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Veröffentlicht am 23.04.2022

Hitorisch interessanter, spannender und temporeicher Politthriller

Red Traitor
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REZENSION – Noch nie war seit den Jahren der militärischen Abrüstung und des Friedens in Europa die Angst vor einem russischen Atomschlag so groß wie gerade jetzt im Ukraine-Krieg. Dadurch bekommt der ...

REZENSION – Noch nie war seit den Jahren der militärischen Abrüstung und des Friedens in Europa die Angst vor einem russischen Atomschlag so groß wie gerade jetzt im Ukraine-Krieg. Dadurch bekommt der bereits im Juli 2021 in Großbritannien und schon im Januar beim Lübbe Verlag veröffentlichte Spionage-Thriller „Red Traitor“ des britischen Schriftstellers Owen Matthews (51) eine unerwartete Aktualität. Denn auch dieser zweite Band der spannenden Politthrillerreihe um Alexander Wassin, Top-Agentenjäger des sowjetischen Geheimdienstes KGB zu Beginn der 1960er Jahre, handelt von der Angst vor einem Atomschlag der Sowjets und einem dritten Weltkrieg.
Der Roman behandelt die Kuba-Krise im Oktober 1962: Die Sowjets hatten auf Kuba, also in unmittelbarer Nähe der USA, atomar bestückte Mittelstreckenraketen stationiert. Die Streitkräfte der Nato, also auch die deutsche Bundeswehr, wurde in Alarmbereitschaft versetzt. Es fehlte nicht viel zum dritten Weltkrieg. In dieser heißen Phase setzt der Agententhriller „Red Traitor“ ein: KGB-Mann Alexander Wassin jagt einen hochrangigen Verräter in den eigenen Reihen. Bald hängt das Schicksal der Welt vom Erfolg seiner Mission ab - und von der Geduld und Umsicht des Befehlshabers einer sowjetischen U-Boot-Flotte, die ohne Kontakt zu Moskau dem Befehl folgt, die von den USA erlassene Seeblockade vor Kuba zu durchbrechen. Alle fünf Kapitäne haben zudem den Geheimbefehl, bei einem Angriff der USA ihre Atomraketen an Bord abzufeuern, deren Vorhandensein an Bord dieser U-Boot-Klasse den Vereinigten Staaten nicht bekannt ist.
Nicht nur die Kuba-Krise bildet den real-historischen Hintergrund dieses extrem spannenden Thrillers. Autor Owen Matthews, der selbst in den Jahren 2006 bis 2012 das Moskauer Auslandsbüro des US-Nachrichtenmagazins The Newsweek leitete, nutzte als versierter Journalist und Historiker auch inzwischen freigegebene Originalquellen beider Weltmächte, allen voran die 1965 in London veröffentlichten „Penkowski Papers“ von Oleg Penkowski (1919-1963), damals Oberst im sowjetischen Militärnachrichtendienst GRU. Als Doppelagent spionierte er sowohl für den britischen MI6 als auch für die amerikanische CIA, wurde am 22. Oktober 1962 vom KGB verhaftet und am 16. Mai 1963 wegen Landesverrats hingerichtet. Penkowskis Alter Ego im Roman ist eben jener hochrangige Verräter, den Agentenjäger Alexander Wassin zu entlarven sucht. Doch auch die meisten anderen Figuren des Romans – teils mit echten Namen genannt, teils mit Pseudonym – haben reale Personen als Vorbilder. Auch ihr von Owen Matthews im Roman geschildertes Handeln und Denken basiert auf Aussagen in Originalquellen und teilweise in eigenen Autobiografien. Die Verwendung dieses umfangreichen, in langer Liste dem Roman angehängten Quellenmaterials verarbeitet Owen Matthews in seinem Roman so perfekt, dass man sich als Leser schwer tut, Fiktionales von Realem zu unterscheiden.
Damals, im Oktober 1962, waren nicht nur Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy zur Umsicht gefordert, sondern vor allem der Befehlshaber der fünf sowjetischen U-Boote: Wassili A. Archipow (1926-1998), Stabschef der 69. U-Boot-Brigade der Nordmeerflotte, verweigerte am 27. Oktober 1962 seine Zustimmung zum Abschuss eines Atomtorpedos und verhinderte dadurch wahrscheinlich den dritten Weltkrieg, was erst 40 Jahre später öffentlich bekannt wurde. Heute ist ein Raum im Hauptquartier der CIA in Langley (Virginia) nach ihm benannt.
Der Politthriller „Red Traitor“ ist nicht nur ein historisch interessanter, spannungsgeladener und temporeicher Roman, den man ungern aus der Hand legt und der zur weiteren Beschäftigung mit der kuba-Krise anregt. Das Besondere ist auch, dass dieser Roman fast ausschließlich das Handeln und Denken der sowjetischen Seite beschreibt. „Red Traitor“ ist auch eine Würdigung des sowjetischen Marineoffiziers Archipow, vor allem aber die dringende Mahnung zu umsichtigen politischen Handeln – nicht nur jetzt, aber gerade jetzt in der aktuellen Kriegsphase in Europa und der russischen Drohung eines möglichen Atomwaffen-Einsatzes.

Veröffentlicht am 08.04.2022

Trügerische Idylle in Holstein

Habichtland
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REZENSION – Mit seinem Roman „Kronsnest“ gelang Florian Knöppler (56) im vergangenen Jahr ein eindrucksvolles und viel beachtetes Debüt über das dörfliche Leben in der holsteinischen Elbmarsch in den 1920er ...

REZENSION – Mit seinem Roman „Kronsnest“ gelang Florian Knöppler (56) im vergangenen Jahr ein eindrucksvolles und viel beachtetes Debüt über das dörfliche Leben in der holsteinischen Elbmarsch in den 1920er Jahren zur Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus. Mit einem Zeitsprung ins Jahr 1941 setzt er nun in „Habichtland“, im Februar beim Pendragon Verlag erschienen, seine Erzählung um den inzwischen erwachsenen Kleinbauern Hannes, Ehefrau Lisa, seine Freundin Mara von Heesen und Stiefvater Walter fort. Obwohl die Protagonisten dieselben sind, hat sich nach 15 Jahren nicht zuletzt durch Umwälzung der politischen Gegebenheiten ihr Leben verändert, weshalb „Habichtland“ nicht zwingend als Fortsetzung, sondern durchaus als eigenständiger Roman mit anderem Themenschwerpunkt gelesen werden kann.
In „Habichtland“ lässt Knöppler seine Hauptpersonen nach „Möglichkeiten von Glück und Moral in einer Diktatur“ suchen. Hannes und Lisa gehen dabei gegensätzliche Wege: Der sensible, in sich gekehrte und wortkarge Kleinbauer Hannes sucht in Zeiten des Krieges und des Nazi-Regimes vor allem Ruhe und Frieden und schottet sich gegen alles Störende und Zerstörende ab. Bald fühlt er sich auf seinem ärmlichen Hof, der für ihn und seine Familie eine „Insel des Glücks“ bleiben und Sicherheit bieten sollte, wie ein gefangener Panther im Gitterkäfig. Es sind diese Verse des Gedichts „Der Panther“ des Lyrikers Rainer Maria Rilke, die sein Gefühl besser beschreiben, als Hannes es selbst ausdrücken könnte: „Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.“
Statt mit seiner Frau offen über seine Gefühle zu sprechen, die ihm durch ihr Handeln und Schweigen fremd geworden ist, gibt er ihr nur dieses Gedicht zu lesen. Denn auch Lisa ist in ihrer eigenen, wenn zunächst anderen Welt gefangen, um dem „ganzen Irrsinn da draußen“ zu entgehen. Sie kann nicht wie ihr Mann tatenlos wegschauen. Sie muss gegen die Nazis aktiv werden und schließt sich, anfangs ohne Wissen ihres Mannes, einer kommunistischen Untergrundzelle an. Damit bringt sie ihn und ihre Kinder in Gefahr. Ist aktiver Widerstand gegen das Regime ohne Rücksicht auf die Gefahr für die eigene Familie moralisch verantwortungsvoller als Hannes' Untätigkeit und Abschottung? Der Autor lässt diese Frage unbeantwortet. Wir Leser müssen sie für uns selbst entscheiden.
Wie schon „Kronsnest“ besticht auch „Habichtland“ durch atmosphärisch und in Einzelheiten gehende Schilderungen des dörflichen Lebens und der Bewohner der Elbmarsch. Sie scheinen nicht fiktiv zu sein, sondern lebende Vorbilder zu haben. Man spürt deutlich: Der Autor kennt diese Landschaft, kennt diese Menschen mit ihren Eigenarten und ihrer Sprache. Man hört das Vogelgezwitscher, sieht den Habicht auf sein Opfer hinabstürzen und riecht förmlich den Mist im Stall und die Jauche im Hof. Kein Wunder, lebt Knöppler doch selbst seit einigen Jahren in dieser holsteinischen Region um Elmshorn und bewirtschaftet dort seinen eigenen Hof. Seine klare, schnörkellose und unaufgeregte Erzählweise macht seinen Roman realistischer und dadurch noch wirkungsvoller. Wo andere viele Worte verlieren, reichen den Holsteinern zwei oder drei, Sätze sind abgehackt, kein Wort zu viel: „Und jetzt?“ „Verbuddeln.“ „Wann und wohin mit ihm?“ „Heut Nacht? In den Außendeich?“
Wie schon „Kronsnest“ ist auch „Habichtland“ trotz scheinbarer ländlicher Idylle wahrlich kein historischer Heimatroman, sondern gleicht eher einem Psycho-Roman, so tief dringen wir in die Seelen seiner Protagonisten ein. Knöppler hat sich mit seinen Figuren ein eigene kleine Welt um Hannes, Lisa und ihr Dorf geschaffen – eine Welt, die einem ans Herz geht. Wer „Kronsnest“ kennt, muss „Habichtland“ lesen. Wer den ersten Band noch nicht kennt, sollte beide kaufen!

Veröffentlicht am 12.03.2022

Bedrückend und beängstigend

Never - Die letzte Entscheidung
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REZENSION - Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs ist die Lektüre des bereits im November im Bastei Lübbe Verlag erschienenen und ein Jahr zuvor verfassten Romans „Never. Die letzte Entscheidung“ von ...

REZENSION - Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs ist die Lektüre des bereits im November im Bastei Lübbe Verlag erschienenen und ein Jahr zuvor verfassten Romans „Never. Die letzte Entscheidung“ von Ken Follett (72) plötzlich nicht nur erschreckend aktuell, sondern ungemein bedrückend und beängstigend, obwohl dessen Schauplätze ganz andere sind. Der britische Bestseller-Autor schildert anschaulich und äußerst spannend, wie viele kleine politische Krisen, verursacht durch unüberlegtes, selbstherrliches und machtbesessenes Handeln von Diktatoren und Autokraten, sich langsam summieren, durch politische Aktion und Reaktion schrittweise eskalieren und schließlich in eine globale Apokalypse münden.
„Deeskalation gehörte für gewöhnlich nicht zum Vokabular eines Tyrannen. Das ließ ihn nur schwach aussehen“, heißt es im Roman, den Follett in der Sahara beginnen lässt. Dort verfolgen die amerikanische Geheimdienstagentin Tamara und ihr französischer Kollege Tab an der Grenze zwischen dem von Ägypten unterstützten Sudan und dem Tschad, der von Frankreich gestützt wird, die Spur von Drogenschmugglern. Mit dem in Europa gemachten Drogengeld werden Terroristen einer zentralafrikanischen IS-Gruppe finanziert. Eines Tages wird am Grenzübergang von sudanesischer Seite aus ein US-Wachsoldat im Tschad erschossen. Die Amerikaner sind alarmiert, der Diktator des Tschad versteht dies als Angriff des Sudan und rächt sich mit einem militärischen Überfall. Ein weiterer Schauplatz ist China und dessen Verbündeter Nordkorea mit Diktator Kang. In China muss sich der junge Vizeminister Chang Kai mit kommunistischen Hardlinern auseinandersetzen. Auf der anderen Seite steht das mit den Amerikanern verbündete Südkorea, seit Jahrzehnten in ständiger Spannung mit Nordkorea lebend. In den USA versucht Präsidentin Pauline Green trotz Zunahme internationaler Spannungen, einen Krieg zu verhindern. Doch ein aggressiver Akt zieht den nächsten nach sich. Sie steht vor der letzten Entscheidung.
Folletts Roman ist wie seine früheren Bestseller wieder spannend geschrieben. Nach seinen historischen Romanen ist ihm mit „Never“ der Schritt ins Zeitgenössische gelungen. Trotz der vieler Protagonisten und über den Globus verteilter Schauplätze gelingt es ihm, die Handlungsfäden zusammenzuhalten. Allerdings hätte der Roman um etliche Seiten gekürzt werden können, ohne an Dramatik und Spannung zu verlieren. Andererseits lässt vielleicht gerade diese Ausführlichkeit die fast nebensächlich erscheinenden kleinen Schritte spürbar werden, die unmerklich in die Apokalypse führen.
„Jede Katastrophe beginnt mit einem kleinen Problem, das nicht gelöst wird“, weiß im Roman die US-Präsidentin, deren Ehe aus genau gleichem Grund dem Ende entgegen geht. Im Roman ist der von der übrigen Welt unbeachtete Tod eines US-Soldaten im Tschad ein solches „kleines Problem“. Dennoch stehen sich am Ende aufgrund der engen Verstrickungen unserer globalisierten Welt die Atommächte USA und China als Kriegsgegner gegenüber. Jetzt ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Einsatz von Atomwaffen. „Wir alle wissen, dass ein dritter Weltkrieg im Bereich des Möglichen liegt“, wird Ken Follett in einem Interview zum Roman zitiert. „Wir alle hoffen, dass er nie stattfinden wird, aber 'nie' ist nur ein Wort. Ich habe immer wieder gedacht, dass das wirklich passieren könnte - aber wann?“
Im Januar dieses Jahres erklärten die fünf Atommächte im UN-Sicherheitsrat - USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien – noch in einer gemeinsamen Erklärung: „Ein Atomkrieg darf niemals geführt werden.“ Nur wenige Wochen später erhöhte Staatspräsident Wladimir Putin während des Ukraine-Kriegs die russische Atom-Alarmbereitschaft, womit er in der westlichen Öffentlichkeit Angst schürte. So lässt Ken Follets Roman „Never“ gerade jetzt seine Leser besonders nachdenklich zurück.

Veröffentlicht am 23.02.2022

Bei Schmidt wird Wilhelm Tell lebendig

Tell
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REZENSION – Spätestens seit seinem vielgerühmten vierten Roman „Kalman“ (2020) weiß man, dass der seit 2007 in Island lebende Schweizer Schriftsteller Joachim B. Schmidt (41) sich in der Charakterisierung ...

REZENSION – Spätestens seit seinem vielgerühmten vierten Roman „Kalman“ (2020) weiß man, dass der seit 2007 in Island lebende Schweizer Schriftsteller Joachim B. Schmidt (41) sich in der Charakterisierung ungewöhnlicher, skurriler Figuren versteht. Äußerst ungewöhnlich ist auch der Protagonist seines neuen Romans „Tell“, im Februar beim Diogenes Verlag erschienen, in dem Schmidt es wagt, den Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell von seinem Sockel zu holen und ihn in einer spannenden Handlung statt eines heldenhaften Widerstandskämpfers gegen den Habsburger Landvogt als einen einfachen, recht eigenbrötlerischen, schon in Kinderjahren vom Schicksal geprägten Bergbauern, Wilderer und Querulanten im Kanton Uri zu schildern. Schmidts Tell ist wahrlich kein legendärer Held, sondern ganz im Gegenteil ein Antiheld, der eigentlich nur seine Ruhe und für sich und die Familie ausreichend zu essen haben will.
Nun weiß man natürlich, dass Wilhelm Tell nur eine fiktive Figur ist, dessen im Jahr 1307 zur Zeit der Schweizer Habsburgerkriege verortete Geschichte vom Apfelschuss erstmals 1472 niedergeschrieben wurde. Das Motiv des Apfelschusses wurde sogar schon hundert Jahre vor Tell zu Beginn des 13. Jahrhunderts in der „Geschichte der Dänen“ von Saxo Grammaticus erwähnt. Dort ist es der prahlerische Schütze Toko, der einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schießen muss. Doch Schmidt lässt uns diese Fakten in seinem in 100 kurzen Kapiteln von 20 Personen temporeich erzählten Roman schnell vergessen und schafft es spielend, uns an eine tatsächliche Existenz Tells glauben zu lassen.
Analog zum dänischen Apfelschützen Toko, dessen Name sprachwissenschaftlich als „alberner Mann“ gedeutet wird, folgt Autor Schmidt in der Charakterisierung seines Protagonisten Tell auch dessen sprachwissenschaftlicher Bedeutung als „einfältigen Mann“ und charakterisiert Wilhelm Tell als wortkargen bis mürrischen, sturen und nur unwillig als Bergbauer weit abseits von Altdorf Vierwaldstättersee) am Fuß der Voralpen lebenden Kleinbauern. Dort lebt er in seiner Hütte in eheähnlichem Verhältnis mit der Witwe seines verunglückten jüngeren Bruders Peter, den drei Kindern Walter, Willi und Kleinkind Lotta sowie Mutter und Schwiegermutter. Tell hat sich schon in der Jugend von seinen Mitmenschen abgewandt, lässt jedes Mitgefühl anderen gegenüber, auch seiner eigenen Familie gegenüber, vermissen. Als er aus Gründen der Not eine Kuh auf dem Markt in Altdorf verkaufen will, versäumt er es, den auf dem Marktplatz auf einer Stange aufgestellten Hut des habsburgischen Landvogts Gessler untertänig zu grüßen – nicht etwa aus politischem Widerstand, sondern weil er einfach nicht auf den Hut geachtet und nichts von der Grußpflicht gewusst hatte. Der zufällig mit seinem brutalen Truppführer Harras anwesende Landvogt befiehlt ihm zur Strafe, mit der Armbrust aus weiter Entfernung einen Apfel vom Kopf seines Sohnes Walter zu schießen. Dies gelingt Tell zwar, dennoch wird er gefangen genommen, kann sich aber später selbst befreien und sich rächen.
Es ist nicht nur die episodenhafte, bis in kleinste Einzelheit authentisch wirkende Handlung, die uns von Tells Angehörigen, Nachbarn sowie von seinem Jugendfreund und Pfarrer Tauffer erzählt wird, oder die beeindruckende Charakterisierung jeder einzelnen Figur, die uns an ihrer Welt und ihrem erbärmlichen Leben teilhaben lassen, was uns an eine tatsächliche Existenz des erst durch Schillers Drama (1804) zum Nationalhelden gewordenen Wilhelm Tell glauben lässt. Sondern Schmidt verbindet seine Geschichte im Epilog auch geschickt mit Fakten: So wird Tells Tochter Lotta, inzwischen selbst schon Großmutter, vom Obwaldner Landschreiber Hans Schriber aufgesucht, um mehr über Tell zu erfahren. Tatsächlich ist diesem Landschreiber und Dichter – wenn auch erst 100 Jahre später – die erste, 1472 veröffentlichte Niederschrift der Tell'schen Geschichte zu verdanken. Lotta täuscht zudem in diesem Gespräch mit Schriber vor, nicht auf dem Tell-Hof, sondern auf dem Tschudi-Hof zu leben, da sie die Witwe des Theodor Tschudi sei. Auch dieser Name ist bezeichnend, war es doch der spätere Chronist Aegidius Tschudi, der in seinem um 1550 verfassten Werk „Chronicon Helveticum“ die bis heute gültige Version der Tell-Sage erzählt.
So verleitet Schmidts Roman „Tell“ unwillkürlich zur weiteren Beschäftigung mit dem Schweizer Nationalhelden. Man sollte „Tell“ sogar zur Schullektüre machen: Wer sich bei Schillers Drama langweilt, findet sicher in dieser Erzählung um den Antihelden Wilhelm Tell den nötigen Anreiz, sich literarisch mit dieser Sagengestalt und historisch mit der Geschichte der Schweiz auseinanderzusetzen. Denn auch für junge Leser, die noch nie von Wilhelm Tell gehört haben, liest sich Schmidts Roman überaus spannend.

Veröffentlicht am 11.02.2022

Lesenswerter Debütroman über den Umgang mit Erinnerungen

Morandus
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REZENSION – Mit seinem Roman „Morandus“, bereits 2021 in der Edition Faust erschienen, ist dem Autor Matthias Zimmer (60), der sich als Politikwissenschaftler, Hochschullehrer und langjähriger Bundestagsabgeordneter ...

REZENSION – Mit seinem Roman „Morandus“, bereits 2021 in der Edition Faust erschienen, ist dem Autor Matthias Zimmer (60), der sich als Politikwissenschaftler, Hochschullehrer und langjähriger Bundestagsabgeordneter bislang auf politische Sachbücher beschränkt hatte, ein beeindruckendes erzählerisches Debüt gelungen. Dieses für ihn riskante Wagnis ging er nach eigener Aussage deshalb ein, „dass man manche Dinge erzählen muss, weil sie für eine wissenschaftliche Arbeit zu kompliziert sind“. Das Risiko hat sich gelohnt: Sein Roman, hauptsächlich die Schilderung eines Gesprächs zweier alt gewordener Freunde, gleicht einem ruhigen Kammerspiel. Doch obwohl die Handlung ohne Dramatik auskommt, baut sich in diesem klugen Gespräch und somit im Roman eine Spannung auf, die fasziniert und eine Unterbrechung der Lektüre fast verbietet.
Protagonist des Romans ist der 60-jährige deutsche Bauunternehmer Ernst Fuchs, der wenige Jahre nach Kriegsende aus dem heimatlichen Harz nach Kanada ausgewandert ist, um ein „neues Leben“ anzufangen. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie seines langjährigen Freundes Landau, der als Jude frühzeitig seine Heimatstadt Wien verlassen musste, erzählt Funk aus seinen Kinder- und Jugendjahren, über seinen vom Nationalsozialismus begeisterten Vater und seine katholische Mutter, seine nach anfänglicher Jungvolk-Begeisterung aufkommenden Zweifel, hervorgerufen durch seinen aus dem Elsass stammenden Priester Birrenbach, der Funk nach dem Heiligen seines Geburtstages „Morandus“ nennt und den Gymnasiasten in die französische Literatur und Sprache einführt. Als der 14-Jährige in den Sommerferien Birrenbachs französische Nichte Michelle kennenlernt und sich zwei Jahre später in sie verliebt, erkennt er den Unsinn der Nazi-Propaganda über den angeblichen Erzfeind Frankreich. Mit diesen Zweifeln wird Funk als 19-jähriger Abiturient zum Kriegsdienst eingezogen und in der Normandie, Michelles Heimat, eingesetzt, wo er sich häufig mit ihr trifft.
„Ob man vor seiner Vergangenheit fliehen kann? Konnte man ein anderer werden, sich neu definieren? Alles beiseite räumen und von vorne anfangen?“ Für Autor Matthias Zimmer ist Funks Auswanderung nach Kanada eine Flucht vor sich selbst, eine Verdrängung des Erlebten: „Es lebt sich einfacher in einer Lüge. Es lebt sich einfacher in Täuschung und Verdrängung.“ So scheint Funks Leben in Jugendjahren recht problemlos verlaufen zu sein, wie wir anfangs aus seinem Bericht hören. Erst später, nach intensiver Beschäftigung mit seinen Erinnerungen, kommt er zur Erkenntnis: „Ich muss mich auch diesem Teil meiner Geschichte stellen, sonst bleibt sie unvollständig.“ Jetzt erzählt Funk endlich, was er verdrängen und vergessen wollte, als könne er es dadurch ungeschehen machen. Auch Funks Freund Landau stellt als Historiker fest: „Ich bin meine Vergangenheit. Ich bestehe in und aus meiner Erinnerung.“ Erst nachdem Funk seine Erinnerungen akzeptiert, seine Vergangenheit im Gespräch mit Landau verarbeitet hat, ist es ihm möglich, noch einmal nach Deutschland und Frankreich zu reisen, um die Orte früheren Geschehens zu besuchen und seine Vergangenheit abzuschließen.
„Morandus“ ist ein lebendig und stilistisch hervorragend geschriebener, in gewisser Weise spannender Roman, der sich leicht lesen lässt. Dennoch behandelt das Buch ein ernstes Thema, das nicht ohne Grund vor allem die Jugend in den 1960er und 1970er Jahren zu teils heftigen Auseinandersetzungen mit Vätern und Großvätern trieb: Wo warst du damals? Hast du dich schuldig gemacht? Viele Väter haben damals geschwiegen – aus Scham, aus Verzweiflung, aus Hilfslosigkeit, um zu verdrängen, zu vergessen.
Autor Matthias Zimmer gelingt es mit seinem lesenswerten Romandebüt, diese nur scheinbar veralteten, doch für jeden Menschen wichtige Frage nach dem Umgang mit der eigenen Vergangenheit im Gespräch zweier alter Freunde auf beeindruckende Weise zeitgemäß und empathisch zu behandeln – mit der stets gültigen Erkenntnis: „Die Vergangenheit vergeht nicht. Sie bleibt des Menschen Wegbegleiter, manchmal auch sein Fluch.“ Aufgelockert wird das ernste Thema des Romans durch die einfühlsame Geschichte einer einst durch Krieg tragisch unvollendeten Liebe, die fast vier Jahrzehnte später auf überraschende Weise doch noch eine romantische und glückliche Wendung erfährt. Erst jetzt ist Ernst Funk mit sich im Reinen und kann wirklich ein neues Leben beginnen.