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Veröffentlicht am 01.04.2025

Vom gefeierten Schauspieler zum verehrten Widerstandskämpfer

Linges Mission
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REZENSION – Bereits vor drei Jahren erschien in Norwegen der Roman „Flammer og regn“ des Schriftstellers Øystein Wiik (68), den der Pendragon Verlag erst jetzt in der gelungenen Übersetzung von Maike Dörries ...

REZENSION – Bereits vor drei Jahren erschien in Norwegen der Roman „Flammer og regn“ des Schriftstellers Øystein Wiik (68), den der Pendragon Verlag erst jetzt in der gelungenen Übersetzung von Maike Dörries und Günther Frauenlob unter dem Titel „Linges Mission“ veröffentlichte. Hauptfigur ist der Schauspieler und Kompanie-Chef Martin Linge (1894-1941), der in Deutschland zwar eher unbekannt, in seiner norwegischen Heimat aber seit seinem frühen Tod beim Kampfeinsatz am 27. Dezember 1941 als Widerstandskämpfer und Kriegsheld verehrt wird.
Nach dem deutschen Überfall auf Norwegen im April 1940 meldete sich Reserve-Leutnant Martin Linge freiwillig zum Kriegsdienst. Nach der Landung britischer Truppen in dem noch unbesetzten Teil Norwegens wurde Linge als Verbindungsoffizier seines Regiments eingesetzt. Nach schwerer Verwundung bei einem deutschen Luftangriff wurde er ins Lazarett nach Großbritannien verlegt. Kaum entlassen, schlug er dem britischen Kriegsministerium vor, mit einer von ihm zu bildenden Partisanentruppe in Norwegen gegen die Deutschen zu kämpfen. Im August 1940 begann er, in Norwegen junge Männer zu rekrutieren, die in England ab März 1941 als Norwegian Independent Company 1 unter britischem Oberkommando für den Kriegseinsatz trainiert wurden. Nach erstem Einsatz auf den Lofoten (Operation Claymore) kam es am 27. Dezember 1941 zu einem Großangriff der britischen Kriegsmarine mit Linges Kompanie in Måløy (Operation Archery). Bei diesem Einsatz wurde der charismatische Partisanenführer erschossen. Die von ihm aufgebaute Truppe wurde ihm zu Ehren in „Kompanie Linge“ umbenannt.
Diese Fakten bilden die Grundlage zu Øystein Wiiks historisch interessanten und spannenden Roman, der 50 Jahre später (1991) beginnt: Bjørn Sjøvåg, ein 1941 noch minderjähriges [fiktives] Mitglied in Linges Partisanentruppe, soll als damaliger Augenzeuge das Osloer Theater bei den Proben eines neuen Theaterstücks über Martin Linges Heldentaten beraten. Während der gemeinsamen Arbeit mit Linges Londoner Geliebten Rosemary Reed verarbeitet Sjøvåg zugleich sein schweres Trauma, das er bei Linges Tod erlitten hatte.
In geschickter Verbindung der historischen Fakten mit fiktiven Elementen sowie der komplexen Charakterisierung seiner Figuren gelingt es dem Autor, die Arbeit Martin Linges beim Aufbau seiner Partisanentruppe sowie deren aktiven Kriegseinsatz lebendig werden zu lassen. Einen wesentlichen Beitrag haben dabei historisch reale Personen wie Trygve Lie, Außenminister der norwegischen Exilregierung in London, oder die britischen Offiziere John Durnford-Slater und Jack Churchill, der martialisch mit Langbogen und Breitschwert kämpfende „Mad Jack“.
Doch „Linges Mission“ ist weit mehr als ein Spionage- oder aktionsreicher Kriegsroman. Denn ausführlich geht der Autor auch auf das politisch schwierige Verhältnis der norwegischen Exilregierung zu ihren britischen Gastgebern und dem britischen Kriegsministerium ein. Ungeachtet norwegischer Interessen und ohne Rücksicht auf die Bewohner Norwegens greift Großbritannien das von Deutschen besetzte Land an. Wiederholt versucht Außenminister Trygve Lie, den unter britischem Kommando stehenden Martin Linge als Informanten zugewinnen. Linge lehnt ab, hat er doch selbst als von Winston Churchill bevorzugter Ausländer schon genug Probleme mit den gegen ihn gerichteten Intrigen mancher britischer Offiziere.
Den kapitelweisen Zeitenwechsel zwischen den Kriegsjahren 1940/1941 und der 50 Jahre späteren Rückschau nutzt der norwegische Autor, um das Handeln des im Land verehrten Kriegshelden moralisch zu hinterfragen. So ließ Linge seine Geliebte trotz gegenteiliger Versprechen in London zurück, um an der Spitze seiner Truppe zu kämpfen. War sein rücksichtslos scheinender Antrieb tatsächlich echte Vaterlandsliebe und heldenhafte Opferbereitschaft? Oder doch nur zügelloser Männlichkeitswahn und blindwütige Kampfeslust?
Der Autor setzt in „Linges Mission“ historische Kenntnis über den Zweiten Weltkrieg in Norwegen voraus. Doch ist diese Wissenslücke durch kurzes Studium anderer Quellen erst einmal überwunden, liest sich der Roman als spannendes Stück Zeitgeschichte, das vielleicht gerade deshalb interessant ist, weil es uns Deutschen eben nicht so geläufig ist.

Veröffentlicht am 26.03.2025

Gelungene Balance zwischen Tragik und Humor

Woran ich lieber nicht denke
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REZENSION – Bereits im Jahr 2021 kam der Roman „Woran ich lieber nicht denke“ von Jente Posthuma im niederländischen Original auf die Shortlist für den Literaturpreis der Europäischen Union und erreichte ...

REZENSION – Bereits im Jahr 2021 kam der Roman „Woran ich lieber nicht denke“ von Jente Posthuma im niederländischen Original auf die Shortlist für den Literaturpreis der Europäischen Union und erreichte 2024 mit seiner englischen Übersetzung die Shortlist des International Booker Prize. Im Februar erschien nun das Buch im Luchterhand Verlag in deutscher Übersetzung. Es ist die berührende Geschichte einer jungen Frau, die den Freitod ihres Zwillingsbruders zu verarbeiten und ihrer Trauer, auch eigenen Schuldgefühlen Ausdruck zu geben versucht. Zugleich ist es eine Geschichte über die Suche nach der eigenen Identität. „Mein Bruder war weg und mit ihm meine gesamte Vergangenheit. Ich kam nirgendwoher und ging nirgendwohin.“
Der Tod ihres Bruders kann das enge Band, das beide über 35 Jahre verband, nicht trennen. Im Gegenteil, es scheint noch enger geworden zu sein. Noch immer denkt sie, die Jüngere, die Nummer Zwei, in alltäglichen Situationen an ihn, den Erstgeborenen, den Älteren, die Nummer Eins. Ihr Zwillingsbruder war der Mensch, der ihr immer zur Seite stand. Sogar als berufstätige Erwachsene hatten sie eng beieinander gewohnt, wenn auch in getrennten Wohnungen auf gegenüber liegenden Seiten des Amsterdamer Stadtparks. „Ich wünsche mir gar kein eigenes Leben, sagte ich. Du willst nicht selbst leben, sagte mein Bruder. Aber das stimmte nicht. Ich wollte einfach nur mit ihm leben.“
Doch irgendwann versuchte der Bruder sich zu lösen, versuchte selbstständig zu werden, entfloh der klammernden Schwester sogar für ein Jahr nach Brasilien. Nach seiner Rückkehr war das Verhältnis zueinander ein anderes geworden. Der Bruder verschwieg manches der Schwester, wurde verschlossener und fiel zunehmend in Depression. Die Erzählerin ist inzwischen verheiratet, doch Ehemann Leo muss seine Frau mit dem Bruder teilen, verbringt sie doch Stunden mit ihm in dessen Wohnung. Sogar nach dessen Tod ist sie unfähig, sich vom Bruder zu lösen. „Jeden Tag wartete Leo darauf, dass ich nach Hause kam, und wenn ich zu Hause war, brauchte er nicht lange zu warten, bis ich wieder ging. Nachts zu warten, hatte er aufgegeben.“ … Vielleicht wär's am besten, du ziehst in die Wohnung deines Bruders, sagte Leo. Er ist jetzt seit zweieinhalb Jahren tot, und du bist immer noch öfter drüben als hier.“
„Woran ich lieber nicht denke“ ist kein Roman im klassischen Sinn mit durchstrukturierter Handlung. Es ist vielmehr eine willkürlich scheinende Sammlung von Miniaturen, von Momentaufnahmen, in denen die Ich-Erzählerin rückblickend ihr gemeinsames Leben mit dem Bruder in allen Höhen und Tiefen Revue passieren lässt und die – mal über mehrere Seiten, mal in nur wenigen Sätzen formuliert – erst in ihrer assoziativen Gesamtheit ein stimmiges, in sich abgeschlossenes Bild ergeben. Darin zeigt Autorin ohne jede Dramatik die tiefe Verzweiflung der Ich-Erzählerin, der es nicht gelingt, sich aus dem Strudel der Trauer zu befreien, fühlt sie sich doch in gewisser Weise mitverantwortlich am Freitod ihres Bruders. Sie glaubt, ihm zuletzt nicht aufmerksam genug zugehört zu haben, um die Andeutungen seines Todeswunsches ernst zu nehmen.
In Posthumas Roman steht keine Handlung im Vordergrund. Eine Verfilmung ist deshalb nur schwer vorstellbar. Denn auch alle anderen Personen – ob es die Mutter der Erzählerin ist, ihre Tante oder ihre Psychotherapeutin – bleiben letztlich nur Randfiguren. Sie ähneln stattdessen Stichwortgebern in einem Kammerspiel, in dem nur die Erzählerin, monologisierend und in ihrer Gefühls- und Gedankenwelt gefangen, allein im Rampenlicht der Bühne steht.
Jente Posthuma schreibt völlig unaufgeregt und in einfachen, kurzen Sätzen, denen jede Dramatik fehlt, geradezu mit einer gewissen Leichtigkeit. Sie lässt ihre Protagonistin emotional zurückhaltend, oft ganz sachlich, über manche Situationen sogar mit trockenem Humor erzählen, wodurch der tiefe Schmerz der Erzählerin durchbrochen wird. Es ist eher eine subtile Emotionalität und die gelungene Balance zwischen Tragik und Humor, die „Woran ich lieber nicht denke“ zu einer besonderen, berührenden Lektüre macht.

Veröffentlicht am 23.03.2025

Allzu Menschliches in unmenschlicher Zeit

Ginsterburg
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REZENSION – Schon unzählige Romane haben sich der von der Nachkriegsgeneration wiederholt gestellten Frage gewidmet, wie sich der Nationalsozialismus in Deutschland fast widerstandslos hat ausbreiten und ...

REZENSION – Schon unzählige Romane haben sich der von der Nachkriegsgeneration wiederholt gestellten Frage gewidmet, wie sich der Nationalsozialismus in Deutschland fast widerstandslos hat ausbreiten und schließlich seine Macht grenzenlos hat ausweiten können. Wie konnte es nur soweit kommen? So gesehen, ist dieses Thema, das Arno Frank für seinen im Februar beim Klett-Cotta Verlag veröffentlichten Roman „Ginsterburg“ gewählt hat, keineswegs neu. Doch anlässlich 80. Jahrestags des Kriegsendes und angesichts des nach drei Generationen gefährlich erstarkenden Rechtspopulismus bekommt diese Frage eine aktuelle Brisanz.
„Wie konnten Menschen so unberührt bleiben vom Gang der Dinge? War es so einfach, sich im Gleichschritt zum schweren Tritt der Zeit zu bewegen? Nicht einmal aus bösem Willen, einfach aus Instinkt?“, fragt Uta, die ihren jüdischen Ehemann in Berlin in den Kellern der Gestapo verlor. Autor Arno Frank gibt seine Antwort in der Schilderung des in die drei Zeitabschnitte 1935, 1940 und 1945 aufgeteilten und sich schleichend verändernden Alltagslebens einfacher Bewohner der in tiefster Provinz gelegenen fiktiven fränkischen Kleinstadt Ginsterburg. Hier beginnen manche zu verstummen, andere passen ihre persönlichen Überzeugungen allmählich dem „Mainstream“ an, wandeln sich zu Mitläufern und Opportunisten oder machen sogar Karriere im totalitären System. So oder so gilt für alle, sich mit der neuen Ordnung irgendwie zu arrangieren. Dabei suchen viele den Weg des geringsten Widerstands.
So wird der vormals politisch unabhängige Blumenhändler Otto Gürckel plötzlich zum Kreisleiter, ohne ein überzeugter Nazi zu sein: „Politische Großwetterlage! Otto nickte meistens nur gewichtig, wenn es um die großen Fragen ging, und stimmte ansonsten stets der letzten geäußerten Meinung zu. Damit war er bisher gut gefahren.“ Der Feuilletonist der Lokalzeitung, Eugen von Wieland, der lange versuchte, seine politische Unabhängigkeit zu bewahren, kann nach dem Selbstmord seines jüdischen Herausgebers Landauer, der in der städtischen Öffentlichkeit kaum Beachtung findet, und der überstürzten Flucht von dessen Familie dem verlockenden Angebot des Kreisleiters nicht widerstehen, Schriftleiter der Zeitung zu werden und das repräsentative Landauer-Haus zu bekommen. Auch Buchhändlerin Merle entkommt der neuen Ordnung nicht, muss sie doch ständig darauf bedacht sein, anhand neuer Listen immer wieder Bücher aus ihrem Sortiment zu nehmen. Ihren Sohn Lothar konnte sie anfangs noch von der Hitlerjugend fernhalten, doch nur dort schafft er es, sich seinen Traum vom Fliegen zu erfüllen. Zum wirtschaftlichen Profiteur des Regimes wird als größter städtischer Arbeitgeber der Papierfabrikant Jungheinrich, da der übersteigerte Bürokratismus des Regimes für sein Formularwesen immer mehr Papier verlangt, und der beliebte Hausarzt Hansemann bekommt im Osten die unerwartete Chance, seinem Drang als Wissenschaftler nachzugehen und medizinischen Studien zu betreiben. Doch am Ende bleibt die Erkenntnis des als Held des Ersten Weltkriegs gefeierten 90-jährigen Leberecht von Wieland, der aus seiner Lethargie erwachend feststellt: „Mir will einfach nicht mehr einfallen, welchen Sinn alles gehabt hat.“
Die Schilderung des Werdegangs ausgewählter Einwohner Ginsterburgs zeigt eindrucksvoll die schleichende Veränderung der Gesellschaft und die Auswirkungen der NS-Ideologie auf den Einzelnen. Dabei verzichtet der Roman ganz bewusst auf herausgehobene Figuren und unterstreicht gerade dadurch die Anpassungsfähigkeit der Menschen in schwierigen Zeiten, zugleich aber auch die Komplexität unterschiedlichen menschlichen Verhaltens unter einem totalitären Regime.
Das Alltagsleben eines normalen Menschen ist nicht voller Höhepunkte. Nicht jeden Tag geschieht Aufregendes. So mag mancher Leser vielleicht Aktion und Spannung im Roman vermissen. Doch gerade die Bescheibung dieses Alltäglichen im Wandel der Zeit ist es, das die „Banalität des Bösen“, wie die amerikanische Publizistin Hannah Arendt es im Jahr 1963 als Beobachterin des Eichmann-Prozesses formulierte, sowie die für den einzelnen Menschen schleichende, anfangs noch unauffällige Veränderung des Alltags besonders deutlich zum Ausdruck bringt. In seinem lesenswerten Roman verzichtet Arno Frank auf einseitige Schuldzuweisungen. Stattdessen zeigt er das sehr differenzierte Bild einer Gesellschaft, die sich schrittweise an den Nationalsozialismus gewöhnt.

Veröffentlicht am 16.03.2025

Tragisch-romantischer Klassiker, erstmals auf Deutsch

Mathilda
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REZENSION – Während wohl jeder schon von „Frankenstein“ zumindest gehört hat, dem 1818 erstveröffentlichten und berühmtesten Schauerroman der Literaturgeschichte, kennen weit weniger den Namen seiner britischen ...

REZENSION – Während wohl jeder schon von „Frankenstein“ zumindest gehört hat, dem 1818 erstveröffentlichten und berühmtesten Schauerroman der Literaturgeschichte, kennen weit weniger den Namen seiner britischen Autorin Mary Shelley (1797 bis 1851). Sie stand zeitlebens im Schatten ihres früh verstorbenen, aber viel bekannteren Ehemanns, des Dichters Percy Bysshe Shelley (1792 bis 1822), weshalb ihre später veröffentlichten Werke heute kaum bekannt sind. Umso lobenswerter ist das Wagnis, das der Bielefelder Pendragon Verlag jetzt im Februar ausgerechnet mit Veröffentlichung der deutschsprachigen Erstausgabe ihres bereits 1819, also vor über 200 Jahren verfassten, damals aber nicht veröffentlichten zweiten Romans „Mathilda“ eingegangen ist.
Ihr Manuskript hatte die 27-jährige Mary Shelley aus Italien, wo sie mit Ehemann Percy lebte, nach England an ihren Vater, den Sozialphilosophen und Autor William Godwin (1756 bis 1836), zur Veröffentlichung geschickt. Diesem schien der Text, der von einer inzestuösen Beziehung zwischen Vater und Tochter handelte, aber zu brisant, weshalb er aus Furcht vor einem Skandal von der Veröffentlichung absah. Seitdem galt das „Mathilda“-Manuskript als verschollen. Erst der amerikanischen Herausgeberin Elizabeth Nitchie gelang es, in dem auf verschiedene Archiven und Bibliotheken verteilten Nachlass der Shelleys aus Notizbüchern und einzelnen handgeschriebenen Seiten mit Korrekturen und Ergänzungen den vollständigen Kurzroman wieder zusammenzustellen und 1959 erstmals im englischen Original zu veröffentlichen.
In der als Abschiedsbrief geschriebenen Novelle erzählt die 20-jährige Mathilda ihre kurze Lebens- und Leidensgeschichte: Nach dem Tod ihrer im Kindbett verstorbenen Mutter, flieht ihr von Trauer übermannter Vater aus dem Haus und lässt die Neugeborene bei der Tante zurück, wo Mathilda auf dem Land einsam und ohne liebevolle Zuwendung aufwächst. Als der Vater nach 16 Jahren aus seinem selbst gewählten Exil unerwartet zurückkehrt und seine Tochter zu sich nimmt, hofft sie auf die jahrelang vermisste väterliche Liebe und ein glückliches Leben an der Seite des Vaters. Doch seine Liebe zur 16-Jährigen, die in Schönheit und Anmut ihrer verstorbenen Mutter gleicht, entwickelt sich zu einem intensiven, zwischen Vater und Tochter ungehörigen Verhältnis, das den Vater bald verzweifeln und sich aus Angst und Scham darüber von seiner Tochter abwenden lässt. Diese erneute Ablehnung des geliebten Vaters verletzt Mathilda seelisch zutiefst und treibt sie fast bis in den Wahnsinn.
Diese Geschichte einer zu intensiven Vater-Tochter-Beziehung mag die heutige Leserschaft vielleicht nicht gleichermaßen erschüttern wie jene um 1820, zumal in der Novelle nur von einer allzu obsessiven Liebesbeziehung die Rede ist, nicht aber von sexueller Intimität oder gar sexuellem Übergriff des Vaters. Doch die Weigerung von Mary Shelleys Vater, diesen Text zu veröffentlichen, mag auch darin begründet sein, dass es in den Protagonisten gewisse Parallelen zur eigenen Familie gibt, wie US-Herausgeberin Elizabeth Nitchie vermutet: So hat sich die Autorin wohl selbst in der Figur der in tiefe Depression fallenden Mathilda gesehen: Im September 1818 starb Shelleys Tochter Clara, im Juni 1819 ihr Sohn William. In Mathildas Vater wird sich Shelleys Vater William Goodwin erkannt haben, hatte er doch seine Frau Mary Wollstonecraft (1759 bis 1797) ebenfalls nach Marys Geburt im Kindbett verloren. Zuletzt trifft die trauernde Mathilda auf den jungen empfindsamen Poeten Woodville, der in gewisser Weise Marys Ehemann Percy Bysshe Shelley gleicht.
„Mathilda“ ist eine melancholisch-poetische, tragisch-romantische und sehr intim erzählte, stilistisch ihrer Entstehungszeit entsprechende Novelle, in der es um Obsession, Depression, seelische Zerrüttung und verlorenen Lebenssinn und Lebenswillen geht. Die Geschichte ist ausgesprochen düster, allerdings im Gegensatz zu Shelleys Debüt „Frankenstein“ kein Schauerroman, sondern eine dramatische und psychologisch tiefgreifende Erzählung über die Abgründe der menschlichen Seele.
Manchen heutigen Leser mag die übertriebene Melodramatik und das exzessive Selbstmitleid Mathildas vielleicht stören, zumal dadurch verursachte Längen die Handlungsdynamik lähmen. Auch ist das Ende dieser tragischen Geschichte keine Überraschung, da Mathildas Anlass, ihrem in gemeinsamer Trauer freundschaftlich verbundenen Dichter Woodville diesen Abschiedsbrief zu schreiben, ihr baldiger Tod ist. „Ich weiß nicht, ob irgendjemand diese Seiten lesen wird außer Ihnen, mein Freund, der sie nach meinem Tod empfangen wird. Ich richte sie nicht an Sie allein … Daher werde ich meine Geschichte so erzählen, als wäre sie an einen Fremden gerichtet.“ Mehr als 200 Jahre lang wurde dieser zweite Roman Mary Shelleys uns deutschen Lesern vorenthalten. Allein dies sollte doch Grund genug für literarische Neugier und Anlass sein, das Versäumte jetzt endlich nachzuholen.

Veröffentlicht am 03.03.2025

Anspruchsvolle Familiensaga, auch spannend

Das Wunder von Paradise Deep
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REZENSION - Über zwei Jahrhunderte und fünf Generationen erstreckt sich die im Februar beim Mitteldeutschen Verlag veröffentlichte Familiensaga „Das Wunder von Paradise Deep“ des auf Neufundland geborenen ...

REZENSION - Über zwei Jahrhunderte und fünf Generationen erstreckt sich die im Februar beim Mitteldeutschen Verlag veröffentlichte Familiensaga „Das Wunder von Paradise Deep“ des auf Neufundland geborenen und heute wieder dort lebenden kanadischen Schriftstellers Michael Crummey (59). Die ungewöhnliche und inhaltsreiche Geschichte beginnt mit den ersten Einwohnern einer abgeschiedenen neufundländischen Fischersiedlung namens Paradise Deep zu einer Zeit, als Neufundland noch zum britischen Empire gehörte. Wie schon in Crummeys früheren Romanen handelt auch diese Erzählung in einer ungewöhnlichen Mischung aus Magie, Mythen und historischer Realität von der Entwicklung der Arbeits- und Umwelt und der Veränderung des gesellschaftlichen Lebens im Wandel der Zeit. Der Roman behandelt Themen wie die Härte des Überlebens in unwirtlicher Landschaft, den Konflikt zwischen Christentum und Aberglauben sowie die noch anhaltende Bedeutung von Mythen für damalige Menschen. Zugleich geht es aber auch um zeitlose Fragen wie Herkunft und Identität.
Alles beginnt mit einem mysteriösen Ereignis: Ein stummer, nach Fisch stinkender, „erstaunlich lebendiger“ bleichhäutiger Mann wird aus dem Bauch eines an der Küste gestrandeten Wals geschnitten. Zunächst wollen die Fischer ihn aus Furcht vor drohendem Unheil töten. Doch dann nimmt ihn die Familie Devine auf und gibt ihm den Namen Judah. Dem alten Aberglauben noch verhaftet, sind sich die Einwohner unsicher, ob der Fremde Mensch oder Tier ist, ob er ihrer Siedlung Segen oder Fluch bringen wird. In jedem Fall verändert sich durch Judahs Anwesenheit das Leben im Dorf: Blieben gerade die Fischschwärme aus, kehren sie nun auf einmal in die Bucht von Paradise Deep zurück und bringen der Siedlung einigen Wohlstand. Doch Judah verändert nicht nur das damalige Dorfleben, dessen Einwohnerschaft sich aus recht skurrilen Charakteren zusammensetzt, sondern verstrickt die beiden führenden Familien der als Hexe verdächtigten Witwe Devine und des wohlhabenden Händlers King-me Sellers über Generationen hinweg in eine wechselhafte Geschichte aus Liebe und Rache, Aberglauben und Traditionen. Mary Tryphena, Enkelin der beiden und Hauptfigur des Romans, ist noch ein Kind, als Judah an Land gespült wird, bleibt aber ihr Leben lang auf ungeahnte Weise mit ihm verbunden.
Crummey beschreibt in seinem Roman eine Welt, in der das Übernatürliche, die Mythen aus alter Zeit sowie die christliche Religion – wobei in dieser Einöde kaum zwischen Protestantismus und Katholizismus unterschieden wird – mit dem alltäglichen Leben verbunden sind, wie gleich zu Beginn das biblisch anmutende Erscheinen Judahs zeigt. Die Protagonisten, deren Schicksale über alle Zeiten miteinander verbunden bleiben, sind weder Helden noch Schurken. Jeder für sich ist eine sehr komplexe Persönlichkeit mit allzu menschlichen Fehlern, Leidenschaften und Geheimnissen. Wir erfahren viel über das entbehrungsreiche Leben der Fischer und Händler in dieser kargen Abgeschiedenheit, aber auch – trotz mancher persönlicher Fehden – über deren unbedingten Zusammenhalt.
Crummeys Erzählung ist voller mystischer Bilder und atmosphärisch dicht, wodurch der Roman durchaus spannend ist. Andererseits nimmt sich der Autor anfangs sehr viel Zeit für den Aufbau seiner Geschichte, was für manche Leser, die aktionsreiche Handlung bevorzugen, zu langatmig erscheinen mag. Überhaupt ist „Das Wunder von Paradise Deep“ bei aller Faszination eine schwierige Lektüre, die man deshalb möglichst selten unterbrechen sollte, um Handlungsfäden und Personen im Gedächtnis zu behalten. Gerade die Vielzahl an Personen zwingt einen oft, einen Blick auf die dem Roman vorgeschaltete Stammtafel zu werfen, um die Figuren auseinanderhalten oder zuordnen zu können. Ein weiterer Punkt der Erschwernis beim Lesen sind plötzliche Rückblenden mitten im Kapitel.
Doch wenn man bereit ist, sich auf die ungewöhnliche Mischung aus Mystik und Realität der Geschichte einzulassen und trotz anfangs vielleicht noch Störendem in der Lektüre durchzuhalten, wird feststellen, dass „Das Wunder von Paradise Deep“ ein durchaus faszinierender, stellenweise spannender, in jedem Fall bilderreicher, überaus atmosphärischer und fast poetisch erzählter Roman ist. Manche vergleichen Crummeys neuen Roman sogar mit Werken des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez oder der chilenisch-amerikanischen Bestseller-Autorin Isabel Allende.