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Veröffentlicht am 19.05.2020

Ein mutiges Mädchen stellt sich dem Leben

Das wirkliche Leben
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Die geheime Macht der Beute …

Sehr schnell fällt auf, dass sämtliche Akteure außer Gilles, dem kleinen Bruder des erzählenden Mädchens, namenlos bleiben. Diese Tatsache passt sehr gut zu der Geschichte ...

Die geheime Macht der Beute …

Sehr schnell fällt auf, dass sämtliche Akteure außer Gilles, dem kleinen Bruder des erzählenden Mädchens, namenlos bleiben. Diese Tatsache passt sehr gut zu der Geschichte um ein liebloses Elternhaus, in dem die Mutter völlig untergeht und der Vater ein gewalttätiger, saufender Kerl sich mehr Gedanken um die nächste Jagd als um seine Familie macht. Um Gilles dreht sich das Leben der Ich-Erzählerin, die mit ihm in einer grauen Siedlung am Rande der Stadt und nahe des Waldes aufwächst. Ein traumatisches Erlebnis verändert das Leben der beiden Kinder schlagartig. Während der kleine Gilles in eine Art Schockstarre und Teilnahmslosigkeit fällt, schwört sich das Mädchen, das Lachen ihres Bruders und seine Lebensfreude mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, zurückzuholen. Dabei steht sie ganz alleine, auf sich selbst zurückgestoßen, denn ihre Mutter fristet als eine Art menschliche Amöbe ein trostloses Leben zwischen Haushalt, Prügel und ihren wenig abwechslungsreichen Kochkünsten. Der Leser/die Leserin könnte die Mutter fast vergessen, wäre da nicht ihre Liebe und Sorge um ihre Ziegen, die sie im Garten des Hauses hält. Dadurch erhält sie etwas Menschlichkeit, die jedoch verblasst, da sie ihren Kindern nicht nur Seite steht. Der Vater … er ist ein von der Jagd besessener, langweiliger, Whiskey trinkender und schlagender Mann, der sich nur durch seine Trophäen im s.g. Zimmer der Kadaver identifiziert. Die schulischen Erfolge seiner Tochter wertet er durch so Aussagen wie „Fantastisch. Wir haben eine Intelligenzbestie in der Familie.“ ab. Im Laufe der Jahre, die sich vor allem auf die Sommer konzentrieren, gewinnt der Vater immer mehr Einfluss auf seinen Sohn und das macht dem Mädchen Angst, bestärkt sie aber trotzdem in ihrem Vorhaben, Gilles und auch sich selbst zu retten. Stets schwebt die Frage „Wird ihr Plan gelingen und kann sie ihren Bruder retten?“ über den Zeilen.

Alleine wie die Autorin den Zustand von Gilles beschreibt, in dessen Kopf sich „Geschmeiß“ ausbreitet und nur ein „kleines, gallisches Dorf“ Widerstand gegen den Einfluss der Hyäne im Zimmer der Kadaver auflehnt, ist sensationell. Zitat von Seite 72: „Solange dieser Stamm am Leben blieb, war mein kleiner Bruder noch nicht ganz verloren.“ Ihre bildliche Sprache zog mich nicht nur in den Bann, so dass ich durch das Buch geradezu geflogen bin, sondern machte mich atemlos und hinterließ ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Ein ums andere Mal merkte ich meine körperliche Anspannung und mein Bangen mit dem Mädchen, in das ich mich so gut hineinversetzen konnte und mit dem ich mitfühlte und bangte bis zum Schluss des Romans. Das Heranwachsen des Mädchens zeigt sich auch im Erzählstil, der immer erwachsener und auch nüchterner wird. Während der Pubertät, als andere Mädchen sich immer mehr durch Äußerlichkeiten definieren, stellt sie Protagonistin fest: „In meinem genetischen Code waren Zurückhaltung und Anmut hingegen nicht angelegt, so viel stand fest.“ An ihrer Geschwisterliebe hält sie unverbrüchlich fest und geht dabei ihren ganz eigenen Weg.

Dieses Buch ist gnadenlos, hart, angsteinflößend, grausam, brutal, dabei poetisch, voller Mut und einem Funken Hoffnung und ganz viel Geschwisterliebe. Tierfreunde werden in diesem Buch auf eine harte Probe gestellt.

Bereits auf der ersten Seite hatte mich Adeline Dieudonné gepackt und in das Buch hineingezogen. „Bei uns zu Hause gab es vier Schlafzimmer. Meines. Das meines Bruders Gilles. Das meiner Eltern. Und das der Kadaver.“ Dieser erste Satz sagt so viel aus, lässt Schlimmes ahnen und zeigt, dass es sich hier keineswegs um einen Wohlfühlroman handelt. Im Laufe des Lesens habe ich einige Post-Ist ins Buch geklebt, da es so viele ergreifende Sätze enthält, dass ich sie am Liebsten alle aufzählen würde.

„Das wirkliche Leben“ ist nicht immer fair, schon gar nicht einfach und erfordert Opfer. Es ist schwer in Worte zu fassen, wie mich dieses Buch beeindruckt hat. Kein Wunder also, dass es er „Liebling der französischen Buchhändlerinnen“ genannt wird.

Ich kann das Zitat von Pierre Maury vom „Le Soir“ nur bestätigen: „Dieser Roman ist anders als alles, was sie bisher gelesen haben.“

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Veröffentlicht am 26.04.2020

Estella, eine Näherin in Paris und New York der 40er Jahre, lebt ihren großen Traum

Die Kleider der Frauen
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„Die Kleider der Frauen“ erzählt von der jungen, ehrgeizigen Näherin Estella, die in den 40er Jahren in Paris ihren Traum von einer eigenen Kollektion verfolgt. Es ist aber auch die Geschichte ihrer Enkelin ...

„Die Kleider der Frauen“ erzählt von der jungen, ehrgeizigen Näherin Estella, die in den 40er Jahren in Paris ihren Traum von einer eigenen Kollektion verfolgt. Es ist aber auch die Geschichte ihrer Enkelin Fabienne, die 2015 das Leben ihrer berühmten Großmutter erforscht und dabei ihrer eigentlichen Leidenschaft auf die Spur kommt.
Das Cover suggeriert die Pariser Lebensfreude und Leichtigkeit, was im Gegensatz zum Jahr 1940 steht und dennoch so gut zu Estellas Geschichte passt.
Auch wenn die beiden Frauen etliche Jahrzehnte trennen, so ist ihre Liebe zur Mode und zu tragbaren Kleidern für Frauen ein starkes Band, das sie miteinander verbindet und durchs Leben trägt.
Estellas Mutter Jeanne führt ein Doppelleben zwischen dem Nähen von Frauenkleidern, das gleichzeitig ihr Überleben und das ihrer Tochter sichert und dem Widerstand gegen die näher rückende Naziherrschaft. Mutter und Tochter bilden eine eingeschworene Gemeinschaft und trotz ihres großen Talents, verdient Estella Geld durch das Kopieren von Schnitten namhafter Designer. Doch sie träumt von einem eigenen Modeatelier und Kleidern, die das gewisse Etwas und ihre ganz persönliche Note tragen.
Vorausschauend schickt Jeanne ihre Tochter nach New York, nicht nur um dem Feind zu entgehen, sondern auch, um Estellas ehrgeizige Pläne voranzubringen. Estella findet in New York schnell zwei gute Freunde, Sam und Janie, die ihre Liebe zu Mode aus unterschiedlicher Sicht teilen. Doch sie begegnet auch dem geheimnisvollen Alex, der ihre Pläne zu durchkreuzen und sie und ihr Herz in Gefahr zu bringen droht.
2015:
Fabienne bekommt eine Anstellung als Kuratorin in einem Museum zur Geschichte der Mode. Ihr großer Traum scheint in Erfüllung zu gehen und dann trifft sie Will und seine kranke Schwester Melissa. Als ihre Großmutter Estella mehr und mehr dem Ende ihres Lebens entgegengeht, stößt Fabienne auf alte Geheimnisse aus deren Leben. Die vielen offenen Fragen zum Leben von Estella beherrschen zusehend ihr Leben und stellen ihre eigenen Wünsche in ein anderes Licht.
Das Augenmerk der Geschichte liegt auf Estella, ihrer Leidenschaft für Mode und Stoffe, ihrem Blick für Details und ihr anpackendes und liebenswertes Wesen. Der zweite Handlungsstrang über Fabienne, ihre Enkelin, droht manchmal unterzugehen. Doch ich fand ihre Geschichte ebenfalls sehr schön geschrieben und sie bildet letztlich eine Einheit mit Estellas Leben. Die Verbindung dieser beiden starken und authentischen Frauen ist in jeder Zeile zu spüren. Ihre Charaktere und ihr Leben werden von der Autorin mit Fingerspitzengefühl und Liebe beschrieben. Auch die historischen Ereignisse fügen sich gut in den Roman ein. Die Liebesgeschichten von Estella und Fabienne sind nicht raumfüllend, so dass ich stets den Werdegang von „Stella Design“ im Auge behalten konnte. Fabienne ist nicht weniger begabt als ihre Großmutter, jedoch schüchterner und nicht so von ihrem eigenen Talent überzeugt. Stets ist da ihre Angst, gegenüber dem enormen Talent ihrer Großmutter nicht bestehen zu können.
Natasha Lester ließ mich in die Welt der Mode und die Metropolen Paris und New York eintauchen. Mich hat Estellas Geschichte berührt und wunderbar unterhalten. Deshalb vergebe ich gerne 4 Sterne.

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Veröffentlicht am 15.04.2020

Eine Kindheit in Armut und Krieg - eine bewegende Geschichte

Palast der Miserablen
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In den Jahren des Irak-Iran-Krieges von 1980 bis 1988 erlebt Shams Hussein eine Kindheit in Armut, unter der Diktatur Saddams und der ständigen Angst vor Verfolgung und Inhaftierung. Seine Familie lebt ...

In den Jahren des Irak-Iran-Krieges von 1980 bis 1988 erlebt Shams Hussein eine Kindheit in Armut, unter der Diktatur Saddams und der ständigen Angst vor Verfolgung und Inhaftierung. Seine Familie lebt in einer kleinen Dorfgemeinschaft, ist arm und hält sich mehr schlecht als recht über Wasser. Die Angst vor Repressalien durch die Regierung lässt alle verstummen und sie ergeben sich in ihr Schicksal. Einzig Shams Großvater hat eine spitze Zunge und ein rabiates Wesen, was durchaus für die ganze Familie gefährlich werden könnte, denn hinter jedem Eck lauert Gefahr. Eines Tages zieht die Familie nach Saddam City, Bagdad, voller Hoffnung auf einen Neuanfang und ein besseres Leben. Doch diese Hoffnung mag sich nicht erfüllen, denn Shams lebt nun im s.g. Blechviertel, einem unwirtlichen Ort weit außerhalb der eigentlichen Stadt. Mit Reparaturen von Dingen, die Shams Vater auf der Müllhalde findet und teil umfunktioniert und der Betätigung von Shams Mutter als „Hellseherin“ schlagen sie sich durch. Shams findet schließlich Arbeit als Tütenverkäufer und entdeckt eines Tages Bücher im Gewimmel des Bazars – der Büchermarkt und ein kleiner Kreis an Literaturbegeisterte eröffnet Shams eine ganz neue Welt.
Shams Kindheit ist nur ein Teil des Romans von Abbas Khider, der in Bagdad aufgewachsen ist. Eine Rahmenhandlung stellt Shams Zeit im Gefängnis in den Mittelpunkt bis am Ende die beiden Erzählstränge zueinander führen und den Leser mit einem diffusen Kribbeln im Nacken zurück lässt.


„Alle haben Angst in diesem Land der unterirdischen Kerker.“ Dieser Satz hat sich sofort in mein Gedächtnis eingegraben!
In den Slums von Bagdad in den Jahren des Irak-Iran-Krieges (1980 – 1988) und nicht nur dort beherrscht Angst das Leben vieler Menschen, die täglich ums Überleben kämpfen. Abbas Khider erzählt die Geschichte von Shams Hussein mit einer solchen Sprachgewalt, dass er mich von Anfang an fest im Griff hatte. Und das im besten Sinne! Die Dörfer „Herzliche Hölle“ und das „Inder-Dorf“ entbehren nicht einer gewissen Komik, aber aufgrund der Verhältnisse im Land bleibt einem hier das Lachen schon mal im Halse stecken. Abbas Khider beschönigt nichts in seinem Roman und es liegt keinerlei Pathos über Shams Leben.
Eindrücklich und mit einem klaren Blick auf sein Heimatland beschreibt er eine einfache Dorfgemeinschaft, die nicht viel Abwechslung in ihrem Zusammenleben hat, so dass sie sich gerne bei Fackeln und Kerzenschein mit alten, historischen Geschichten die Zeit vertreiben. Besonders bedrückend empfinde ich die Beschreibungen zur „Regierung“ von Saddam und wie hier auch die Kinder sofort mit einbezogen wurden und der Dienst an der Waffe nicht nur ein großartiges Abenteuer für die Jungs, sondern auch eine Pflicht für den Führer und sein Land war. »Wir sind Pioniere. Gott, Heimat und Führer. Wir sind Pioniere. Mit ganzer Seele und unserem Blut opfern wir uns für dich, oh Saddam. Wir sind Pioniere.« Das Blechviertel und der „Palast der Miserablen“ könnten nicht unterschiedlicher sein und Shams bewegt sich zwischen beiden „Orten“ hin und her, wobei stets eine dunkle Wolke über ihm zu schweben scheint. Unwillkürlich fragte ich mich, wie lange das noch gut gehen kann. Diese Frage blieb nicht unbeantwortet und doch traf mich das Ende mit einer Wucht, die ich nicht erwartet habe.
Man mag Shams für naiv und wirklichkeitsfremd halten, wie er sich über ein selbstgebautes „Haus“ im Blechviertel und einen Fernseher im „Café“ freut. Doch wie würde es den Lesern und Leserinnen wohl ergehen, wenn sie unter solch einfachen, eingeschränkten und gefährlichen Umständen aufgewachsen wären!? Bei mir wirkt Shams Geschichte noch lange nach und ich habe ihn lieb gewonnen - auch wenn er letztlich seiner Naivität erlegen ist, hat er doch alles für ihn Mögliche getan, um ein besseres Leben zu führen.

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Veröffentlicht am 14.04.2020

Schweden und Chile – zwei völlig unterschiedliche Länder und eine neue Ermittlerin

Feuerland
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Nachdem mich der Thriller „Der Patriot“ bereits sehr beeindruckt hat, war ich nun gespannt auf das neue Buch des schwedischen Autors Pascal Engman. Mit „Feuerland“ betritt mit Vanessa Frank eine unkonventionelle ...

Nachdem mich der Thriller „Der Patriot“ bereits sehr beeindruckt hat, war ich nun gespannt auf das neue Buch des schwedischen Autors Pascal Engman. Mit „Feuerland“ betritt mit Vanessa Frank eine unkonventionelle Ermittlerin die Thriller-Bühne und startet damit in eine neue Thriller-Reihe des Autors.
Der Thriller umspannt zwei sehr unterschiedliche Länder – Schweden und Chile, in denen die Handlung spielt. Zudem wird der Thriller aus der Perspektive der Ermittlerin Vanessa Frank, des skrupel- und gnadenlosen Chef der Colonia Rhein in Chile, des Ex-Elitesoldaten Nicolas Paredes, des Kleinkriminellen Ivan Tomic und Matilda, Verkäuferin in einem noblen Stockholmer Uhrengeschäft, erzählt.

Das Vorwort ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Als wären nicht schon genug Grausamkeiten während des Naziregimes verübt worden, setzen geflohene SS-Leute und ehemalige den Nazis ihre grauenhaften Taten fort. Statt in Deutschland – eben in Chile bzw. Feuerland. Das Erscheinen eines seltsamen Postboten in Verbindung mit dem Anruf eines vermeintlichen Kunden in einem noblen Stockholmer Uhrengeschäft ist genauso spannend wie auch geheimnisvoll. Was wollte der Fremde von Laura, der Leiterin des Uhrengeschäfts?
Kurz darauf werden zwei millionenschwere Geschäftsmänner entführt und gegen Zahlung eines verhältnismäßig geringen Lösegeldes wieder freigelassen. Gibt es zwischen diesen Taten eine Verbindung oder beruht alles auf einem Zufall? Trotz ihrer Suspendierung lässt es sich Vanessa Frank nicht nehmen, heimlich zu ermitteln und nach Gemeinsamkeiten bei den beiden Entführungsopfern zu suchen.

Pascal Engman schwenkt während der Ermittlungen immer wieder zu Nicolas Paredes, dem Ex-Elitesoldaten und dem skrupellosen, eiskalten Carlos Schillinger, der in der Colonia Rhein für die Clinica Bavaria Straßenkinder zur Organentnahme beschaffen lässt.

Was haben die Colonia Rhein in Chile, der Überfall auf ein teures Uhrengeschäft in Stockholm und die Entführung zweier schwedischer Millionäre gemeinsam? Zuerst scheint hier keine Verbindung zu bestehen.

Vanessa Frank, die Ermittlerin der Sonderkommission Nova in Stockholm ist eine nüchterne und derbe Frau, die lieber Snus kaut, über ein loses Mundwerk verfügt, praktisch kein Privatleben hat und ihr nobles Elternhaus gerne hinter sich lassen möchte. Nach der Trennung von ihrem Mann Svante ist sie unter Alkoholeinfluss Auto gefahren, wurde erwischt und ist derzeit vom Dienst suspendiert. Ihr wurde der Besuch bei einer Psychotherapeutin aufgebrummt, zu der sie nur widerwillig hingeht. Bei ihrer ersten Sitzung führt sie die Therapeutin mit Kurzhaarfrisur, Tunika, Hornbrille und Plastikblume richtig vor. An dieser Stelle musste ich herzhaft lachen, denn ich hatte Vanessa wahrhaft vor Augen. Ihr einziger Freund ist ihr sympathischer Kollege Jonas Jensen.

Nicolas Paredes, ehemalige Elitesoldat, führt ein zurückgezogenes, einfaches Leben als Spüler in einem Stockholmer Restaurant. Einzig seine autistische Schwester liegt ihm am Herzen und er versucht, sie stets zu beschützen. Im Laufe der Handlung kommt es nicht nur zu einer Begegnung zwischen Vanessa und Nicolas, sie beginnen zusammen zu arbeiten.

Pascal Engman versteht es erneut meisterhaft, verschiedene Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen und den Leser lange Zeit über die Zusammenhänge im Dunkeln zu lassen. Die Spannung baut sich zwar langsam, dafür stetig auf und wird zum Ende hin unerträglich. Für so manchen Leser/ manche Leserin mögen die Längen im Buch etwas die Spannung genommen haben, aber mich haben sie nicht gestört. Im Gegenteil … der Autor versteht es die fiktiven Charaktere des Thrillers in einen Zusammenhang mit realen Gegebenheiten zu bringen und in seine Geschichte schlüssig einzubetten. Wie bereits in „Der Patriot“ greift der Autor ganz unterschiedliche Themen auf, wie z.B. Bandenkriminalität, illegaler Organhandel, Verschleppung von Jugendlichen bzw. jungen Flüchtlingen und die Ausgrenzung einer Autistin. Er verbindet alles mit zwei starken Charakteren wie Vanessa und Nicolas, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und entwirft daraus einen starken, hoch spannenden Plot.

Ich bin schon jetzt gespannt auf die Fortsetzung der Serie und das Wiedersehen mit Vanessa Frank. Vielleicht ist dann der sympathische, aber auch knallharte Ex-Elitesoldat Nicolas Paredes wieder mit von der Partie. Das würde mich sehr freuen. Für diesen Thriller fällt mir die Sternevergabe erneut leicht.

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Veröffentlicht am 30.03.2020

Ein Mann auf der Flucht ... vor sich selbst?

Der Empfänger
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Bevor Ulla Lenze mit ihrem Roman beginnt, stellt sie klar, dass sie zum Teil die Lebensgeschichte ihre Großonkels Josef Klein erzählt. Für mich ist es immer interessant keine rein fiktiven, historischen ...

Bevor Ulla Lenze mit ihrem Roman beginnt, stellt sie klar, dass sie zum Teil die Lebensgeschichte ihre Großonkels Josef Klein erzählt. Für mich ist es immer interessant keine rein fiktiven, historischen Romane zu lesen, weshalb ich mich gerne mit Josef Klein in die USA zu Zeiten des 2. Weltkriege entführen ließ. Der Roman erstreckt sich auf die Zeit zwischen Februar 1939 bis Juni 1953. Um die Geschichte zeitlich und geografisch richtig erfassen zu können, hat die Autorin diese Informationen in ihre Kapitelüberschriften gepackt. Trotzdem waren die Zeitsprünge eine kleine Herausforderung beim Lesen und Erfassen der Geschichte.

Noch ehe der 2. Weltkrieg ausbricht und die ganze Welt mit Gewalt überzieht, wandert der aus dem Rheinland stammende Hobbyfunker Josef Klein im Jahre 1925 nach New York aus. Hier schlägt sich der introvertierte und etwas naive Mann mit einem Job in einer Druckerei durch und lebt in einfachen Verhältnissen, doch recht zufrieden mitten in Harlem. Hier geht er auch seiner Leidenschaft der Amateurfunkerei nach und lernt dabei die junge Lauren kennen.

Die Arbeit in der Druckerei bringt ihn des Öfteren mit politisch engagierten Gruppen, wie „America for white people“ in Berührung und er versucht, die Parolen der Flugblätter zu übersehen. Er interessiert sich nur wenig für Politik und übersieht wissentlich die Sympathien diverser deutscher Auswanderer für Adolf Hitler und seine Propaganda.

Eines Tages suchen ihn zwei Unbekannte auf und bieten ihm eine Tätigkeit als Funker an. Er soll verschlüsselte Daten an Geschäftsleute in Deutschland übermitteln. Ganz leise schleicht sich bei ihm Unbehagen ein, als er sich bewusst wird, dass er benutzt wird und in Gefahr gerät. Doch er findet keinen Weg aus seiner Misere. Sogar als Lauren ihn darauf anspricht, versucht er, den Kopf in den Sand zu stecken und wartet ab.

Josefs Geschichte umspannt auch seine Zeit in Deutschland, als er im Jahre 1949 zu seinem Bruder Carl und dessen Familie nach Neuss zurückkehrt. Leider sind sich die beiden Brüder sehr fremd geworden und Josef fühlt sich in seiner alten Heimat nicht mehr wohl. Carl treibt die Frage um, was sein Bruder in Amerika getrieben hat, um dort in einem Gefängnis zu landen. Schließlich schafft es Josef, sich aus seinem alten Leben zu verabschieden und letztlich in Costa Rica ein neues Leben zu beginnen.

Die starke Aussagekraft des Covers wurde mir sehr schnell bewusst. Das Schwarz-Weiß-Foto eines Mannes in Anzug mit Hut verschwindet hinter Dreck und lässt nur einen ganz kleinen Ausschnitt seines Gesichtes erkennen. „Der Empfänger“, also Josef Klein, blieb lange Zeit im Verborgenen und war nur ein kleines Rädchen in den Machenschaften der Nazis, deren Arm bis in die USA reichte und dort willfährige Unterstützer fand. Seine Geschichte war nicht nur spannend, sondern auch sehr interessant zu lesen.
Nachdem ich mit den zeitlichen Sprüngen klar kam, hat sich ein gut recherchierter Blick auf die „deutsche Gesellschaft“ und Unterstützung des Naziregimes von den USA aus ergeben. Mir war nicht bekannt, dass eine beachtliche Gruppe an Unterstützern von Amerika aus verschlüsselte Botschaften an Nazi-Deutschland gefunkt haben. Es ist schon erschreckend zu lesen, wie schnell ein einfacher und unbescholtener Mann wie Josef in eine Geheimdiensttätigkeit hineingezogen wurde.
Josef kam mir naiv und hilflos vor, so allein in NY. Die Sprünge in Josefs Vergangenheit lasen sich wie die Niederschrift eines Ich-Erzähler - als würde Josef sich in bestimmten Situationen an die Vergangenheit erinnern, sich in die Vergangenheit zurückversetzt fühlen. Das hat seine Lebensgeschichte sehr lebendig gemacht und auch persönlich. Der meist nüchterne Schreibstil war leicht zu lesen und hat den historischen Hintergründen genug Raum gegeben, ohne dabei zu sehr darauf fokussiert zu sein. Zwischendurch hatte ich das Gefühl, Josef ganz nah zu sein, doch dann entzog er sich wieder. Diese Zerrissenheit in seinem Charakter und auch seinen Handlungen, die sich stets an die momentane Situation angepasst haben, kommen sehr klar zur Geltung. Wie Josef sich zum Aufpolieren seines Egos plötzlich als Funker für die Deutschen mitten in New York wiederfindet, ist sehr eindringlich und realistisch beschrieben. Die Rückblenden in Joe/Josefs Leben sind schon emotionaler, dennoch so knapp und kurz gehalten, wie es zu seinem Wesen passt. Lauren blieb in der Geschichte sehr geheimnisvoll und zeitweise hatte ich den Verdacht, dass sie auf Josef angesetzt wurde. Was Josefs Bruder Carl und dessen Frau betrifft: die beiden sind sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Edith wirkt blass, verletzlich und devot. Doch es gibt Momente, da blitzt ihre Kraft durch. Carl ist ein strenger, etwas weltfremder Mann, der mir nicht sympathisch, aber auch nicht wirklich unsympathisch ist. Ihn wusste ich nicht so recht einzuordnen. Einerseits denkt er bei Josefs Rückkehr nach Deutschland an seine Pflicht als Bruder, andererseits geht er davon aus, dass Josef mit den Taschen voller Geld zurückkehrt und ihm unter die Arme greift. Dies wiederum zeigt, wie sehr sich die Vorstellung von den deutschen Auswanderern in New York zur Wirklichkeit unterscheidet. So wie Carl dachten wohl viele Deutsche, die in ihrem Land blieben und den Krieg mit all seinen Schrecken und Gräueln überlebt haben: wer in die Vereinigten Staaten gegangen war, hatte sein Glück gemacht. Leider entsprach das ganz und gar nicht der Realität. Ulla Lenze hat diese Diskrepanz ganz hervorragend ausgearbeitet, wie auch die Beziehung der beiden Brüder.

Die „Lebensbeichte“ eines Mannes, der aus Naivität und Hilflosigkeit in eine gefährliche Geheimdiensttätigkeit der Deutschen in den Vereinigten Staaten rutscht, hat mir sehr gut gefallen und meinen Horizont erweitert. Ich bekam Einblicke in die Spionagetätigkeit und den Glauben der emigrierten Deutschen an die Richtigkeit des deutschen Vorgehens in Europa. Auch die Ausgrenzung Deutscher in den USA taucht als Thema in diesem Roman auf und zeigt, dass sie es nicht leicht hatten. Ich bin von der Geschichte beeindruckt und die seltsame Stimmung, die über dem Erzählten liegt.

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