unsere Regierung fortfährt, derart unmoralisch zu handeln“, sagte Simmel bereits vor drei Jahrzehnten im Wahljahr 1994, „arbeitet sie Nazis und Rechtsextremen direkt in die Hände. Dann wird sie bei der Wahl die Quittung bekommen, von Protestwählern und sehr vielen Nichtwählern.“

Veröffentlicht am 25.02.2024

Faszinierende Momentaufnahme aus dem Leben Kästners

Der Goldhügel
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REZENSION – Pünktlich zum „Erich-Kästner-Jahr 2024“ – vor 125 Jahren wurde der deutsche Schriftsteller und Dichter in Dresden geboren, vor 50 Jahren starb er in München – gelang dem Volk Verlag mit der ...

REZENSION – Pünktlich zum „Erich-Kästner-Jahr 2024“ – vor 125 Jahren wurde der deutsche Schriftsteller und Dichter in Dresden geboren, vor 50 Jahren starb er in München – gelang dem Volk Verlag mit der Veröffentlichung des Debütromans „Der Goldhügel“ von Tobias Roller ein literarischer Glücksgriff, zu dem man sowohl dem Verlag als auch dem Autor nur gratulieren kann und der zu Recht mit der Verlagsprämie des Freistaates Bayern ausgezeichnet wurde. Als Hintergrundinformation ist interessant, dass Roller, Gymnasiallehrer für Deutsch und Englisch, schon seit Studienzeiten ein Liebhaber der Werke des vielfach ausgezeichneten Büchner-Preisträgers ist und sich schon in seiner Staatsexamensarbeit mit Kästner befasst hatte. So wundert es nicht, dass Rollers Debütroman eine liebevolle Hommage auf den Dichter ist, ohne dass allerdings der Autor den sachlich-kritischen Blick auf die zwiespältige Persönlichkeit Kästners vermissen lässt.
Roller konzentriert sich in seinem Roman auf den im Jahr 1962 ersten Kuraufenthalt Kästners im Sanatorium „Deutsches Haus“ auf dem verschneiten Collina d’Oro, dem „Goldhügel“ in Agra am Luganer See, einer Heilstätte für Tuberkulose-Patienten. Die Wahl des Schauplatzes beruht auf Rollers eigener Isolation während des Corona-Lockdowns 2021, als er seinen Roman zu schreiben begann und sich in die „Kasernierung“ Kästners gut hineinversetzen konnte. In einer Art Kammerspiel begleitet er den an schwerer Tuberkulose erkrankten 62-jährigen, seit Jahren von Depression, Alkoholsucht und starkem Tabakgenuss gezeichneten Kästner auf engstem Raum – in seinem Zimmer, auf den Fluren und im Speisesaal des Sanatoriums.
In wenigen Szenen und in wohlklingender Sprache, die in ihrer Wortwahl auch jene Kästners sein könnte, gelingt es Roller, uns die verzweifelte Situation des an sich selbst zweifelnden Dichters zu veranschaulichen. Nach dem Krieg war es Kästner nicht gelungen, den Anschluss an die Nachkriegsliteratur zu schaffen. Manche Kollegen und Kritiker hatten ihm seinen Verbleib in Nazi-Deutschland und sein recht erfolgreiches Wirken – wenn auch meistens unter Pseudonym – während dieser Jahre verübelt. Der Öffentlichkeit war er lediglich als erfolgreicher Kinderbuch-Autor der Vorkriegszeit in Erinnerung geblieben. Frustriert hatte sich Kästner deshalb dem Alkohol hingegeben und befand sich nun in einer Schaffenskrise. Roller schafft es, uns diesen Frust, diese Verzweiflung und den Zwiespalt zwischen dem einst gefeierten Literaten und Frauenheld („So er die Wahl hätte, würde er es selbstredend vorziehen, zwischen den Brüsten einer ihm liebevoll zugeneigten Dame das Zeitliche zu segnen.“) und dem jetzt gealterten Mann aufzuzeigen: „Das vormalige Hengstchen ist zum Ackergaul gealtert, …, ein Gaul, der vom Trab in den Schritt gewechselt hat. … Und sie hält die Zügel.“ Gemeint ist die ihn beherrschende Luiselotte „Lotte“ Enderle (1908–1991), die sich den Schriftsteller mit dessen zweiter Lebensgefährtin Friedel Siebert (1926–1986) teilen muss.
Wir erleben Kästner, wie er mit seinen Schuldgefühlen als der beiden Frauen unterlegene und hörige Eigenbrötler kämpft, zugleich aber auch mit seiner eigenen Entscheidungsschwäche, und von depressiven Gefühlen und gelegentlichen Wahnvorstellungen gepeinigt wird. Nur einmal – und dies ist eine Schlüsselszene des Romans – verlässt der einst gefeierte Schriftsteller den goldenen Olymp und steigt hinab ins Dorf, wo er in Tonis Gasthaus einfach Mensch sein darf. „In all den Jahren ist man stets auf ihn zugegangen. Zumeist hat man sich ihm vorgestellt, dem Gepriesenen. … In ein kleines Gasthaus im Tessin musste er geraten, um darauf zu kommen, dass er die Beleuchtung in seinem Leben verändern muss.“
Tobias Roller schafft es auf unterhaltsame Art, in einer gelungenen Mischung aus Fakten und Fiktion uns trotz der Kürze seiner Momentaufnahme aus Kästners Leben dennoch einen ungemein tiefen Einblick in die damalige Verfassung und Persönlichkeit des Dichters zu vermitteln. In Verbindung mit dem knapp vierseitigen Nachwort, das sich wie der Roman ebenfalls nur auf wichtigste Fakten beschränkt, ist „Der Goldhügel“ vor allem für jene Freunde der Werke Kästners besonders zu empfehlen, die sich scheuen, eine allzu ausführliche Biografie zu lesen und dennoch mehr über ihren Lieblingsschriftsteller erfahren wollen. „Der Goldhügel“ beweist wieder einmal, dass es sich doch lohnt, einen Debütroman zur Lektüre zu wählen und neuen Autoren eine Chance im hart umkämpften Buchmarkt zu geben.

Veröffentlicht am 21.02.2024

Ausgezeichneter Psychothriller

Die Schuld, die man trägt
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REZENSION – Vor bald 15 Jahren starteten die beiden schwedischen Drehbuch-Autoren Michael Hjorth (60) und Hans Rosenfeldt (59) mit ihrem ersten gemeinsamen Psychothriller „Der Mann, der kein Mörder war“ ...

REZENSION – Vor bald 15 Jahren starteten die beiden schwedischen Drehbuch-Autoren Michael Hjorth (60) und Hans Rosenfeldt (59) mit ihrem ersten gemeinsamen Psychothriller „Der Mann, der kein Mörder war“ eine Kriminalreihe, die recht schnell zu einer Kultserie wurde, von der man mit jedem weiteren Band immer wieder aufs Neue gefangen wurde. Grund war die Figur des hochintelligenten Polizeipsychologen und Profilers Sebastian Bergmann, dessen meist abweisende Haltung anderen Menschen gegenüber nicht nur auf sein direktes Umfeld unausstehlich wirkt, sondern dessen Überheblichkeit und fehlende Empathie es auch dem Leser schwer macht, Sympathien für diesen gebrochenen Anti-Helden aufzubringen. Dies gilt gleichermaßen, vielleicht sogar erst recht für den aktuellen, im November beim Wunderlich Verlag veröffentlichten und in seiner Handlung wieder recht komplexen achten Band „Die Schuld, die man trägt“.
Eigentlich soll die bisher so erfolgreiche Reichsmordkommission unter Leitung von Sebastians Tochter Vanja Lithner aufgelöst werden, nachdem deren junges Team-Mitglied Billy nur durch Bergmans Talent endlich als Serienmörder entlarvt werden konnte. Doch bevor es zur Auflösung kommt, muss die Sondereinheit in einem neuen Fall ermitteln: In einem Schweinemastbetrieb wurde eine Frau ermordet aufgefunden. An der Stallwand hatte der Mörder in blutroten Buchstaben die Aufforderung hinterlassen: „Löse den Fall, Sebastian Bergman!“. Vanja und ihr Team nehmen die Ermittlungen auf, auch um ihre Sondereinheit zu rehabilitieren. Doch vor allen anderen ist in diesem Fall ihr bei den Kollegen nicht sonderlich beliebter Vater zur Mitarbeit gefordert, der nun wirklich alles andere als ein Teamworker und schon längst nicht mehr im Polizeidienst tätig ist.
Bergman war nicht immer so, wie man ihn heute kennt: Bei der Tsunami-Katastrophe 2004 verlor er seine junge Frau und die kleine Sabine, die er im Wasser anfangs noch im Arm hielt, sie dann aber verlor. Seitdem lebt er in der Überzeugung, er sei an ihrem Tod schuld und es nicht mehr wert, glücklich zu sein. Zerfressen vom Schuldgefühl, handelt er ohne Rücksicht auf sich und andere, wodurch er, meist ohne es zu wissen, an deren späterem Unglück schuld ist. Alle Indizien des neuen Mordfalles weisen darauf hin, dass sich einer dieser Unglücklichen nun an Bergman zu rächen scheint und ihn daran erinnern will, wie vielen anderen Menschen er durch sein Verhalten geschadet hat.
Auch dieser achte Thriller um Sebastian Bergman überzeugt wie seine sieben Vorgänger durch seine ausgesprochen „starken“ Charaktere und seine psychologische Tiefenwirkung. Während der Lektüre entsteht ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Man läuft Gefahr zu vergessen, dass es sich doch nur um einen Roman handelt. Man lebt, leidet und liebt mit den Personen – vor allem natürlich mit dem Anti-Helden Sebastian Bergman, der mit seinem Tun und Lassen beim Leser einen Widerspruch auslöst: Eigentlich mag man ihn nicht, darf man ihn nicht mögen. Andererseits muss man mit diesem gebrochenen Mann unweigerlich Mitleid empfinden. „So viele Jahre hatte er ständig falsche Entscheidungen getroffen, ohne an den Folgen interessiert gewesen zu sein. Aber dies war wohl der Moment, in dem man die richtige Wahl treffen sollte“, heißt es am Schluss. „Er traf seine Entscheidung. Alles oder nichts. Dann begann er zu gehen.“ Ist die von Sebastian Bergman gewählte Richtung also das Ende dieser stilistisch und athmosphärisch bemerkenswerten und deshalb unbedingt empfehlenswerten Thrillerreihe? Oder müssen wir wieder zwei, drei Jahre auf einen nächsten Band warten? Fest steht jedenfalls, dass diese Psycho-Reihe auch mit ihrem achten Band „Die Schuld, die man trägt“ nicht an Spannung nachgelassen hat. Wer also wirklich gute Psychothriller lesen mag, kommt am schwedischen Autoren-Duo Hjorth & Rosenfeldt und ihrem Profiler Sebastian Bergman nicht vorbei, anderenfalls würde er wirklich etwas versäumen.

Veröffentlicht am 14.11.2023

Frage um Schuld und Sühne

Dünnes Eis
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REZENSION – Eine ungemein berührende, wirklich zu Herzen gehende Geschichte behandelt, ohne irgendwo in Klischees und Kitsch abzugleiten, der Roman „Dünnes Eis“ der deutschen Schriftstellerin Theres Essmann ...

REZENSION – Eine ungemein berührende, wirklich zu Herzen gehende Geschichte behandelt, ohne irgendwo in Klischees und Kitsch abzugleiten, der Roman „Dünnes Eis“ der deutschen Schriftstellerin Theres Essmann (56), im August erschienen beim Dörlemann Verlag. Es ist nach dem schmalen Lyrikband „Das Gewicht der Berührung“ (2002) und ihrer Novelle „Federico Temperini“ (2020) erst das zweite Prosawerk der als Poesietherapeutin mit Worten und Lauten, Gedanken und Gefühlen, mit Sinnen und Sinnlichkeit arbeitenden Autorin. Essmann verbindet in ihrer Romanhandlung das Schicksal gegenwärtiger Flüchtlinge mit den Erlebnissen und Erfahrungen ostdeutscher Flüchtlinge gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ist eine überaus ernsthafte Geschichte um Täter und Opfer, um Schuld und Sühne, um Trauer und Einsamkeit. „Dünnes Eis“ ist ein Roman, der uns zeigt, wie Kriege Menschen psychisch zerstören und auch nach ihrem offiziellen Ende ein Leben lang nachwirken. Zugleich zeigt der Roman aber auch Versuche der Versöhnung.
Wir lernen Marietta kennen, die fast 100-jährig zwar nicht allein, aber doch einsam in ihrer Seniorenresidenz lebt, nachdem ihre Zimmernachbarin und Freundin Gisela kürzlich verstorben ist. Ihr neuer Nachbar ist Herr Tacke – ein mürrischer und zurückgezogen wirkender Mann. Er sei ein alter Nazi, munkelt man. Nur langsam gelingt es Marietta, einen nachbarschaftlichen Kontakt zu ihm herzustellen. Eine Kontaktaufnahme anderer Art schafft sie in ihrer Begegnung mit dem kleinen Enis, einem Jungen aus der nahen Flüchtlingsunterkunft, der sie an ihren eigenen Sohn erinnert: Johann wurde damals (1945) als Sechsjähriger in Ostpreußen von russischen Soldaten erschossen. Beide Begegnungen zwingen die Seniorin, sich mit ihren im Innersten vergrabenen, doch auch nach Jahrzehnten nicht verwundenen Schuldgefühlen auseinanderzusetzen.
„Weil ich geschrien habe: Lauf weg! lief Johann weg. Weil Johann weglief, hat der Russe ihn erschossen.“ Zwar hatte der Russe geschossen, aber zeit ihres Lebens gab sich Marietta die Schuld am Tod ihres Sohnes. Doch hatte sie tatsächlich geschrien? Oder plagen sie falsche Erinnerungen? „Aber als ich hilflos mitansehen musste, wie Johann zu Boden ging, ist mein Herz zerrissen. Wie sollte ich damit weiterleben? Mit einem zerrissenen Herzen? Also habe ich versucht, den Riss zu flicken. Mit dem Faden des Verstandes. Ich musste mir erklären, warum mein Kind starb.“
Jetzt versucht sie, den kleinen Enis zu trösten, über den sie erfahren hat, dass er die Ermordung seiner beiden Eltern miterleben musste und seitdem traumatisiert und verstummt ist. „Heutzutage spricht jeder von Traumatisierung“, vergleicht Marietta mit 1945 unter sowjetischer Besatzung. „Damals, unmittelbar danach, fragten die Frauen sich gegenseitig: Und du? Musstest du auch ran? … Meistens aber sagte keine etwas. Und ich?“ Auch Marietta hatte geschwiegen und jeden Gedanken daran vermieden. Damals mussten die Opfer – ob Zivilist oder junger Soldat wie Herr Tacke – selbst sehen, wie sie mit ihren Schreckensbildern im weiteren Leben klarkamen. „Manchmal reicht ein Riss, dünn wie ein Haar, damit etwas Verhärtetes aufbricht.“ Zum Beispiel konnte Marietta die h-Moll-Messe von Bach nicht ertragen, die Lieblingsmusik ihres verstorbenen Mannes. „Sie zieht mich dorthin, wo ich nicht sein kann. …. Auf dünnes Eis?“
„Dünnes Eis“ ist ein in Sprache und Charakteren beeindruckender Roman voller Mitgefühl und Menschlichkeit, wie es heutzutage nur wenige gibt. Theres Essmann greift ein altes Thema auf und zeigt uns dessen ungebrochene Aktualität. Sie schafft es nachvollziehbar, in ihren Protagonisten die Grenzen zwischen Täter und Opfer aufzubrechen und die Frage nach Schuld aus wechselnder Perspektive zu stellen. „Dünnes Eis“ von Theres Essmann packt seine Leser und wirkt wohl bei allen noch recht lange nach.

Veröffentlicht am 10.08.2023

Satirischer Krimi mit aktuellem Bezug

Samson und das gestohlene Herz
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REZENSION – Im Roman „Samson und das gestohlene Herz“, dem im Juli beim Diogenes Verlag erschienenen zweiten Band der satirischen Krimireihe des ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow (62), muss sich ...

REZENSION – Im Roman „Samson und das gestohlene Herz“, dem im Juli beim Diogenes Verlag erschienenen zweiten Band der satirischen Krimireihe des ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow (62), muss sich der im postrevolutionären Jahr 1920 in Kiew lebende Ermittler Samson mühsam mit einem Fall illegalen Fleischhandels herumplagen. Um Handlung und Protagonisten besser zu verstehen, empfiehlt es sich, zuvor den ersten Band „Samson und Nadjeschda“ (2022) gelesen zu haben. Denn er erklärt, weshalb dem jungen Mitarbeiter der sowjetischen Miliz das rechte Ohr abgeschlagen wurde, das er seitdem in einer Metalldose im Arbeitszimmer seines von marodierenden Rotarmisten ermordeten Vaters aufbewahrt und mit dessen Hilfe er Gespräche belauschen kann, ohne selbst vor Ort zu sein: „Die nackte Ohröffnung auf seiner Rechten nahm alle Geräusche der Welt in sich auf.“ Auch versteht man die Beziehung zwischen Samson und Nadjeschda, die in gemeinsamer Wohnung zu einem Liebespaar werden: „Sie sah ihn kritisch an, wie eine Ehefrau ihren Herumtreiber von Mann, aber sogleich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck – sie erinnerte sich offenbar daran, dass sie nicht seine Frau, sondern nur bei ihm einquartiert war.“
Noch immer ist Bürgerkrieg (1918 – 1922) in der Ukraine. Sowjetische Bolschewiken kämpfen gegen Konservative, Demokraten, gemäßigte Sozialisten, Nationalisten und Weiße Armee. Im Januar 1919 hatten die Bolschewiken die Stadt Kiew erobert. Samson war eher zufällig und ohne Ausbildung als Mitarbeiter der sowjetischen Miliz verpflichtet worden. Seinem künftigen Vorgesetzten Najden hatte schon dessen Fähigkeit genügt, gute Berichte zu formulieren.
Im neuen Band geht es um illegalen Handel mit Fleisch. Wegen akuten Mangels war das private Schlachten und der Verkauf von Fleisch vom Regime plötzlich verboten worden. Allerdings hatte man versäumt, die Einwohner von Kiew darüber zu informieren. „Es war eine Zeit der Unruhe, der Gefahr und des Hungers.“ Es herrschte politische Willkür, die auch Samson, sein Kollege Cholodnij und der Vorgesetzte Najden zu spüren bekommen, als ihnen der Tschekist Abjasow unerwartet vor die Nase gesetzt wird. Kaum haben Samson und Cholodnij mit ihren Ermittlungen im Fleisch-Schwarzhandel begonnen, wird Nadjeschda, Mitarbeiterin im Amt für Statistik, von Eisenbahnern gefangen genommen. Nun muss Samson auch noch seine Geliebte befreien.
Auch für diesen zweiten Band gilt: Es ist eine mit liebevoll charakterisierten Protagonisten besetzte und in fast märchenhaft-poetischer Sprache verfasste Mischung aus historischem Roman, Liebesgeschichte und Krimi. Allerdings ist der unspektakuläre Kriminalfall für den Autor lediglich Mittel zum Zweck: Andrej Kurkow blickt in seiner Krimireihe auf die Zeit der ersten sowjetischen Besetzung im Jahr 1920 zurück. Er schildert satirisch-ironisch die Alltagssituation der Normalbürger in den Wirren des Bürgerkriegs, in dessen Verlauf es für sie manchmal unübersichtlich war, wer sie gerade beherrschte. So rät der alte Fotograf, der Samson und Nadjeschda fotografieren soll, vom Foto in Uniform ab: „Sie merken doch selbst, wie oft bei uns hier die Machthaber wechseln. Von daher ist es besser, sich nicht in Kleidung ablichten zu lassen, die auf konkrete Machthaber hinweist. Wer weiß schon, wer als nächstes nach Kiew kommt?“
Der durchaus unterhaltsame Roman „Samson und das gestohlene Herz“ ist kein gewöhnlicher Krimi. Man denkt sofort an die unschuldigen Menschen in den heute von russischen Truppen erneut besetzten Ostprovinzen der Ukraine. „Überhaupt gab es zu wenig Salz, wie es überhaupt auch zu wenig Zucker gab. Das war die bittere Wahrheit dieser unruhigen Zeit, die man weder mit Salz noch mit Zucker schmackhaft machen konnte.“ Aber das Alltagsleben muss auch dort heute wie einst im Jahr 1920 irgendwie weitergehen, egal wer gerade regiert. So absurd diese Situation damals wie heute ist, steigert Andrej Kurkow in seinem Roman alles derart ins Skurrile, dass aus der Tragik des Geschehens schon wieder Komik wird. Auf den angekündigten dritten Band darf man gespannt sein.