Offenlegung der Unmenschlichkeit
BerchtesgadenBerchtesgaden, 1945. Deutschland hat kapituliert und die Alliierten übernehmen die Regierung. Der bayerische Alpenort Berchtesgaden ist für sie schon allein deswegen interessant, weil sich hier der Führer ...
Berchtesgaden, 1945. Deutschland hat kapituliert und die Alliierten übernehmen die Regierung. Der bayerische Alpenort Berchtesgaden ist für sie schon allein deswegen interessant, weil sich hier der Führer am liebsten aufhielt. Viele Nazigrößen hatten hier ihre prachtvollen Villen mit dementsprechend vielen Kunstgegenständen. Diese ziehen nun Plünderer an. Die US-amerikanischen Truppen haben Mühe, sich durchzusetzen. Sie konfiszieren das Haus, in dem Sophie mit ihrer Familie lebt. Die Eltern mit den beiden Töchtern ziehen ins Gartenhäuschen. Ihr Bruder, ein ehemaliger Offizier, versteckt sich vor den Soldaten in einer Hütte. Sophie erkennt, dass sich die Zeiten geändert haben, und entscheidet sich für das Richtige: Sie lernt Englisch und bewirbt sich beim Military Government. Die Einblicke, die sie nun in die Akten bekommt, verändert ihren Blick auf die Menschen.
Carolin Otto hat sich für ihr Romandebüt einen interessanten Blickwinkel auf die Ereignisse der Nachkriegszeit gewählt. Sie lenkt den Fokus auf die Zivilbevölkerung, die sich nach Kriegsende der Prüfung durch die alliierten Truppen stellen muss. Sie waren nicht an der Front und haben auf andere Menschen geschossen, aber sie haben zu Hause auch nichts dagegen getan. Den Standpunkt der Amerikaner kann ebenso nachvollziehen, wie den der Dorfbewohner. Diese lernen wir kennen, wie sie aus einer Villa Wertgegenstände stehlen. Die Zeiten waren hart und man musst irgendetwas haben, um Lebensmittel einzutauschen. Es wurde kein Gedanke daran verschwendet, dass die Sachen vorher jüdischen Familien weggenommen wurden. Der Roman lässt diesen bitteren Gedanken auch erst im Nachhall zu. Das ist eine große Stärke in der Erzählweise, dass die grauenvollen Befehle und ihre Auswirkungen durch Sophies Perspektive nie wie ein Fingerzeig erscheinen. Vielmehr folgt man ihren Gedanken und erfasst die Geschehnisse portionsweise. Am 8. Mai feiern wir 80 Jahre Kriegsende. In acht Jahrzehnten und vier Generationen weiter sollte das braune Gedankengut aus den Köpfen der Menschen verbannt sein. Dass das aber nicht so ist, zeigt die aktuelle politische Lage. Von daher lege ich jedem schon aus Gründen der Zeitgeschichte dieses wichtige Buch ans Herz.
Unwissenheit, Schuld und Hoffnung
Die Figuren sind für die Handlung gut gewählt. Sophie und ihre Freundin Magda sind junge Frauen, die seit Kindertagen unter dem Nazi-Regime gelebt haben. Sie hatten damals noch keine eigene Meinung und haben am Fuße des Obersalzberges die mächtigen Männer aus der Nähe gesehen. Von Kindern kann man sicher nicht erwarten, dass sie diese Männer mit der Ermordung von sechs Millionen Juden in Verbindung bringen. Anders denkt hingegen der GI Frank Rosenzweig, der nur überlebte, weil seine Familie frühzeitig aus der Heimat ausreiste. Er nutzt seinen Aufenthalt in Deutschland, um überlebende Verwandte zu finden. Gar nicht zufrieden ist Sophies Bruder Max mit der Situation. Wenn er könnte, wie er wollte, würde er weiter für den Endsieg kämpfen. Außerdem bekommt der GI Sam eine Stimme. Er ist durch seine Hautfarbe in den USA benachteiligt. Als GI in Deutschland ist er allerdings willkommen, weil er Aufträge ausführt, die seine weißen Vorgesetzten nicht machen wollen.
Sophie bekommt durch das Protokollieren der Befragungen einen ungeschönten Einblick, der ihr die Kriegszeit plötzlich ganz anders erscheinen lässt. Sollte wirklich niemand etwas von den Vernichtungslagern gewusst haben? Ganz sicher hat sich niemand mehr Gedanken um das Verschwinden der jüdischen Nachbarn und politischer Gegner der NSDAP gemacht. Sie hat durchaus ein Rechtsbewusstsein, möchte aber auch ihren Bruder schützen, der als Angehöriger der Waffen-SS eine Strafe zu erwarten hätte. Ihre Zerrissenheit ist spürbar und hebt den Spannungsbogen sogar noch an. Otto lässt durch die wenigen Charaktere einen größtmöglichen Rundumblick durch die Vielschichtigkeit der Gesellschaft zu. Sie zeigt die einzelnen Parteien und lässt auch dem Leser Raum. Der Roman liest sich wunderbar und lässt die Drehbucherfahrung der Autorin erkennen. Die große Herausforderung der Zeit wird deutlich, eine Verwaltung neu zu besetzen, die frei vom nationalsozialistischen Gedanken ist.
Carolin Otto wirft in Berchtesgaden einen eindrucksvollen Blick auf das Ende des Zweiten Weltkriegs – nicht aus Sicht der Mächtigen, sondern durch die Augen der Zivilbevölkerung, die sich plötzlich vor einer neuen Ordnung rechtfertigen muss. Mit ihrer Protagonistin Sophie gelingt der Autorin ein authentischer Zugang zu moralischen Grauzonen und der inneren Zerrissenheit einer jungen Frau zwischen Loyalität und Gewissen. Der Roman erzählt nicht nur von Aufarbeitung und Neubeginn, sondern hält uns auch heute den Spiegel vor. Gerade zum 80. Jahrestag des Kriegsendes ist dieses Buch ein literarisch wertvoller und emotionaler Beitrag zur Erinnerungskultur.